SIMONA FISCHER

SNOW WHITE (SAMIR)

SELECTION CINEMA

Nach dem Dokumentarfilm Forget Baghdad (2002), der mit dem Preis der Semaine de la critique in Locarno und dem Filmpreis der Stadt Zürich ausgezeichnet wurde, überrascht Samir mit dem sozialkritischen Melodram Snow White (2005). Dokumentarisch grundiert, hebt dieser Bilinguefilm zuweilen ins Märchenhafte ab.

Die Liebesgeschichte um ein gefallenes Goldküsten-Schneewittchen namens Nico (Julie Fournier) und einen französischen Rapper (Carlos Leal) ist in die «weiss schweizerisch hedonistisch protestantische Oberschicht» (Samir) eingebettet. Die Perspektive erhält durch den Einsatz zweier Ich-Erzähler – einerseits erzählt Nico, andererseits Paco einen doppelten Erzählbogen, der die verschiedenen Lebenswelten direkt aufeinander prallen lässt. Ausserdem erhält die Annäherung der Liebenden durch diese Zweifachführung einen besonderen Stellenwert. Dem traditionellen Genrebegriff verpflichtet, machen Samir und Michael Sauter – Ko-Autor von Achtung, fertig, Charlie! (2003) – damit Gefühlskino. Der Film will sich aber auch als sozialkritischen Beitrag verstanden wissen. Botschafter dieses Beitrags ist die Figur des charismatischen Rappers Paco – verkörpert vom Sänger Carlos Leal der Lausanner Hip-Hop-Gruppe Sens Unik. Nicos objet du désir will mit seinen Songs für politisches Engagement und gesellschaftliche Verantwortung einstehen. Die Figur der jungen, glamourösen Nico hingegen – als Exponentin der Jeunesse dorée – steht für endloses Vergnügen in den Zürcher Nobeldiscos, in denen Kokainkonsum zum gesteigerten Lebensgefühl der reichen Spassgesellschaft gehört. Diese Art polarer Figurenkonstellation, die sich durch sämtliche Beziehungsebenen fortsetzt, bedient viele Klischees. Nach Meinung des Regisseurs ist das Publikum nur auf diesem Weg zu erreichen (SonntagsZeitung, 7. 8. 2005). Dass jedoch gerade die Frauenfiguren jeglichen Begriffs modernen weiblichen Selbstverständnisses entbehren, ist schlicht und einfach unzeitgemäss.

Dem vorhersehbaren Prozess des SichFindens eines gegensätzlichen Liebespaares, das sich dann dramatisch verliert, um sich am Ende wiederzufinden, steht ein brillantes, audiovisuelles Feuerwerk entgegen. Sämtliche Filmformate und Darstellungsstile, vom Video über das körnige Super 16 bis zum 35 mm, werden je nach Erzählebene aufgeboten. Exemplarisch hierfür steht vielleicht eine der stärksten Szenen des Films – im Stil der Dogma-Regisseure –, in der Nico dem Geliebten ihre wahre Herkunft offenbart. Snow White ist geprägt von einer Clip-Ästhetik; was die Musik auf der Tonspur leistet, manifestiert sich im rasanten Puls der Montage. Diese spielt überhaupt eine tragende Rolle in Snow White. Vielleicht drückt sich damit nicht zuletzt die Meinung des Regisseurs aus, die Musik stehe in einem engeren Bezug zum Film als die Literatur oder das Theater (Espace, 8. 8. 2005). Trotz realistischer Konzeption der Geschichte vermag das Einsetzen von Effekten, wie etwa der Zeitlupe, märchenartige Liebesszenen in einen entrückten Zustand der Unschuld zu zaubern. Samir erweist sich auch in dieser Produktion als herausragender audiovisueller Experimentierer.

Simona Fischer
geb. 1972. Studium der Germanistik, Publizistik und der Filmwissenschaft. Arbeitet für das Literaturhaus Zürich und als freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2006)
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