HENRY TAYLOR

DAS GOLDENE ZEITALTER DER PARANOIA — BEDROHUNGSSZENARIEN IM VERSCHWÖRUNGSTHRILLER DER SIEBZIGERJAHRE

ESSAY

I. Mikrophysik der Angst

Wer wissen will, wie ein Film die Paranoia einer Figur nicht nur abbildet, sondern durch die Erzählperspektive auch beim Zuschauer evoziert, könnte sich beispielsweise den Anfang von Sydney Pollacks CIA-Spionagethriller Three Days of the Condor (USA 1975) anschauen.

Der im Panavision-Breitformat in matten, zunächst vorwiegend bräunlich-grauen Farbtönen gedrehte Film führt Doppelkodierungen ein, die hinter der sichtbaren Wirklichkeit eine verborgene offenbaren. Die Vorspannsequenz beginnt mit einer Detailaufnahme eines Nadel-Printers, der einen Text ausdruckt; darüber legt sich in Computerschrift die Titelei. Wir befinden uns in einem von Bücherregalen gesäumten Büro, in dem Drucker, Textscanner und ein Grossrechner stehen, en passant kontrolliert von einer jüngeren Frau: Als genüge sie sich selbst, scheint die Technologie Menschen in die Rolle von Beobachtern zu versetzen. Über die Maschinengeräusche ist Dave Grusins metallener Fusion-Jazz gelegt, dessen flotter Rhythmus die entspannte Arbeitsatmosphäre unterstreicht. Im Nebenraum erörtern zwei Bürolisten ein kriminalistisches Rätsel, während sich ein älterer Vorgesetzter, im braunen Dreiteiler mit Fliege an einen biederen Schulrektor erinnernd, nach dem Verbleib des wieder einmal verspäteten, noch nicht eingeführten Joe Turner erkundigt. Eine gewundene Treppe führt ins Erdgeschoss, das, begrünt und ausgestattet mit teurem Holz, edlen Teppichen und Art déco, wie der Empfangsraum einer Privatbibliothek anmutet. Derweil befindet sich an diesem trüben, graunassen Herbstmorgen Turner (Robert Redford) auf dem Weg zur Arbeit, auf einem läppischen Solex zwischen wuchtigen Strassenkreuzern. Er erreicht ein nobles Town House in Manhattan, die American Literary Historical Society, über deren Eingangstür eine Überwachungskamera montiert ist. Eine Fahrt zurück deckt im rechten Bildvordergrund einen Mann in einer Limousine auf, der Turner beobachtet und ihn auf einer Mitarbeiterliste dieser diskreten CIA-Arbeitsstelle streicht; später telefoniert derselbe Mann in einer öffentlichen Kabine, ohne dass wir hören, was er sagt.

In seinem Büro löst Turner mühelos das knifflige Rätsel seiner Kollegen. Sein Job, wie wir später erfahren werden, besteht darin, Literatur, insbesondere Krimis, auszuwerten und sie mit real existierenden CIA-Operationen im Hinblick auf Informationslecks zu vergleichen. Er scheint über etwas gestolpert zu sein, doch hat niemand im Hauptquartier seine (uns noch unbekannte) Theorie bestätigt. Draussen regnet es. Auf der Strassenseite diagonal gegenüber erscheint neben dem blauen Wagen ein distinguierter Herr (Max von Sydow), deponiert seinen Schirm in einem Abfalleimer und bleibt mit konzentriertem Blick auf den Hauseingang der Historical Society unter einem Vordach stehen. Es ist Mittagszeit. Wegen des Regens benutzt Turner, unkonform und zum Missfallen des Portiers, einen inoffiziellen Hinterausgang, um für sich und seine Kollegen Essen von einem nahen Take-away zu holen. Der gepflegte Herr registriert die Ankunft eines Briefträgers von rechts und eines Mannes mit Regenschutz von links her kommend. Als das blaue Auto wegfährt, gehen er und die beiden auf den Hauseingang zu, der Postbeamte klingelt. Die ältere Dame im Empfang sieht ihn auf dem Monitor und öffnet die Eingangstür per Knopfdruck. Kaum haben die zwei Männer das Haus betreten, eröffnen sie mit schallgedämpften Maschinenpistolen das Feuer. Das anwesende Personal wird schnell und in Serie liquidiert. Als der kultivierte Herr und seine Killer im Computerraum die junge Frau stellen, bittet er sie höflich, vom Fenster wegzutreten. Sie erblickt die auf sie gerichtete Waffe und sagt: «I won’t scream.» Sanft erwidert er: «I know.» Er sieht weg. Es folgt die tödliche Salve.

