«Wie würden Sie einem Kind in drei Sätzen den Konflikt um Tschetschenien erklären?», wird der russische Justizminister gefragt. Dieser antwortet, er brauche dazu nur zwei Worte: «internationaler Terrorismus».
Dass es sich in dieser Einschätzung um eine groteske Lüge handelt, die von der europäischen Gemeinschaft grösstenteils akzeptiert wird, zeigt der berührende Dokumentarfilm Coca – Die Taube aus Tschetschenien. Coca – tschetschenisch für «Taube» – ist der Kosename von Sainap Gaschajewa, einer Menschenrechtsaktivistin und Leiterin der Organisation Echo of War, die in Eric Bergkrauts Film porträtiert wird. Seit 1994 kämpft sie dafür, dass die Verbrechen, die das tschetschenische Volk seit langem erleiden muss, nicht vergessen gehen, und sie spricht sich dabei vehement gegen terroristische Akte von Seiten tschetschenischer Rebellen aus. So oft wie möglich zieht sie, unterstützt von anderen Frauen, mit ihrer Filmausrüstung los, um die Verbrechen auf Video zu bannen und diese Dokumente anschliessend möglichst sicher zu verstecken.
Den Einstieg in das packende Porträt bildet eine Sequenz, in der uns Coca davon erzählt, wie sie den Mord an einem 19-jährigen Jungen miterleben musste, ein Anblick, der sie bis heute nicht loslässt – von diesem Moment an sitzt man gebannt vor der Leinwand. Video um Video, Geschichte um Geschichte reihen sich die unfassbaren Grausamkeiten aneinander und vermitteln in einer schnörkellosen funktionalen Bildsprache, wie es um die geschlossene Zone Tschetschenien steht, in der internationale Beobachter nach wie vor nicht zugelassen sind und Menschen umgebracht werden, wenn sie sich an den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Bergkraut begleitet Coca bei ihrer Arbeit, setzt diesen Eindrücken aber auch Interviews mit Politikern und Journalisten entgegen. So zum Beispiel mehrere Sequenzen mit Andreas Gross, dem Schweizer Tschetschenien-Beauftragten des Europarates, der an der Ausführung seiner Mission gehindert wird, indem man seine Einreise nach Tschetschenien immer wieder mit fadenscheinigen Begründungen vertagt. Besonders spannend fallen die scharfsinnigen Analysen der russischen Journalistin Anna Politowskaja aus, die durch ihre Berichterstattung für die «Novaja Gazeta» in Moskau um ihr Leben fürchten muss. Nach ihren Versuchen, im Geiseldrama von Beslan zu vermitteln, wurde ein Giftanschlag auf sie verübt.
Bergkraut nimmt dabei nicht eine einseitige, antirussische Haltung ein; es geht ihm nicht um das Finden eines Schuldigen, sondern darum, diesen Konflikt wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und dem Mut der tschetschenischen Frauen auf ihrer Mission zu huldigen. Dies ist ihm bereits gelungen: In Köln durfte Gaschajewa am 20. 11. 2005 den LewKopelew-Preis entgegennehmen – die Jury wurde durch Coca – Die Taube aus Tschetschenien auf die mutige Kämpferin aufmerksam. Der Film wurde bereits an mehreren internationalen Festivals gezeigt; eine Einladung aus Russland blieb bisher aus.