KRISTINA BERGMANN

MITSINGEN, MITLACHEN, MITWEINEN – KINO AM NIL — FILMBRIEF AUS KAIRO

FILMBRIEF

Vom ägyptischen Filmschaffen hat man in Europa nur eine vage Vorstellung. Im arabischen Raum stellt es hingegen eine ganze Welt dar. 100 Jahre ägypti­scher Film und über 2000 Produktionen haben erheblich zur Unterhaltung und Bewußtseinsbildung in Ägypten beigetragen.1

Die ersten Filmrollen wurden 1896 in einem alexandrinischen Café abge­spielt. Wie auf der ganzen Welt handelte es sich um ein paar Reportagestreifen der Brüder Lumière. Sie wurden von einem aufgeschlossenen und nach kultu­rellem Aufbruch dürstenden Publikum begeistert begrüßt. In den größeren Städten wurden provisorisch erste Vorführsäle eingerichtet. 1917 war die Zahl der regulären Kinosäle bereits auf siebzig angewachsen.

In Alexandria wurden auch die ersten ägyptischen Filme produziert. An­fang dieses Jahrhunderts war die Stadt kosmopolitisch und reich, und so wurden die ersten Streifen von Libanesen und Griechen finanziert, von Italienern gedreht, von Franzosen dekoriert und gespielt. Doch nach der Revolution von 1919 und im Zug einer erstarkenden Nationalbewegung wurde die Identitäts­suche der Ägypter zielgerichteter. Die Theaterschauspielerin Aziza Amir be­schloß 1926, den Sprung von der Bühne zum Film zu machen, und produzierte Leila, bint as-sahara’ (Leila). Der 150minütige Stummfilm gilt als erster ägyp­tischer Langspielfilm. In den Anfängen des ägyptischen Filmschaffens spielten mehrere Frauen eine wichtige Rolle. Sie stammten aus der europäisch beein­flußten Oberschicht, in der die Damen einen Salon führten. Die Schauspiele­rinnen Assia Dagher, Aziza Amir, Mary Queeny, Bahiga Hafez und Fatma Ruschdi betätigten sich bald auch als Produzentinnen, Regisseurinnen, Auto­rinnen oder Cutterinnen. In die während der Mitte der dreißiger Jahre entste­hende Filmindustrie vermochten die Frauen sich allerdings weniger leicht ein­zuordnen.

Diese begann mit der Gründung des Studio Misr, dem »Studio Ägyptens«. Für die Ausstattung des Filmstudios wurde in Deutschland die modernste Ein­richtung angeschafft, und seine erste Produktion wurde ein überwältigender Erfolg. Vor allem für die großen Sängerinnen und Sänger – Umm Kulssum, Mohamed Abdelwahab und Abdelhalim Hafez – wurden nun industriell Filme gedreht und Kinos gebaut. 450 Kinos zählte man in den fünfziger Jahren in Ägypten. Die Art-déco- und Jugendstilpracht der riesigen Säle mit bis zu 2000 Plätzen bot den richtigen Rahmen für die Produkte der ägyptischen Film­industrie: Melodramen, romantische Musikfilme und Komödien. Damals war der Kinobesuch ein klassisches Familienvergnügen. Die Väter hatten die Karten vorbestellt und eilten stolz der Familie voraus. Alle waren fein herausgeputzt, die Mädchen mit Schleifen und Lackschuhen, die Jungen im ersten Anzug. Man stieg gemächlich die pompösen Marmortreppen hinauf und ließ sich in den bequemen, mit Samt bezogenen Sesseln nieder. Egal ob der Film fröhlich oder traurig war – das Publikum ging mit. Der ganze Saal lachte schallend über die Gags, weinte über die unglücklichen Liebesgeschichten und sang lautstark die Lieder mit.