Als Turner zurückkehrt, staunt er über die unverschlossene Eingangstür und wundert sich über den am Boden liegenden Portier; erst dann sieht er dessen Schusswunden. Er findet die Leichen seiner sechs Kollegen, unter ihnen auch seine Freundin. Umgeben von Toten läuft die Computermaschinerie geräuschvoll weiter. Erfolglos probiert Turner das Telefon am Empfang. Bevor er in Panik das Haus verlässt, nimmt er die in der Schreibtischschublade versteckte Pistole der Sekretärin an sich; auf ihrem Pulli brennt noch immer ihre Zigarette. Vorsichtig nach draussen lugend, öffnet er die Haustür. Kommt derjenige, der, weshalb auch immer, die Morde begangen hat, noch einmal zurück, wartet auf ihn, um auch ihn zu eliminieren? Jäh, unerklärlich ist Turner aus seinem Milieu herausgerissen worden, durch den Einbruch des Aussergewöhnlichen, des Fantastischen. Eine normale Welt ist schlagartig in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die gesichtslose Gefahr kann überall lauern, draussen, in der auf einmal nicht nur jahreszeitlich, sondern auch existenziell kalten Welt, in die Turner sich gestossen sieht. Er ist allein. Vorsichtig tritt er auf den Gehsteig heraus. Nach links ins Off blickend, hält er plötzlich inne. Sein Point of View, der, in einer langen Brennweite gefilmt, die Raumebenen zusammenzieht und entfernte Objekte trügerisch nah erscheinen lässt, erfasst eine in seine Richtung blickende Frau. Sie schiebt einen Kinderwagen vor sich her und auf ihn zu. Sie bleibt stehen. Turners Blick ist fixiert. Die Frau trägt einen langen Mantel und eine dunkle Sonnenbrille, sie wirkt merkwürdig androgyn für eine junge Mutter. Sie langt nach vorne in den Kinderwagen, doch ob dort ein Kleinkind liegt oder eine Waffe, wird durch die Haube verdeckt. Ab dem zweiten Mal nah kadriert, erscheint die Frau in drei Einstellungen. Durch seinen Point of View in Teleaufnahme können wir als Zuschauer nicht nur Turners Angst nachvollziehen, sondern auch seinen plötzlichen Beziehungswahn, durch den er scheinbar Gewöhnliches in seiner Umwelt nun als potenzielle Bedrohung auf sich bezieht. Über den Anblick der Frau verstört, überquert Turner hastig die Strasse und rennt um einen Häuserblock, auf der frenetischen Suche nach einer öffentlichen Telefonkabine. Noch ohne es zu ahnen, hat er mit seiner Theorie eine Verschwörung innerhalb der CIA aufgedeckt und damit unversehens einen geradezu kafkaesken bürokratischen Mechanismus in Gang gesetzt, bei der die rechte Hand nicht weiss, was die linke tut. Das geheime Szenario der «CIA innerhalb der CIA» – wie Turner später mutmasst – wirkt aus heutiger Sicht erstaunlich aktuell: die militärische Invasion des Mittleren Ostens zwecks Kontrolle des Öls.

II. Alarmierende Szenarien

In der Wüste von Arizona ist durch einen Satellitenabsturz ein tödliches extraterrestrisches Virus auf die Erde gelangt, das sich unaufhaltsam auszubreiten droht ...

Enrico Mattei, der nach 1945 eine vom internationalen Energie-Oligopol unabhängige italienische Gas- und Ölindustrie aufbaute, kommt 1962 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Doch sein Tod scheint kein Unfall gewesen zu sein, spätere Ermittlungen führen zu ausländischen Geheimdiensten und der Mafia ...

Nach dem Attentat auf einen aussichtsreichen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten sterben die Augenzeugen des Mordes nacheinander unter merkwürdigen Umständen. Ein Lokalreporter stösst bei seinen Recherchen auf eine mysteriöse Firma, die anscheinend systematisch Attentäter rekrutiert ...

