PHILIPP BRUNNER

«NICHT SCHWUL.» — STRATEGIEN DER SELBSTVERSICHERUNG IN KRITIKEN ZU BROKEBACK MOUNTAIN

ESSAY

Als im verganenen Frühjahr Ang Lees Brokeback Mountain (USA 2005) in die Kinos kam, gab sich die heterosexuelle Kritik sicher: Dieser Film ist nicht schwul. «Brokeback Mountain ist keine schwule, sondern eine universale Liebesgeschichte», war im «Filmbulletin» (1/2006) zu lesen – als ob universal nicht bedeuten würde, dass etwas zwar nicht nur, aber auch schwul ist. «Das Etikett ‹schwuler Western› greift indes zu kurz», erfuhr man in «epd Film» (3/2006) – weiss Gott!, aber nicht, weil der Film nichts Schwules hat, sondern weil er kein Western ist. Manche Stimmen streiften die Grenze zur Feindseligkeit:

Ang Lee hat keinen «Schwulenfilm» gedreht, sondern die literarische Vorlage, eine Erzählung von Annie Proulx, einfühlsam zu einer meisterhaften Untersuchung von Grundfragen menschlicher Existenz in melodramatischem Gewand gestaltet. («NZZ Ticket», 9/2006)

Was nichts anderes heisst, als dass ein «Schwulenfilm» nicht einfühlsam, nicht meisterhaft ist und keine Grundfragen menschlicher Existenz behandelt. Oder, in der Wortwahl anders, in der Aussage gleich:

Es wäre jedoch falsch, Brokeback Mountain vorschnell als «schwules Cowboy-Movie» abzustempeln. So inszenierte der taiwanesische Regisseur Ang Lee [...] die Geschichte einer Männerliebe im Stil grossartiger Gefühlsdramen wie etwa The Bridges of Madison County oder The Remains of the Day. («20 Minuten», 16.02.2006)

Die Zürcher Kinobetreiberin Kitag pries den Film mit unverhohlener Homophobie an: «Wer sich an der homosexuellen Thematik nicht stört, der wird mit einem starken Gefühlsdrama belohnt» – eine Online-Kritik, die erst nach dem Einschreiten einer Schwulenorganisation vom Netz genommen wurde. In der «Frankfurter Rundschau» schliesslich führte Slavoj Žižek aus:

Zuallererst sollten wir uns darüber klar sein, dass Brokeback Mountain nur wenig mit unserer Gegenwart zu tun hat. Gezeigt wird eine tragische Romanze in einem doch schon einige Dekaden zurückliegenden Amerika. Einen liberalen, zumal grossstädtischen Kinogänger heute wird die Liebesgeschichte zwischen zwei Männern kaum berühren, allenfalls wird er eine gewisse Genugtuung über einen längst gewonnen Kampf verspüren: Der Film, den er sich ansieht, behandelt kein aktuelles Problem. («Frankfurter Rundschau online», 11.03.2006)

Kein aktuelles Problem. Das ist, mit Verlaub, politisch fahrlässig und ein Schlag ins Gesicht für jede Lesbe und jeden Schwulen. Der Artikel endet mit einer Empfehlung:

Wie also sollte ein Film heute mit dem Thema Homosexualität umgehen? In diesem Zusammenhang kann Capote als positives Gegenbeispiel zu Brokeback Mountain in Anschlag gebracht werden. Wer diese beiden Filme unter der Rubrik «schwul» zusammenfasst, verfehlt die eigentliche Pointe: Denn während Brokeback Mountain uns die tragische Geschichte einer homosexuellen Beziehung in einer feindseligen, eben homophoben Gesellschaft erzählt, handelt Capote von einem Schriftsteller, der, neben vielen anderen Eigenschaften, eben auch schwul ist. Müssen wir nicht darin den eigentlichen Sieg der Schwulen-Bewegung sehen? Denn wir haben es mit einem Helden zu tun, dessen sexuelle Präferenzen nicht den ganzen Charakter dominieren.

