«Before I was addicted to drugs I was addicted to faces. In New York I would fall in love every five minutes.» Edo Bertoglio hat jenes New York miterlebt, von dem wir heute nur noch in Filmen etwas mitbekommen: als Warhols Factory voll war von kreativen Freigeistern und man sich nachts in der Alphabet City – zwischen den Avenues A und D im East Village – noch fürchten musste. Bertoglio war von 1976 bis 1990 im Big Apple als Fotograf tätig und hatte sie alle vor der Linse: Jean-Michel Basquiat, John Lurie, Andy Warhol. So lange, bis es mit der ganzen Szene bergab ging und nicht mehr das Schaffen im Vordergrund stand, sondern nur noch das Geld für den nächsten Schuss. Um dieser dunklen Seite New Yorks zu entfliehen, kehrte Bertoglio der Stadt den Rücken. Nach vielen Jahren öffnet er nun seine Fotoarchive und reist in diese Stadt zurück, um zu sehen, was aus seinen ehemaligen Freunden geworden ist. Nicht allen ist es so gut ergangen wir Deborah Harry alias Blondie, die immer noch Musik macht, und dem Autor Glenn O’Brien: Viele sind tot, gestorben an Aids oder einer Überdosis Heroin, einige hängen immer noch an der Nadel.
Bertoglios Reise durch das heutige New York ist gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit, zu den Wurzeln der eigenen Kreativität und den Abgründen seiner Existenz. Wie schon in seinem ersten Dokumentarfilm Downtown 81 (CH 1981), nimmt uns der Regisseur mit auf eine Reise durch das ehemalige Künstlerviertel in Downtown New York. Nebst freudiger Wiedersehen mit denjenigen, die überlebt haben, wird Bertoglio von den Dämonen der Vergangenheit heimgesucht und muss sich der «besiegten» Sucht und ihrer immerwährenden Versuchung, zumindest gedanklich, erneut stellen.
Face Addict ist das Porträt einer grossen Liebe zu einer Stadt, in der alles möglich ist – auch der Absturz in Drogen und Elend. Ehrlich und aufwühlend lässt Bertoglio die goldene Ära in seiner essayistisch anmutenden Dokumentation vor unseren Augen aufleuchten, ohne sie zu verklären oder die Folgen dieser wilden Zeit zu verschweigen. Liebevoll wird Bild um Bild, Erinnerung um Erinnerung zu einem Puzzle zusammengesetzt, von dem der Regisseur selbst nicht wusste, wie es aussehen würde, als er sich auf diese Reise begab. Besonders berührend sind die Sequenzen mit dem Künstler und Warhol-Protegé Walter Steding, der scheinbar immer noch das Leben von damals führt: mit seiner Musik und Kunst, aber auch mit der Rastlosigkeit eines Junkies. Am Ende des Films wird er Bertoglio die Ergebnisse seines Urintests präsentieren – nach Jahren ist er clean und reflektiert, auf einer Parkbank sitzend, was er durch die Drogen verloren hat und weshalb er nicht mehr bereit ist, diesen Preis zu zahlen.
Am Ende gesteht uns Bertoglio, dass durch die Erfahrungen, die er in New York gemacht hat, seine künstlerische Arbeit mit Bildern stets aufs stärkste mit Drogen verbunden war. Die Reise in Face Addict lässt ihn an den Ort vor den Drogen zurückkehren. New York verlassend, hat Bertoglio wieder angefangen zu fotografieren.