SASCHA LARA BLEULER

PRIVATE (SAVERIO COSTANZO, I 2004)

MOMENTAUFNAHME

Meine Schwester packt meinen Arm und krallt sich fest. Angespannt blicken wir auf einen kleinen Spalt auf der Leinwand, der sich langsam vergrössert: milchiges, grelles Licht. Die Schranktür öffnet sich ... Undeutlich erkennen wir einen Soldaten – auf seinem Rücken baumelt ein Gewehr. Eine junge Palästinenserin hat sich im Schrank versteckt. Das Haus ihrer Familie wurde von der israelischen Armee beschlagnahmt, nun dient das obere Stockwerk als strategischer Stützpunkt. Täglich schleicht die Tochter über die verbotene Grenze nach oben und verfolgt aus ihrem Versteck die Alltagsroutine der Soldaten. Ängstlich, neugierig beobachtet sie die jungen Männer, deren Sprache sie nicht versteht und deren Ziel sie nicht kennt. Der Blick des Soldaten schweift in ihre Richtung. Hat er uns gesehen? Meine Schwester verkriecht sich in ihrem Pullover. Der Soldat geht weiter. Flink huscht die junge Frau die Treppe hinunter, ins Erdgeschoss. Hier ist sie in Sicherheit. Wir atmen auf. Aus dem Schrank sind wir entkommen, der dunkle Kinosaal aber gibt uns noch lange nicht frei. Unser Blick bleibt ein eingeschränkter, gefesselter. Bald müssen wir wieder mit in den Schrank.

Sascha Lara Bleuler
*1977, Schauspielausbildung am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York. Studium Anglistik, Filmwissenschaft und Fran­zösi­sche Literatur an der Universität Zü­rich. Lehrtätigkeit in Englisch, Filmtheorie und Schauspiel. Freie Journalistin für Filmzeitschriften. Kuratorin von Filmreihen. Programmation der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur und des Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel. Schauspielerin in Film- und Theaterproduktionen. Lebt in Zürich und Tel Aviv.
(Stand: 2017)
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