Dass Schwule nicht auf ihre Sexualität reduziert werden sollen, ist zweifellos ernst und gut gemeint. Warum bin ich dennoch verärgert? Weil Zizeks Ausführungen, vierzig Jahre nach Stonewall, reichlich spät kommen? Weil der Grat zwischen Gutgemeintem und Herablassendem erfahrungsgemäss schmal ist? Wer sich als Angehöriger einer (heterosexuellen) Mehrheit auf diese Art über Angehörige einer (homosexuellen) Minderheit äussert, muss jedenfalls damit rechnen, auf wenig Gegenliebe zu stossen – auch und gerade, wenn er sich wie Žižek seit langem mit Fragen der Identität auseinandersetzt.

Und warum macht mich der Vergleich zwischen Brokeback Mountain und Capote (Bennett Miller, CDN/USA 2005) stutzig? Weil ihm die Strategie des Gegeneinander-Ausspielens zugrunde liegt und weil die beiden Filme unterschiedlichen Genres angehören, sodass Äpfel mit Birnen vermengt werden? Weil er ausgerechnet den Film für erstrebenswert hält, dessen Figuren keinerlei Probleme mit der Homosexualität ihres Protagonisten haben? Auch das ist wohl gut gemeint, doch Capotes Homosexualität wird im Film zwar erwähnt, ist aber nicht dessen Thema. (Nicht jeder Film mit schwulen Figuren macht es sich zur Aufgabe, über Homosexualität nachzudenken; so, wie nicht jeder Film mit Frauenfiguren die Bedingungen des Frauseins reflektieren will.) Zudem entspricht die Filmfigur Capote ganz dem Klischee des schwatzhaften und tuntigen (also «unmännlichen») schwulen Künstlers, schliesst also an Bekanntes an und ist daher gefahrlos im Film umsetzbar. Wogegen die Vorstellung von zwei wortkargen und «hypermaskulinen» schwulen Schafhirten um einiges Aufsehen erregender und unbequemer, weil nicht Teil des Klischees über Homosexuelle ist.

Was die Kritiken zu Brokeback Mountain eint, ist der Nachdruck, mit dem sie betonen, was dieser Film nicht sei: schwul. Doch was, bitte, ist unschwul an einem Film, der erzählt, wie zwei Männer sich ineinander verlieben, miteinander ins Bett gehen und eine Liebesbeziehung leben, die über Jahrzehnte dauert? (Nebenbei: Hat man je eine Filmkritik gelesen, die unterstreicht, dass hier keine heterosexuelle, sondern eine universale Liebesgeschichte vorliegt?) Nicht, dass das Vorgehen neu wäre: In den Achtzigerjahren wurde es auf Stephen Frears’ My Beautiful Laundrette (GB 1985) angewandt, in den Neunzigerjahren auf Marcel Gislers De Fögi isch en Souhund/F. est un salaud (CH/F 1998); auch sie erzählten nicht Schwules, sondern Universales.

Warum wird hier etwas in Abrede gestellt, das buchstäblich offensichtlich ist? Wie immer, wenn es um Film geht, dürften auch in diesem Fall wirtschaftliche Gründe vorliegen: Soll ein Film der Mehrheit verkauft werden, muss er mehrheitsfähig gemacht werden, und sei es durch die schiere Behauptung, die einen Gegenstand verneint und in etwas anderes verkehrt, notfalls in sein scheinbares Gegenteil. Dass auch die Berichterstattungen zu Brokeback Mountain sich an die kaufkräftige Mehrheit des Publikums richten, ist also nicht weiter verwunderlich. Doch der Verdacht liegt nahe, dass es nicht nur um wirtschaftliche Gründe geht. Denn diese Mehrheit ist heterosexuell, der Stoff des Films aber, die Liebesgeschichte zweier Männer, homosexuell.

