DORIS SENN

ANGRY MONK (LUC SCHAEDLER)

SELECTION CINEMA

«Reflections on Tibet» heisst Luc Schaedlers Film im Untertitel – bescheidene Worte für diese spannende Dokumentation über eine historische Figur, die Tibet und seinen Mythos in ein neues Licht rückt. Im Zentrum steht der unorthodoxe Mönch Gendun Choephel, der 1903 in Osttibet geboren wurde und als inkarnierter Lama mit vier Jahren ins Kloster eintrat. Schon als kleiner Junge äusserst gewitzt, mauserte sich der Heranwachsende bald zu einem Meister des buddhistischen Debattierens – der Königsdisziplin der tibetischen Mönchsausbildung. Mit 24 brach er nach Lhasa auf, um in Drepung, einem der grössten Klöster der Welt, zu studieren. Bald wurde es ihm dort zu eng: Er verdingte sich als Maler und reiste mit dem indischen Historiker Rahul auf der Suche nach alten buddhistischen Texten durch die tibetischen Klöster. Dabei setzte er sich vertieft mit der Geschichte des Landes auseinander.

1938 ging Choephel mit Rahul nach Indien und bereiste über Jahre das Land. Er schrieb, malte und las sich quer durch die Bibliotheken. Und er führte ein sinnenfreudiges Leben: Sein damaliger Reisebegleiter, Golok Jigme, erzählt amüsiert, wie sehr Choephel sich zum Rauchen, Trinken und vor allem zu den Frauen hingezogen fühlte. Da erstaunt es nicht, dass Choephel das Kamasutra auf Tibetisch übersetzte, und noch weniger, dass dies einen grossen Skandal auslöste. Nichtsdestoweniger wollte Choephel in seine Heimat zurückkehren und kam dabei in Kontakt mit der Tibetischen Revolutionspartei, die vorhatte, das konservative Regime in Tibet zu stürzen. Dies sollte ihm nach seiner Rückkehr allerdings zum Verhängnis werden: 1946 denunzierten ihn die Engländer als Staatsfeind, und er wurde in Lhasa eingekerkert. Als er drei Jahre später freikam, war er ein gebrochener Mann. 1951 überrollte die chinesische Armee das Land, und Choephel starb in Resignation.

«In Tibet ist alles, was alt ist, ein Werk Buddhas, und alles, was neu ist, ein Werk des Teufels. Das ist die traurige Tradition Tibets.» Choephel blickte mit offenen Augen auf sein Land. Seine Vision war, dessen Geschichte (neu) zu schreiben – das Land sollte seinen Horizont öffnen und aus der Erstarrung der Traditionen hinausgeführt werden. Choephels wenig mystische Lebenshaltung und sein neugieriger Intellekt lassen uns Tibets Historie mit neuen Augen sehen – und zeigen auf, wie dessen Kultur von verschiedener Seite vereinnahmt wurde: zuerst von den eigenen konservativen Machthabern, dann von den chinesischen Invasoren und schliesslich von einem heilsbegierigen Westen, der Antworten sucht auf drängende Fragen nach dem Lebenssinn.

Luc Schaedler hat die Geschichte des unkonventionellen Lamas mit einer Reise durchs heutige Tibet und Indien verbunden. Die Kamera (Filip Zumbrunn) fängt erfrischend und unbeschwert das Alltagsleben ein und hat einen Blick für witzige Nebenschauplätze (vor allem, wenn Alt und Neu aufeinander prallen). Die Montage verbindet in dichtem und doch unhektischem Rhythmus die aktuellen Bilder mit Archivaufnahmen und den Erzählungen von Interviewpartnern. Angry Monk – der erst zweite Film des Ethnologen Schaedler nach Made in Hong Kong (1997) – setzt nicht nur sehr anschaulich die Lebensgeschichte dieses aufmüpfigen Mönchs um, er gibt auch inspirierten Anstoss zu einer Diskussion über Tradition und Geschichte, Religion und Politik, Mythos und Projektion.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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