In einem idyllischen New Yorker Vorort scheint die Emanzipation rückgängig gemacht worden zu sein. Die Frauen bleiben daheim am Herd und sind ihren Gatten völlig untertan. Doch was hat es mit diesen «perfekten» Hausfrauen wirklich auf sich, und welche Rolle spielt dabei die lokale Männervereinigung?

Diese vier (lustvoll) beängstigenden Story-Prämissen entstammen einer mehr oder weniger willkürlichen Auswahl verschiedener Thriller der Siebzigerjahre: dem Science-Fiction- und Katastrophenfilm The Andromeda Strain (Robert Wise, USA 1971); dem semidokumentarischen Politthriller Il caso Mattei (Francesco Rosi, I 1972); dem Attentats- und Politthriller The Parallax View (Alan J. Pakula, USA 1974) sowie dem satirischen Science-Fiction-Thriller The Stepford Wives (Bryan Forbes, USA/GB 1975) – ein paar wenige Beispiele aus einer regelrechten Flut von alarmistischen und konspirationistischen Werken, welche die Siebzigerjahre heute als das «Goldene Zeitalter der Paranoia» (Jonathan Romney) erscheinen lassen.1 Vor allem in den USA, aber auch in Europa florierte ein Subgenre des Thrillers, das im Englischen als «Paranoid Thriller», «Conspiracy Thriller» oder «Conspiracy Film» bekannt ist.2 Knapp definiert, dramatisiert der paranoide Thriller soziale und politische Krisen, Bedrohungsszenarien sowie Ohnmachtsgefühle des Individuums in der modernen Welt in Form umfassender Verschwörungen und manichäischer Gut- Böse-Konfrontationen.

Was den Verschwörungs- und Paranoiafilm der Siebzigerjahre von seinen cineastischen Vorläufern unterscheidet – etwa den allegorischen Meisterverbrecher-Thrillern Fritz Langs (Dr. Mabuse, der Spieler, D 1922; Das Testament des Dr. Mabuse, D 1933) oder dem klassischen Film noir, in dessen von Angst und Pessimismus bestimmter Welt Lug, Trug und Doppelspiele der Normalfall sind –, ist zweierlei: erstens die nun weitgehend unsichtbar gewordene, anonyme, systemische Verschwörung; und zweitens ein linkspopulistischer Fokus auf Gefahren und Bedrohungen, die von den eigenen Institutionen (Regierung, Big Business) ausgehen, auf eine Krise innerhalb des eigenen Systems also. Diese Aspekte markieren bezüglich paranoidem Fokus auch einen deutlichen Unterschied zu den Alien-Invasion-SF-Filmen der Fünfzigerjahre, in denen die Gefahr von aussen kommt, in Form von Ausserirdischen, die meist als Allegorie auf Kommunismus und den Kalten Krieg gelesen wurden.

III. Die strukturelle Verschwörung: der Medizinthriller Coma

Inspiriert vom berühmten Fall der schottischen Serienmörder William Burke und William Hare, die zwischen 1827 und 1828 die Leichen ihrer siebzehn Opfer ans Edinburgh Medical College zur Sezierung verkauften, behandelte Robert Louis Stevenson in seiner Horror-Kurzgeschichte The Body Snatcher (1884) das Rätsel der erstaunlich frischen Leichen im Anatomieunterricht. Seit diesem, jüngst in Stefan Ruzowitzkys Anatomie (D 2000) wieder aufgetauten Szenario zieht sich eine grundlegende paranoide Inversion durch das Subgenre des konspirativen Medizinthrillers: Der Arzt, der eigentlich Leben retten und heilen sollte, nimmt es stattdessen. Weiss ist in Wirklichkeit Schwarz. Die scheinbar Guten sind effektiv die Bösen. Derlei melodramatische Kippfiguren beziehen sich im paranoiden Thriller nicht nur auf Shapeshifter-Personal, das in seiner Wertigkeit plötzlich umschlägt, sondern auch, und im Zusammenhang hiermit, auf radikale Handlungsumschwünge (Peripetien) um hundertachtzig Grad, die immer verblüffen und meist an einen Moment des plötzlichen Erkennens (Anagnorisis) geknüpft sind. Hierfür ist Syd Fields Drehbuch-Terminus «Plot Point» ein viel zu schwacher Ausdruck.

