SABINE HENSEL

HALLELUJA! DER HERR IST VERRÜCKT (ALFREDO KNUCHEL)

SELECTION CINEMA

Die Nahaufnahme eines Kaleidoskops zaubert Formen- und Farbengebilde hervor. Ein melancholisches Lied ertönt; kurz darauf sehen wir dessen Sänger, der sich selbst auf der Gitarre begleitet. Es schneit dicke Flocken auf das bereits in Weiss gehüllte Areal. Schauplatz von Halleluja! der Herr ist verrückt ist die Waldau in Bern, eine psychiatrische Klinik an idyllischer Lage, die bereits viele Künstler beherbergt hat. Schriftsteller wie Robert Walser und Friedrich Glauser lebten wie die Künstlerin Rosa Marbach oder der Maler Adolf Wölfli, der als Begründer der Art brut gilt, eine Zeit lang – oft sogar viele Jahre – in diesem geschützten Umfeld. Dr. Walter Morgenthaler, zur Zeit von Wölflis Internierung Anfang des 20. Jahrhunderts Oberarzt, erkannte und förderte dessen Talent. Damit legte er den Grundstein zu einer wertvollen Kunstsammlung von mittlerweile beachtlichem Umfang.

Das Augenmerk richtet der Dokumentarfilm jedoch weniger auf Vergangenes (die historischen Rückblicke mit Fotos, Dias und Werkausschnitten sind kurz gehalten) als vielmehr auf gegenwärtiges künstlerisches Schaffen: Fünf Patienten und eine Patientin erläutern ihre Bilder, erzählen von ihren Ängsten und Hoffnungen. Knuchel geht es nicht um ausführliche Biografien oder Krankengeschichten; es gibt keine Werkanalysen. Stattdessen konzentriert sich das stimmige Filmporträt auf die Ausdruckskraft des Malens und Zeichnens, das aus einem inneren Zwang heraus entsteht. Nie werden die Künstler zu Aussagen gedrängt, sondern respektiert in ihrem Anderssein. Die Vielseitigkeit der Kunst verblüfft: Jonas Konrad schafft witzige Collagen aus je zwei Gesichtshälften; Daniel Curti malt farbig-geometrische Bilder, die ihrerseits aus unzähligen, detaillierten Bildern bestehen; Gabor Dios bearbeitet und koloriert Fotos. Gordian Hanemann verbindet Worte und Skizzen zu feinen Bleistift-Farbstift-Organismen; Philippe Saxer kreiert grossflächige expressionistische Werke; Margrith Roth komponiert Zeichnungen aus Köpfen und Körpern.

Als Gegenpol kommen in Halleluja! der Herr ist verrückt zwei Handwerker zu Wort: der Schlossermeister der Waldau, Heinz Feldmann, sowie der Malermeister Otto Frick. Während Ersterer über viele Jahre hinweg die Sammlung der Klinik betreute und nach seiner Pensionierung weiterhin als Archivar fungiert, bietet Letzterer den Künstlern Raum, sich zu entfalten. Fricks verständiger Umgang mit den Patienten leistet einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Kreativität. Wie in Knuchels früheren Filmen – besser und besser (1996) über den Umbruch im Leben eines Lichtpausenkuriers und Vaglietti zum Dritten (1999) über einen ehemaligen Amateurboxer – wird auch hier der Aspekt des Menschlichen hervorgehoben.

Die ausgewogene Komposition des Films unterstützt eine oft dissonante Musik sowie eine ruhige Kameraführung. Nachdenkliche Momente, in denen die Krankheit der Porträtierten Thema wird – und teilweise spürbar –, wechseln sich ab mit spielerischen und mit ironisch-selbstreflexiven. Konrad kommentiert eine seiner präzisen Skizzen mit den Worten: Das sei «Art brut live». Am gelungensten sind jene (Nah-)Aufnahmen, in denen wir die Künstler beim Arbeiten beobachten. Von Konzentration, Hingabe oder Getriebensein zeugen die Gesichter, die Pinsel und Stifte führen. Das Ringen mit sich und dem Leben wird erfahrbar im künstlerischen Prozess; auf subtile Weise wird uns auch die Relativität des «Normalen» vor Augen geführt. Das sich drehende Kaleidoskop im Vorspann ist vorausweisend Sinnbild für den ganzen Film: ein lebendiges Mosaik aus dem Schaffen von Künstlern, die damit einen Teil ihres Leides nach aussen tragen.

Sabine Hensel
geb. 1972, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Europäischen Volksliteratur. Sie lebt in Zürich und arbeitet als Korrektorin.
(Stand: 2005)
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