Der Filmverleih war sich dieser Schwierigkeit sehr wohl bewusst. Im Pressematerial, das er den Kritikern aushändigte, ist viel über die Liebe und den amerikanischen Westen zu lesen und über die grosse Emotionalität, die sowohl die literarische Vorlage als auch den Film auszeichne. Auch dies ist, einmal mehr, gut gemeint und die Tagline auf dem Filmplakat – «Love is a force of nature» – hört sich kräftig, schön und treffend an. Aber es geht weniger darum, was im Pressematerial steht als darum, was nicht darin steht. In der 23-seitigen Zusammenstellung von Handlungsangabe und Statements zum Film taucht der Begriff «schwul» gerade ein Mal auf: im vollkommen nebensächlichen Hinweis darauf, dass bei den Dreharbeiten im kanadischen Calgary Mitglieder der Calgary Gay Rodeo Association eine beratende Funktion innehatten. Weder erscheint er in der Inhaltsangabe noch in den langen Passagen, in denen Regisseur und Drehbuchautoren, Produzenten und Schauspieler die beiden Hauptfiguren und ihre Beziehung zueinander beschreiben. Die scheinbar unproblematische, in Wahrheit tückische Grundaussage des Filmverleihs ist also homophob – daran ohne grosse Schwierigkeiten eine so bemerkenswerte wie unrühmliche Präzisierung vornehmen konnte: Brokeback Mountain erzählt keine schwule, sondern eine universale Liebesgeschichte. Was der Verleih verschweigt, verneint die Kritik explizit («nicht schwul») und gibt ihm, in einer Geste des Ausschlusses, einen anderen Namen («sondern universal»).

Die Strategie erinnert an Kindertage – früher konnten wir mühelos Stühle zu Schiffen auf hoher See umbenennen, uns selber zu Königinnen und Zauberern, Männern und Frauen – und wäre rührend, wenn die dahinter stehenden finanziellen Interessen nicht Hand in Hand gingen mit beschämend einfachen, aber altbewährten heterosexistischen Haltungen. Dazu gehört, dass die Kritiken betonen, Brokeback Mountain sei «kein Schwulenfilm», es aber vermeiden zu sagen, was sie darunter verstehen. Das ist auch gar nicht nötig, denn man weiss, was ein Schwulenfilm ist. Einer, der sein Thema «sensibel» und «mutig» angeht, «kompromisslos» und «engagiert» ist, wahlweise auch «schrill» oder «trashig» oder einfach nur «bunt». Die einschlägigen Etiketten sind bis zum Abwinken bekannt. Längst zu Chiffren geworden, signalisieren sie dem Heteropublikum die schwule oder lesbische Thematik eines Films, ohne – bequem und brisant zugleich – sie benennen zu müssen. «Sensibel» sind zum Beispiel Problemfilme über suizidgefährdete jugendliche Lesben, «mutig» dagegen Milieustudien über das Coming-out älterer Familienväter, «kompromisslos» ist fast jede Darstellung schwuler Sexualität, «trashig» wiederum sind Low-Budget-Produktionen im Schmuddellook, und «schrill» sind überdrehte (sprich: harmlose) Komödien mit Tunten in schlechten Fummeln. Das Vokabular (und das damit Gemeinte) funktioniert aber nicht nur bei Filmen, sondern auch bei Regisseuren: John Waters ist «trashig», Bruce LaBruce mindestens «kompromisslos», Todd Haynes und François Ozon sind eher «sensibel», genauso wie Pedro Almodóvar, aber nur dann, wenn er nicht «schrill» ist.

Das Etikett anzubringen bedeutet freilich noch nicht, den damit festgeschriebenen Film gutzuheissen. In der «NZZ» (17.05.2006) wurde an Almodóvars Volver (E 2005) geschätzt, dass er nicht mehr schrill daherkomme, nicht mehr hysterische Weiber zeige wie noch in Mujeres al borde de un ataque de nervios (E 1985) und nicht mehr mit «diesen öden Jungmännerfleischschauen» aufwarte (um nur wenige Sätze später das Décolleté der «hinreissend schönen Penélope Cruz» zu preisen). Stattdessen handle Volver von bodenständigen und währschaften Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stünden. Doch mit derartiger Realitätsnähe hat Almodóvar nun wirklich nichts am Hut – mit emotionalen Wirklichkeiten dagegen sehr viel –, und Penélope Cruz ist in Volver genauso eine schwule Männerfantasie wie Victoria Abril in Kika (E/F 1993) und Marisa Paredes in Tacones lejanos (E/F 1991) und Todo sobre mi madre (E/F 1999).