Das Fantasma des bösen, tötenden Arztes, das eine gewisse Nähe zum Topos des Mad Scientist aufweist, ist auch in Michael Crichtons Medical Chiller Coma (USA 1978) operativ. Als typischer Verschwörungsfilm der Siebzigerjahre, der zu Unrecht meist nicht im engeren Kanon der paranoiden Thriller jener Dekade besprochen wird, vermittelt Coma das Systemische der Konspiration als strukturellen Exzess, der jegliche Personalisierung überschreitet. Adaptiert von Robin Cooks gleichnamigem Bestseller, sei die Handlung kurz zusammengefasst:

In einem Bostoner Spital ereignen sich zahlreiche unerklärte Koma-Fälle. Eine engagierte Ärztin, Susan Wheeler (Geneviève Bujold), beginnt auf eigene Faust zu recherchieren, gegen den Willen des Chefarztes, Dr. Harris (Richard Widmark), und der männlichen Kollegen, darunter auch ihr Freund Mark Bellows (Michael Douglas). Die Indizien verweisen auf den Chef der Anästhesie, Dr. George (Rip Torn). Susan erfährt, dass man durch Kohlenmonoxid-Zufuhr während der Operation Patienten absichtlich ins Koma versetzen kann. Im Krankenhausuntergeschoss entdeckt sie eine Kohlenmonoxid-Leitung, die zum Operationssaal OP 8 führt, wo alle Koma-Patienten vor ihrem Transfer ins Jefferson Institute ausserhalb Bostons operiert wurden. Im Spital von einem Killer verfolgt, gelingt es Susan zu entkommen und Mark alles zu berichten. Doch er scheint Teil des Komplotts zu sein, und sie flüchtet aus seiner Wohnung. Im Jefferson Institute beschafft sich Susan heimlich Zutritt zu einem Operationssaal und erfährt, dass mit den Organen der Koma-Patienten lukrativer Transplantationshandel betrieben wird. Zurück im Krankenhaus, schildert sie Harris die ganze Geschichte; er solle Dr. George verhaften lassen. Doch Harris selbst entpuppt sich als der Drahtzieher. Er hat Susan einen Drink gegeben, der Symptome einer Blinddarmentzündung hervorruft; kurz vor der anberaumten fatalen Operation kann Susan Mark warnen, der in letzter Sekunde die Kohlenmonoxid-Leitung entdeckt und zerstört. Susan überlebt den Eingriff, und Harris wird verhaftet.

Die Implikationen dieser sensationslüsternen Geschichte, welche seinerzeit virulente Themen wie weibliche Emanzipation, Transplantationsmedizin und Sterbehilfe bei langjährigen Koma-Fällen aufgriff, sind deutlich genug: Das – patriarchal dominierte – Gesundheitswesen ist ein gigantischer, der demokratischen Kontrolle entzogener, letztlich nur an Geld interessierter Wirtschaftszweig geworden. Unterfüttert wird diese Fantasie von der tief sitzenden Skepsis und dem Zynismus einer breiten Öffentlichkeit nicht nur gegenüber einem sozialen System, das der Definition nach genau das Gegenteil sein sollte, Menschen helfen und retten, kurz: Gutes tun sollte (so naiv das auch klingen mag), sondern gegenüber dem Big Business ganz grundsätzlich. So war denn auch in den Sechzigerund Siebzigerjahren in der amerikanischen Bevölkerung gegenüber der Wirtschaft ein deutlicher Vertrauensschwund zu verzeichnen.3