Die einseitige Konzentration auf das »aristokratische Kino« führte früh zum Konflikt. Im Studio Misr bildete sich 1939 um den Regisseur Kamal Selim eine kleine Gruppe, die etwas Neues probieren wollte – nämlich genau das, was die bisherigen Filmschaffenden von vornherein zum Scheitern verurteilt sahen: einen Film zu drehen, der von einfachen Leuten handelte. Rasch verbreiteten sich Gerüchte über das ungewöhnliche Projekt, und ganz Kairo war gespannt, diesen »Volksfilm« zu sehen. Während der Vorführung von Al azima (Der Wille, 1940) schließlich stritt man sich laut, in welchem der alten Kairoer Viertel die Gasse wohl gedreht worden sei – so echt war das Milieu mit dem bescheidenen Café, dem Metzger an der Ecke, den schreienden Marktfrauen, der Mühsal der kleinen Leute und den ärmlichen Wohnungen im Studio nachgebaut worden.

Salah Abu Seif (1915 – 1996), der bereits als Cutter von Al azima mitgewirkt hatte, tat sich bald als wichtigster Regisseur des sogenannten ägyptischen Rea­lismus hervor. Vor allem die kritische Darstellung des in Enge und Nöten lebenden Städters stand im Zentrum dieser Stilrichtung. Bald konnte Abu Seif den Schriftsteller Nagib Mahfuz als Drehbuchautor gewinnen. Der spätere Nobelpreisträger für Literatur gehört derselben Generation wie Salah Abu Seif an und wuchs wie dieser in einem der alten Volksviertel Kairos auf. Die beiden haben am eigenen Leib erfahren, was es heißt, arm, Kleinbürger, Beamter, aber auch Aufsteiger zu sein. Ihre Zusammenarbeit erreichte immer dann einen Höhepunkt, wenn die kleinen Leute und ihr Drama sowie ihre Verquickung mit der Politik beschrieben wurden. Wagten sie sich aus diesem Milieu, wurden sie schnell ungenau und flach.

Als erster realistischer Film ihrer fruchtbaren Verbindung entstand 1952 El usta Hassan (Meister Hassan). Der Arbeiter Hassan lebt in Bulaq, dem ärmlichen Quartier, in dem auch Salah Abu Seif groß geworden ist. Zamalek, das Viertel der Reichen, ist nur einen Katzensprung entfernt, und hierhin wird Hassan gerufen, um verschiedene Reparaturen bei einer reichen Dame auszu­führen. Sie ist beeindruckt von seiner Ursprünglichkeit und Kraft, verführt ihn und bietet ihm nun ein Leben in Saus und Braus. Doch schon bald wird ihm eine bittere Lektion erteilt: Die Dame ist gelangweilt und nimmt sich einen neuen Liebhaber.

In Raiya wa Sekina (Raiya und Sekina, 1953) locken zwei skrupellose Frauen reiche Damen zu sich nach Hause, berauben und ermorden sie. Schabab imra’ (Jugend einer Frau, 1955) beschreibt die Geschichte eines jungen, armen Mannes vom Land, der von seiner attraktiven Vermieterin, einer reichen, schö­nen Witwe, verführt und sexuell ausgebeutet wird. Diese frühen Filme bestechen durch die echte Milieuschilderung, das hervorragende Spiel der Schauspieler, den packenden Aufbau. Doch eine andere Lösung als die, daß der Bösewicht fallen und der Arme, will er glücklich werden, zu seinen guten Wurzeln zurückfinden muß, bot Abu Seif nicht. Und Nagib Mahfuz, der in seinen Ro­manen weder Rücksicht auf die Zensur noch auf kleinbürgerliche Moralisten nimmt, paßte sich als Drehbuchautor den Vorstellungen des Filmemachers an. So blieb der Realismus im Ansatz stecken.

Zur selben Zeit, in der Salah Abu Seif und Nagib Mahfuz ihre ersten Filme drehten, tauchte ein neuer Name im Filmgeschäft auf: Yussef Chahine. Er war nicht zufällig zum Film gekommen. Als Jugendlicher galt er unter seinen Freunden als kinoverrückt, und im Schultheater des Victoria College in Alexandria tat er sich schauspielerisch hervor. Als Hamlet gefiel er den Amerika­nern so gut, daß er ein zweijähriges Stipendium am Pasadena Playhouse in Kali­fornien erhielt. Nach seiner Rückkehr 1950 verdingte sich Chahine allerdings nicht als Schauspieler, sondern drehte knapp 24jährig seinen ersten Spielfilm.