Aber darum geht es gar nicht. Sondern darum, dass die Zuschreibungen «schrill» oder «nicht (mehr) schrill» für vermeintlich sichere Kategorien stehen: schwul oder nicht schwul. Und nun kommt Ang Lee, macht Brokeback Mountain und erzählt darin – wie bereits in Hsi Yen/The Wedding Banquet (TWN/USA 1993) – eine Geschichte mit schwulen Hauptfiguren: weder «schrill» noch «bunt», ohne die geringste Rechtfertigung und ohne auch nur eines der gängigen Schwulenklischees zu bedienen. Ein solcher Film entzieht üblichen Zuschreibungen den Boden und rückt die schwulen Figuren an heterosexuelle Erfahrungshorizonte heran. Das ist bedrohlich in einer Gesellschaft, die Homosexualität unter anderem mit einem Mangel an Männlichkeit gleichsetzt: Welcher Hetero will sich schon sagen lassen, dass er – jedenfalls in manchen Punkten – gar nicht so anders funktioniert als schwule Männer? (Das soll nicht heissen, dass es keine Unterschiede zwischen Heteros und Schwulen gibt; es gibt sie sehr wohl und noch dazu sind sie beträchtlich. Es heisst nur, dass sie nicht unbedingt dort am grössten sind, wo es der heteronormativen Vorstellungswelt recht wäre.) Vor einem solchen Hintergrund ist es mit den sicheren Kategorien rasch vorbei. Also müssen sie wieder hergestellt werden, und sei es, indem man das Offensichtliche – eine schwule Liebesgeschichte – verneint.

Der Vorgang ist, wie gesagt, nicht neu, ausserdem kann er verschieden ausgeprägt sein. In den Neunzigerjahren gab es eine Welle von Filmen des Mainstream-Kinos, die einen entspannten Umgang mit ihren schwulen und lesbischen Hauptfiguren behaupteten: Das moralische Rührstück Philadelphia (Jonathan Demme, USA 1993) gehört dazu, aber auch mehr oder weniger lockere Gesellschaftskomödien wie Gazon maudit (Josiane Balasko, F 1995), La confusion des genres (Ilan Duran Cohen, F 2000) und 101 Reykjavík (Baltasar Kormákur, IS/DK/N/F 2000). Unerschrocken schienen diese Filme Unterschiede vom Tisch zu fegen: «Wir sind alle gleich!», riefen sie dem Publikum zu. Tatsächlich aber schlugen sie einen überdrehten Ton an, pflegten einen sensationsheischenden Blick. Und am Ende war regelmässig Ruhe eingekehrt: Die lesbischen und schwulen Heldinnen und Helden waren zu Müttern und Vätern geworden – oder, in Philadelphia, von einer im Film selten gesehenen Menge werdender und frisch gebackener Mütter umgeben. Die Figuren wurden in einen Lebensentwurf integriert, der heterosexueller nicht sein könnte und der, das ist wichtig, in allen diesen Filmen als Happy End ausgewiesen wird – unter stillschweigender Ausblendung alternativer Handlungsmöglichkeiten.

«Wo ist das Problem?», könnte man einwenden. Schliesslich gibt es in der Realität nicht wenige Schwule und Lesben, die Kinder haben oder wollen, und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Das Problem, darauf hat die Filmwissenschaftlerin Christine N. Brinckmann hingewiesen, liegt darin,

dass der – in der Wirklichkeit mögliche – spezielle Fall in der Fiktion seine authentische Individualität, seinen Zufallscharakter verliert. Eine fiktionale Erzählung ist ja erschaffen, das heisst von ihrem Autor/ihrer Autorin für erzählwürdig gehalten und erklärt worden. Die Geschichte ist damit als sinnhaftes Konstrukt fixiert, das zwar keine allgemeine Gültigkeit beansprucht, aber dem Publikum doch als Destillat von Wirklichkeit gegenübertritt. Es bietet sich als Erklärungsmodell an, vor allem dort, wo ein Konflikt bereits öffentlich diskutiert wird.1