Deshalb ist hier von besonderem Interesse, wie in Coma die Verschwörung vermittelt wird. Dies geschieht unter anderem durch das, was man in Anlehnung an Anthony Vidler das «architektonische Unheimliche» nennen könnte.4 Verschiedene stilistische und formale Aspekte sind hier hervorzuheben, zunächst einmal die Farbdramaturgie. Auffällig ist vor allem das topische Spiel mit den Valeurs von Blut: Die Farbe Blau wird mit venösem (verbrauchtem) Blut assoziiert, die Farbe Rot dagegen mit arteriellem (frischem) Blut. In der ersten Sequenz im Operationssaal, in der Susans Freundin Nancy Greenly (Lois Chiles) der fatalen Operation unterzogen wird – einer Abtreibung, von der ihr Ehemann nichts erfahren soll –, ist Blau die beherrschende Farbe der ärztlichen Kittel und Ausstattung und assoziativ mit venösem Blut und Tod verknüpft; unterstrichen wird Letzteres durch die Erklärungen des Anästhesisten gegenüber zwei Auszubildenden, in denen er das Wort «Gas» betont, das der Patientin vor der Operation zugeführt werden soll: Unterschwellig damit assoziiert sind die Vergasungen in den Nazi-Konzentrationslagern. Und tatsächlich wird Nancy von den Ärzten nicht nur wie ein Objekt behandelt, es wird ihr dann auch, wie wir später erfahren, statt Sauerstoff Kohlenmonoxid zugeführt – in einer Art von Vergasung. Auf den Sexismus dieser Sequenz, in der gemäss der narrativen Logik Nancy von patriarchalen Standesvertretern für ihre aussereheliche Affäre mit dem Koma (Tod) bestraft wird, hat die Kritik mehrfach hingewiesen, unter anderem Elizabeth Cowie in ihrer Analyse des Films.5 – Die Farbe Rot wiederum taucht explizit zwei Szenen später auf, als Susan einem kleinen Jungen schonend beibringt, er benötige eine neue Niere, es könne jedoch einige Zeit dauern, bis eine verfügbar sei (ein Set-up des nachfolgenden Transplantations-Plots); zum Trost lässt sie den Knaben ein Bonbon auswählen, und er wählt ein «blutrotes». Die Farbe Rot wird später vor allem in der Jefferson-Institute-Sequenz eine wichtige Rolle spielen, ebenso Schwarz und Violett (siehe unten). Grün schliesslich ist die Farbe des Giftes, der Kohlenmonoxid-Flasche im Untergeschoss des Spitals, wo auch einige der Leitungen und Rohre grün gefärbt sind.

Allegorie der Verschwörung

Verschwörungen haben mit Verknüpfungen und Vernetzungen zu tun, die zunächst verborgen sind, weil sie ein Geheimnis, eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit betreffen. Welcher Mittel bedient sich Crichtons Film, um die legale (überirdische) Welt der Medizin mit der illegitimen (untergründigen) der Verschwörung zu verbinden und diesen Konnex sichtbar zu machen? Kurz nach dem Midpoint des Films, dem ersten Besuch im Jefferson Institute, erhält Susan in einer Arbeitspause einen diskreten Hinweis von einem älteren Techniker, Kelly, der ihre Verschwörungsthese im Pathologie-Labor überhört hat: Er sagt ihr, sie habe Recht, er wisse, wie «sie» «es» machten; sie solle ins Untergeschoss kommen, er werde es ihr zeigen. Doch bevor er dazu kommt, arrangiert der Killer, der Susan bereits nachsetzte, als Unfall kaschiert dessen Tod. Gerade hinzugekommen, wird die Protagonistin Zeugin von Kellys schrecklicher Elektrisierung. Hier überlappt der Thriller mit dem Horrorgenre. Nach der polizeilichen Einvernahme beginnt Susan, auf eigene Faust zu suchen. Sie entdeckt eine grüne Gasflasche und, von ihr ausgehend, eine dünne Leitung entlang der Wände und Rohre. Das Untergeschoss mit seinen grossen Leitungen und Stangen mutet an wie die Eingeweide, die dunkle Kehrseite des Spitalsystems. Susan verfolgt den Verlauf der Leitung. Er führt schliesslich in einen Schacht nach oben, den sie an Sprossen erklimmt. In einem horizontalen Seitenstollen findet Susan einen kleinen elektrischen Radiotransformer, der die Zufuhr regelt. Als sie eine Luke öffnet, befindet sie sich oberhalb des Eingangs zum OP 8. Die dünne Kohlenmonoxid-Leitung verkörpert also die Verbindung zwischen Unter- und Oberwelt, repräsentiert allegorisch das verbindende Element der Verschwörung. Es führt durch ein sowohl rational wie räumlich präsentes Labyrinth, in das die Hauptfigur hineingeraten ist und das sie durchqueren muss.

