Das Lochergut ist jedem Zürcher ein Begriff: Bei der gleichnamigen Tramhaltestelle liegt diese Hochhaussiedlung, eingekeilt zwischen den beiden stark befahrenen Autobahnzu- respektive -abgängen Seebahnstrasse und Sihlfeldstrasse. Einen Coop gibt es da, bereits von Pipilotti Rist in «I Couldn’t Agree with You More» festgehalten, einen Coiffeur, einen Blumen- und einen Möbelladen. Achthundert Menschen leben im Lochergut; ein gutes Dutzend von ihnen porträtiert Fabienne Boesch in ihrer Abschlussarbeit der Filmklasse der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
Die Bewohner haben oft ein gespaltenes Verhältnis zu «ihrem» Hochhaus; viele fühlen sich isoliert und doch daheim, stolz, am selben Ort zu wohnen wie einst Max Frisch, der es allerdings bloss zwei Jahre im Lochergut aushielt. Die ethnische Vielfalt sehen zwei ältere Frauen als Verslumung («Als wir kamen, wars noch schön, achtzig Prozent Schweizer; heute ist es umgekehrt»), während der junge Schweizer Fabio sich so sehr mit seinen ausländischen Freunden identifiziert, dass er lieber Brasilianer wäre. Dieser «Mulitikulti-Bunker» ist einigen ein Dorf in der Stadt, eine Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, andere grüssen sich nicht mal im Lift. Auch diejenigen, die im Lochergut arbeiten, beurteilen dies unterschiedlich - eine Verkäuferin beklagt sich, dass die Reichen und Schönen den Weg in den Kreis vier nicht fänden; andererseits schwingt in der Stimme des Möbelladenbesitzers Stolz mit, wenn das Lochergut ihn an eine Pariser Banlieue erinnert - ein Vergleich, der den momentan in Zürich grassierenden Industrieschick unterstreicht. Das Lochergut ist laut Pipilotti Rist ein «tristes Tal»; hier werden Tote tagelang nicht gefunden, und die Höhe lockt zu Selbstmordtourismus. Hier bilden sich aber auch Freundschaften, besonders unter den Jugendlichen. So kann Fabio sich nicht vorstellen, von hier wegzuziehen. All diese Porträts, in denen die Protagonisten stets für sich sprechen und Boesch auf einen Voice-over verzichtet, sind geschickt mit Ausschnitten aus verschiedenen Dokumentationen über das Lochergut verknüpft (Schnitt: Rosa Albrecht). So öffnen wir zum Beispiel die Wohnungstür heute und landen in Schwarzweissaufnahmen aus den Sechzigerjahren. Durch das Gegenüberstellen der verschiedenen, aber immer emotionalen Bindungen der Bewohner zu ihrer Wohnung, zu ihrem «Komplex» entsteht nicht bloss eine Hommage an dieses andere Wahrzeichen Zürichs, es wird auch betont, wie sehr uns die Umgebung, in der wir wohnen, beeinflusst. Für ihre Arbeit hat Fabienne Boesch den Publikumspreis für den besten Diplomfilm erhalten.