NATALIE BÖHLER

RYNA (RUXANDRA ZENIDE)

SELECTION CINEMA

Im Abendlicht streift der Wind durchs Schilf. Grosse Schiffe tuten und ziehen vorbei. Wohin bloss? Die winkenden Passagiere darauf wirken wie aus einer fremden Welt.

In der einsamen Weite des Donaudeltas scheint die Vorstellung, dass es irgendwo Städte mit vielen Menschen gibt, absurd. Betriebsamkeit und Veränderungen sind fern; in dieser Landschaft im Nordosten Rumäniens, wo die Donau ins Schwarze Meer mündet, nimmt das Leben einen gleichförmigen Lauf. Selbst die Farben sind monochrom. Alles erscheint in Braun-, Grau- und Ockertönen. Dieses verwilderte Niemandsland, das Grenzgebiet nahe der Ukraine und Moldawien, ist eine eigene Welt, die sich abhebt vom übrigen Rumänien wie eine Insel. Je nach Perspektive bedeutet ein Leben hier beschauliche Ruhe oder auch Öde. Wenige Menschen wohnen hier, alle kennen sich, selten geschieht Neues. Die Männer finden ihr bisschen Lebensausdruck abends beim besoffenen Musikmachen. Die Weite wird zur Enge.

Ryna ist sechzehn und arbeitet bei ihrem Vater in der Garage. Er erzieht sie streng und behandelt sie wie den Sohn, den er nie hatte. So schert er ihr regelmässig das Haar raspelkurz und erlaubt ihr nicht, ein Kleid zu tragen; stets läuft Ryna im ölverschmierten, ausgebeulten Overall herum. Manchmal versteckt sie sich in der Schilflandschaft und fotografiert. Diese Leidenschaft behält sie jedoch für sich. Ausser Ryna und ihrem Vater leben in dem ärmlichen Häuschen neben der Garage die Mutter und der Grossvater. Die raue Landschaft und die Monotonie des Daseins hat die Menschen wortkarg und schicksalsergeben gemacht: Die Familie erträgt die Despotie ihres Vaters, ohne zu klagen. Ryna wirkt älter als sechzehn, sie hat, so merken wir schon früh, ihren Willen und ihre Lebenslust nach innen gekehrt und bewahrt sie vorerst im Schweigen. Unter dem Gesetz des Vaters zu leben, bedeutet nicht nur strenge Regeln, sondern auch Schutz und eine Art Geborgenheit in der Familie.

Immer mehr aber beginnen sich Männer für Ryna zu interessieren. Der junge Briefträger ist in sie verliebt, der Bürgermeister stellt ihr nach. Auch die burschikose Kluft täuscht eines Tages nicht mehr über Rynas Frausein hinweg, und das Mädchen rebelliert, kleidet sich in einen Rock und geht ins Dorf an den Jahrmarkt. Dort tanzt Ryna mit einem jungen Franzosen. Eine kurze Zeitlang scheint sich ihr die grosse weite Welt wie im Märchen zu öffnen, bis die Realität sie wieder einholt.

Ryna ist das Porträt eines Mädchens, das erwacht und durch schmerzliche Erfahrungen zu einer grossen Entscheidung findet. Darüber hinaus ist der Film die atmosphärische Studie einer Gegend; er geht der Frage nach, wie der Geist eines Lebensumfelds und das Schicksal seiner Bewohner miteinander verwoben sind. Berührend wird der Film durch die sensible Inszenierung und die hervorragende Hauptdarstellerin.

Bei aller Bewunderung für Ryna ist einem immer auch etwas bang um sie. Ein Glück, dass am Schluss Hoffnung durchschimmert.

Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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