Ohnmacht des Individuums

Charakteristisch für den Verschwörungsthriller ist eine einsame Hauptfigur, die mit einer sich ausweitenden Konspiration konfrontiert wird und dabei niemandem trauen kann. Zugleich folgt die Narration dem klinischen paranoiden Verlauf, beginnend mit einer aus kognitiver Dissonanz folgenden Mystery- Struktur. Die psychische Gesundheit der die Verschwörungstheorie vertreten- den Figur wird zunächst in Frage gestellt, später wird ihre These bestätigt. Hier macht dann der Film selbst den Sprung von frühen neurotischen Formen der Entfremdung zur psychotischen «paranoiden Erleuchtung»: Auf Unsicherheit folgt Gewissheit. Nach ihrer Entdeckung der Kohlenmonoxid-Leitung weiss Susan, dass im (fiktiven) Boston Memorial Hospital Patienten absichtlich ins Koma versetzt werden; sie weiss jedoch noch nicht, warum. In der Nacht verschafft sie sich Zutritt zu einem Büro, in dem die Dossiers der ungeklärten Koma-Fälle aufbewahrt werden. Sie findet heraus, dass sie alle im OP 8 operiert und anschliessend ins Jefferson Institute transferiert wurden, einer experimentellen Regierungsinstitution für Langzeitpflege. Doch mit dem erneuten Auftauchen des Killers in den nun weitgehend menschenleeren Korridoren des Krankenhauses wird die anfängliche Detektiv-Struktur des Plots definitiv vom Thriller-Suspense überlagert. Der Genrelogik gehorchend, kommt es zu einer Verfolgungsjagd, bei der es für Susan um Leben und Tod geht. In der Anatomie gelingt es ihr schliesslich, den Mörder im Kühlraum unter einem Berg von wie Kleidungsstücke aufgehängten, in Plastik verhüllten Leichen zu begraben. Hier betritt der Film erneut das Genre des Horrors, genauer gesagt, des Zombiefilms. In Marks Wohnung angelangt und mit den Nerven am Ende, berichtet Susan ihrem Freund das Erlebte; später hört sie ihn in einem anderen Zimmer leise am Telefon über sie sprechen: Sie sei bei ihm, er könne «das» handhaben. Als Mark wieder nach ihr sieht, ist sie fort, die Wohnungstür steht offen. Am Morgen danach, in ihrer eigenen Wohnung, schnellt Susan aus einem Albtraum hoch. Nackt geht sie zum Fenster und blickt hinter dem Vorhang hinaus. Und nun folgt die Schlüsseleinstellung dieser Szene: Ein Kamerablick von aussen auf sie, mit anschliessendem Zoom zurück bis in die grosse Totale zeigt Susan allein in der Fensterfassade eines riesigen, unpersönlichen Wohnblocks. Signalisiert wird damit nicht nur ihre Schwäche, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Isolation, sondern schlechthin auch jene des Individuums in der modernen Welt. Wir haben es hier mit einem im Kino der Siebzigerjahre typischen Sinnbild zu tun, in dem zeitgenössische Anomie kongenial durch das architektonische Unheimliche zum Audruck gebracht wird. Die Unbehaustheit des modernen Menschen findet ihre Entsprechung im paranoiden Thriller, in dem die Welt für die Hauptfigur eine unwohnliche geworden ist.6

Die Klinik als vampirisches Monster

Die «Höhle des Löwen», den fantastischen Ort des Todes, repräsentiert in Coma das (fiktive) Jefferson Institute, wo die Koma-Patienten gelagert werden: ein kalter und einsamer, modernistischer Betonkomplex ausserhalb Bostons, an einer bewaldeten Ausfahrtstrasse gelegen, inmitten der Natur; und dieser Kontrast zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, von Menschen Geschaffenen trägt wesentlich zu seiner Aura bei.7 Susan besucht das Jefferson Institute zweimal: das erste Mal am Midpoint der Handlung, nach dem gemeinsam mit Mark am Meer verbrachten Wochenende, als die beiden auf der Heimfahrt einen Abstecher zur Klinik machen und weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Die unheimliche Wirkung des Baus ist vor allem durch die opaken, schwarzen Fenster bedingt, die wie tote Augen anmuten und das Böse und Monströse dieser Einrichtung signalisieren. Susan gelangt nicht weiter als bis ins Foyer, wo ihre Anwesenheit von einer Überwachungskamera erfasst wird; sogleich erscheint die ganz in Weiss gekleidete Verwaltungsbeamtin des Instituts, Mrs. Emerson (Elizabeth Ashley), die Verkörperung rationeller Effizienz. Dem Charakter der Architektur entspricht ihr starrer, toter Blick, mit dem sie Susan fixiert und mit dem Verweis auf eine in zwei Tagen stattfindende Führung durch die Klinik abweist. Bei dieser offiziellen Besichtigung, ihrem zweiten Besuch im Jefferson Institute nach ihrer Flucht aus Marks Wohnung, stösst Susan zu einer Gruppe von Vertretern und Vertreterinnen der Gesundheitsbranche. Ihre Vereinzelung bleibt auch da bestehen, hält sie sich doch bezeichnenderweise im Hintergrund, am Rand der Gruppe.