Der Unterschied zwischen den oben genannten Filmen und Brokeback Mountain ist der: In Gazon maudit etc. sind es die Figuren, die vereinnahmt, in sichere Bahnen gelenkt und auf ihren Platz verwiesen werden – gerade so, wie Frauenfiguren während Jahrzehnten für die Dauer von neunzig Minuten eigenständig sein durften, bevor sie am Ende meist endgültig domestiziert und in männlich bestimmte Ordnungen überführt wurden. Dagegen werden bei Brokeback Mountain, aber auch schon bei De Fögi isch en Souhund und My Beautiful Laundrette nicht die Figuren, sondern die Filme selbst vereinnahmt: Zwar dürfen die Männer schwul sein, aber die Liebesgeschichten zwischen Ennis und Jack, Beni und Fögi, Omar und Johnny werden in der Kritik als «nicht schwul, sondern universal» und damit als heterosexuell deklariert. (Freilich wurde Ang Lees Schafhirten noch nicht einmal das Schwulsein vorbehaltlos zugestanden: Ihre sexuellen «Präferenzen» würden nicht «abschliessend erklärt», bemängelte man in «20 Minuten» [16.02.2006], und es liegt auf der Hand, dass das Unbehagen an Brokeback Mountain viel mit dieser heterozentrierten wie fragwürdigen Schlussfolgerung zu tun hat.)

Die Gemeinsamkeit zwischen den Filmen aus den Neunzigerjahren und den Kritiken zu Brokeback Mountain liegt in der Strategie der Vereinnahmung: Eine Mehrheit integriert eine Minderheit unter der Bedingung, dass Letztere jene Eigenschaften ausblendet, die sie überhaupt zur Minderheit machen. Die Strategie selbst folgt einer Logik der Selbstversicherung aufseiten der Mehrheit.

Die Art, wie Schwule und Lesben im Film repräsentiert werden, habe direkten Einfluss darauf, wie sie im ausserfilmischen Alltag wahrgenommen und behandelt würden – von Heteros wie von Schwulen und Lesben selbst. Auf diesen diplomatischen Nenner bringt der Filmwissenschaftler Richard Dyer das schwierige Dreiecksverhältnis zwischen Heterosexualität, Film und Homosexualität.2 Ermutigend ist, dass darin folgende Möglichkeit enthalten ist: Vorurteilsfreie Schilderungen über Schwule und Lesben tragen zu einer entspannten Haltung gegenüber Homosexualität bei. Ernüchternd ist dies: Was nützt ein Film wie Brokeback Mountain, wenn über ihn geschrieben wird, er sei nicht schwul?

Die Geschichte der filmischen Darstellung von Homosexualität, auf die sich Dyers Feststellung bezieht, spielt sich zwischen zwei Polen ab: Zum einen im heterosexistischen Mainstream-Kino, das schwule und lesbische Figuren während Jahrzehnten nicht explizit als solche bezeichnete, nur hinter vorge haltener Hand über sie sprach und dabei den gesamten Katalog von – mal monströsen, mal dämlichen – Klischees bediente. Zum anderen im oft als Queer Cinema bezeichneten Kino, das seit den Achtzigerjahren vor allem im Westen entsteht, in erster Linie von lesbischen und schwulen Filmemacherinnen und Filmemachern für ein vorwiegend lesbisches und schwules Publikum gemacht wird und in dessen Zentrum offen thematisierte lesbische oder schwule Lebenslogiken und Erfahrungshorizonte stehen.

Nur wenige Regisseure wagen einen dritten Weg und vermögen damit zu überzeugen. Der Hetero Ang Lee hat es getan und einen Film gemacht, der über das spricht, was Schwulen und Heteros gemeinsam ist, ohne die Unterschiede zwischen ihnen wegzureden. Nur wenige Kritiker haben es gesehen. Brokeback Mountain, schreibt einer klug, «ist kein schwules Manifest, aber ein klares Plädoyer für die gleichgeschlechtliche Liebe» («WOZ Die Wochenzeitung», 16.02.2006). Dass die meisten anderen davor partout die Augen verschliessen, macht wütend.

Christine N. Brinckmann, «Das kleine Mädchen im Film», in: dies.: Die anthropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration. Mariann Lewinsky / Alexandra Schneider (Hg.), Zürich 1997 (= Zürcher Filmstudien 3), S. 177.

Richard Dyer, The Matter of Images. Essays on Representation, London/New York 1993.

Philipp Brunner
Dr. phil., geb. 1971. Filmpublizist und Dozent für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Autor von Konventionen eines Sternmoments. Die Liebeserklärung im Spielfilm (Marburg 2009), von Texten zum Queer Cinema und zum iranischen Kino sowie zu Marlene Dietrich, Romy Schneider und Tilda Swinton. Seit 2005 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2010)
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