SIMONA FISCHER

ÄSSHÄK – GESCHICHTEN AUS DER SAHARA (ULRIKE KOCH)

SELECTION CINEMA

Der neue Dokumentarfilm von Ulrike Koch wartet mit einer Reihe von Geschichten aus der Sahara auf. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen orientalischem Märchen und dokumentarischem Beitrag über das Leben der Tuareg. Zu dieser Wirkung dürften sowohl die beeindruckenden Bilder von Kameramann Pio Corradi wie der vollständige Verzicht auf einen Voice-over-Kommentar beitragen.

Bereits in der ersten Einstellung wird das Dromedar gezeigt, das einem Nomaden entlaufen ist und auf dessen Suche er sich fortan begibt. Leitmotivisch strukturiert diese Suche den ganzen Film und steht für das unbedingte Zusammenleben der Menschen mit diesen Vierbeinern. Wir begegnen dem Geschichtenerzähler El Hadj Ibrahim Tshibrit, der seit seiner Kindheit «Lügengeschichten» erzählt, die im Laufe der Zeit von den Leuten übernommen und dadurch zur Wahrheit werden. Der grossartige Erzähler bringt uns die Bedeutung von «Ässhäk» näher. Ässhäk heisst, «den guten Prinzipien, den Regeln des Wohlverhaltens und Gott zu folgen». Da ist die alte Nomadin, die über das Leben der Tuareg-Frauen berichtet. Diese verlassen sich allein auf sich selbst, denn «der Ehemann ist wie der Schatten eines Baumes am Morgen, der verschwindet und dich unter der brennenden Sonne zurücklässt». Der gottesfürchtige Marabut, der in der Felsenwüste von Takriza eine jahrhundertealte Moschee behütet, erzählt über die Bedeutung vorislamischer Bräuche und Riten, über Respekt gegenüber Mensch und Natur, eben über Ässhäk. Schliesslich spielt Schilen auf jener einsaitigen Geige – traditionsreiches Tuareginstrument –, das Imzâd genannt wird und Ässhäk geradezu verkörpert. Denn sein Spiel vertreibt sämtliche schlechten Gedanken, während es den Wunsch weckt, Gutes zu tun.

In elliptischem Erzählen und in beeindruckenden Panorama-Einstellungen offenbart sich das Leben in der Mutter aller Wüsten, der Sahara. Der blutrote Abendhimmel über unendlicher Wüste, der plötzliche Regen, welcher der Einöde wieder Leben einhaucht, das Wassergraben des Nomaden für sein Dromedar und die Langzeiteinstellung, in dem sich der kleine Mensch und das stattliche Tier gegenübersitzen, an der Quelle, die Überleben bedeutet. Die volkstümlich gefärbte, zurückhaltende Musik von Harry de Wit setzt zu den uralten Klängen und Nomadengesängen einen zeitgenössischen Akzent.

Bereits in Ulrike Kochs mehrfach preisgekröntem Vorgänger Die Salzmänner von Tibet (1997) wurde auf einen Kommentar verzichtet. Auch bei Ässhäk wird auf diese Weise versucht, direkt und unverfälscht Lebensweisen und Riten einzufangen, ohne jedoch den Anspruch auf Objektivität zu erheben. Dies schafft der Film gerade durch jene märchenhaften Momente, die den Objektivitätsanspruch bewusst zu untergraben wagen. Andererseits zeigt sich durch die Wahl des Märchenhaften im Dokumentarischen eine tiefe Einsicht in das Leben der Porträtierten. Exemplarisch dafür steht der in Zeitlupe verzerrte Traum des Nomaden, in dem ihm jene Tiere erscheinen, die einst die Wüste bevölkerten. Märchenhaft poetisch wird so die Verbindung zu den Mythen der Tuareg hergestellt, und gleichzeitig verweist dieser fiktive Eingriff auf die orientalische Tradition des Märchenerzählens.

Simona Fischer
geb. 1972. Studium der Germanistik, Publizistik und der Filmwissenschaft. Arbeitet für das Literaturhaus Zürich und als freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2006)
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