Die Lüftung des Geheimnisses, die Aufdeckung der Verschwörung geht oft mit dem Zugang zu einem geheimen Raum einher; und das aufzuklärende Rätsel hat, wie schon erwähnt, die räumliche Form des Labyrinths. Von besonderer Bedeutung sind hier fantastische Räume, als doppelte Wirklichkeiten und Verschachtelungen, die den geheimen Organisationen oder dem Staat im Staat physische Wirklichkeit verleihen. Beide Aspekte – fantastischer Raum und Labyrinth – finden sich auch hier. Vom Foyer, wo die Besuchergruppe empfangen wird, führt die Tour in einen Vorraum für Verwandte, in dem jeweils ein Patient aufgebahrt wird. Dies ist, in der Begrifflichkeit des Soziologen Erving Goffman, die Storefront, die mehr oder weniger öffentliche und akzeptable Fassade der Pflegeeinrichtung. Für Besucher normalerweise unzugänglich ist der erhaben-unheimliche und eigentliche Lagerraum der Koma-Patienten; Goffmans Backstage.8 Um ihn zu besichtigen, müssen die Gäste neben ihren weissen Kitteln auch eine dunkle Sonnenbrille tragen. Diese nach der Entdeckung der Kohlenmonoxid-Leitung zweite Inmost Cave hält das ikonische Schlüsselmotiv von Crichtons Film parat.9 In einem violett beleuchteten, grossen Raum hängen horizontal und auf zwei Ebenen Dutzende von nackten, komatösen Patienten, an Drähten aufgehängt und mit Schläuchen versehen, die ihre Atmung und ihr vegetatives Dasein regulieren. Es ist ein riesiger, atmender Saal der Untoten, eine Science-Fiction-Vision mit dem Horror einer auf die Spitze getriebenen kalten Rationalität. Erneut spielt die Farbgestaltung eine entscheidende Rolle: Violett vereint in sich die farblichen Polaritäten frischen und verbrauchten Blutes, Rot und Blau, Leben und Tod. Den Untoten, Zombies gewissermassen, entspricht das Violette perfekt. Nachdem die Besuchergruppe von Mrs. Emerson verabschiedet wird und Susan sich abgesondert hat, um durch ein Labyrinth von identisch aussehenden, klaustrophoben Gängen zu einem Treppenhaus zu gelangen, fällt die Farbe des Teppichbelags auf: blutrot. Als sei es ein eigener Organismus, zirkuliert im Jefferson Institute bildlich gesprochen das Blut der Patienten, die die Klinik im übertragenen Sinne zum Vampir machen. Die knallroten Spannteppiche im Innern des technizistischen Monsters zeugen vom abstrahierten Blut der in Untote verwandelten Patientenkörper. Als vergängliche Materie dient der Mensch also nur mehr als Treibstoff zur Perpetuierung sich verselbständigender Institutionen. An die Stelle des Monsters im Horrorfilm tritt daher hier das komplexe System, das individuelle Handlungsmächtigkeit radikal in Frage stellt.

Nicht zuletzt fällt unser Augenmerk auf den Schluss des Films und auf den Versuch der Erzählung, die Monstrosität des Systems dem Individuum zuzurechnen. Trotz der Personalisierung der Verschwörung in Gestalt des hauptsächlichen Bösewichts Dr. Harris bleibt über das Ende hinaus ein Exzess an Unheimlichkeit und Beunruhigung bestehen, der sich nicht bloss auf den Umstand zurückführen lässt, dass die Fäden des Komplotts an der Spitze des Systems zusammenlaufen, sondern wesentlich mit den formalen Aspekten von Coma zusammenhängt.

Crichtons Thriller muss im Kontext des Paranoia- und Verschwörungsfilms der Siebzigerjahre gesehen werden. Dessen Hintergrund bildeten, wiewohl fiktionalisiert, reale historische Erfahrungen. Traumatische, für eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung nie befriedigend aufgeklärte Attentate (die Kennedy-Morde von 1963 und 1968), eine Kaskade politischer Enthüllungen und Skandale im Gefolge von Vietnam und Watergate sowie die damit teilweise zusammenhängenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auf- und Umbrüche seit den Sechzigerjahren hatten eine nachhaltig verunsichernde Wirkung. Eine breite, von der Gegenkultur geprägte Öffentlichkeit neigte angesichts der Erosion der Konsensgesellschaft in einen neuen, antagonistischen Pluralismus zunehmend zur Skepsis und zum verschwörungstheoretischen Universalverdacht gegenüber den eigenen Institutionen, als Ausdruck sozialen und politischen Dissenses. Darüber hinaus und fundamentaler waren die Siebzigerjahre eine Zeit des Übergangs zur postindustriellen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft. Im neoliberalen Zeitalter, das angesichts auch ökologischer Selbstgefährdungen der sozialen Systeme bereits mit dem Ende der Bretton-Woods-Ära (1944–1971) einsetzte, das heisst mit der Aufgabe des Goldstandards und dem seither freien Flottieren der internationalen Währungen sowie mit der Abkehr vom keynesianisch-fordistischen Wohlfahrtsstaat hin zum neuen Primat der inflationsstabilisierenden Geld- vor der Fiskalpolitik (schrumpfende Ausgaben der öffentlichen Hand), veränderte sich nicht zuletzt auch bürgerliche Subjektivität: Statt der Über-Ich-beherrschten, protestantischen Ethik ist nunmehr Richard Sennetts «flexibler Mensch» gefordert.10 Das Paranoia-Kino der Siebzigerjahre beginnt spekulativ auszuloten, was heute allenthalben «Risikogesellschaft» oder das «Zeitalter der Angst» genannt wird.11 Es bezeugt letztlich nichts anderes als die Emergenz dieser neuen Ära der Unsicherheit – einer Unsicherheit, die sich nicht zuletzt durch das Grassieren konspirativer Fantasien auszeichnet.

Mit Dank an Alfred Messerli (Zürich) für die kritische Durchsicht.

Jonathan Romney, «The New Paranoia. Games Pixels Play», in: Film Comment 34/1998, S. 39–43, hier S. 39.

Vgl. Daniel Lopez, Films by Genre. 775 Categories, Styles, Trends and Movements Defined, with a Filmography for Each, Jefferson (North Carolina) etc. 1993, S. 63.

Vgl. Seymour Martin Lipset / William Schneider, The Confidence Gap. Business, Labor and Government in the Public Mind, New York 1983, S. 36 f.

Vgl. Anthony Vidler, The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely, 5. Nachdruck, Cambridge (Massachusetts) etc. 1999 (1992).

Elizabeth Cowie, «The Popular Film as Progressive Text – a Discussion of Coma», Teil 1, in: m/f 3/1979, S. 59–82; Teil 2 in: m/f 4/1980, S. 57–69.

Persönliche Mitteilung von Georg Janett, Zürich.

Effektiv handelt es sich beim Gebäude um die ehemalige Marketing-Zweigstelle von Xerox bei Lexington, Massachusetts, zehn Autominuten von Boston entfernt.

Vgl. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life. New York etc. 1959.

Zum Terminus «Inmost Cave» vgl. Christopher Vogler, The Writer’s Journey. Mythic Structure for Writers. 2. Auflage, Studio City (California) 1998, S. 12, 20–23, 145–179.

Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998. Originalausgabe: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, New York 1998.

Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main 1986. Vgl. auch Jane Parish / Martin Parker (Hg.), The Age of Anxiety. Conspiracy Theory and the Human Sciences. Oxford etc. 2001.

Henry Taylor
*1965, PD Dr.phil., Privatdozent für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz, Studium der Filmwissenschaft, Geschichte und Verlagswissenschaft an den Universitäten Kent at Canterbury (GB), Stirling (GB) und Zürich, Promotion in Filmwissenschaft an der Universität Zürich, Habilitation an der Universität Konstanz. Lehraufträge an den Universitäten Zürich, Konstanz, Luzern und der ZHdK. Seit 2011 Dozent für Drehbuchschreiben an der SAL in Zürich. Daneben als freier Übersetzer (D/E) tätig.
(Stand: 2020)
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