Aus dem ägyptischen Hobbyfilmbetrieb der zwanziger Jahre war längst eine der hochentwickeltsten Filmindustrien der Welt geworden, die ihre Produkte (rund fünfzig Filme pro Jahr) in den gesamten arabischen Raum lieferte. Initia­tive Filmemacher fanden leicht Arbeit, und Chahine drehte nun pro Jahr min­destens einen Film. Ungezwungen und fast unbedarft probierte er zunächst die gängigen Genres der fünfziger Jahre aus: Melodrama, Musikfilm, Komödie. Erst der Psychothriller Bab el hadid (Hauptbahnhof, 1958), in dem Chahine als Regisseur und Hauptdarsteller das Tabuthema Sexualität anging, hob sich deutlich von der ägyptischen Durchschnittsproduktion ab. Seinen eigentlichen Durchbruch im In- und Ausland als ambitionierter Filmemacher hatte er 1969 mit El ard (Die Erde). Jeder Ägypter kennt bis heute diesen Film über die Unter­drückung der Kleinbauern durch die reichen Feudalherren. Aufsehen erregte in Ägypten weniger das Thema als die lebendige, naturalistische Darstellung der Bauern, die nichts gemein hatte mit derjenigen der unbeholfenen Tölpel, die bis heute durch Ägyptens Fellachenfilme und -serien geistern.

Mehr und mehr begann Chahine nun das klassische, erstarrte Ägyptenbild aufzurütteln. So bilden die gekonnt dargestellten Episoden aus Ägyptens Geschichte (Anfänge des Monotheismus unter Echnaton, Saladins Krieg gegen die Kreuzritter, Bonapartes Ägyptenfeldzug oder der Zweite Weltkrieg) einen deutlichen Gegenentwurf zur europäischen und eurozentristischen Geschichts­schreibung. Chahines Bestandesaufnahme der Gegenwart wiederum zeigt mit ungewöhnlichen Dokumentaraufnahmen von Nassers Begräbnis, einem Kon­zert der berühmten Sängerin Umm Kulssum oder den Studentendemonstratio­nen während des Golfkrieges ein unbekanntes und gleichzeitig lebensnahes Ägypten. Was in der arabischen Welt heute immer mehr am wachsenden Funda­mentalismus zu scheitern droht, zieht sich wie ein roter Faden durch Chahines Werk: die Liebesbegegnung zweier Menschen, die sich nach allgemeiner Auf­fassung nicht lieben dürften oder sogar hassen müßten. In Eskindereiya leh? (Alexandria, warum? 1978) liebt eine Jüdin einen Araber und ein nationalisti­scher Ägypter einen englischen Soldaten, in Wedaan Bonaparte (Adieu Bona­parte, 1985) ein französischer General einen jungen Ägypter und in Yom es­sâdis (Der sechste Tag, 1986) ein junger Affendresseur eine zwanzig Jahre ältere Bürgersfrau. Im Aufprall, im Widerspruch und in ihrer Grenzüberschreitung wird die Liebesbegegnung für Chahine zum einzigen Heilmittel gegen Rassis­mus und Extremismus. Gerade damit hat er das scharfe Auge der Zensur, aber auch das der Fundamentalisten auf sich gelenkt. Kurz nach der Uraufführung seines vorletzten Films El muhâgir (Der Emigrant, 1994), einer Wiedergabe der Josefslegende, klagten extremistische Muslime und Christen Chahine an, »Propheten zu schmähen und Ägypter als Schwächlinge zu verunglimpfen«. Der Film, der in wenigen Wochen 750 000 Eintritte verzeichnete und schnell zum Publikumsliebling avancierte, wurde nach mehreren Prozessen mit einem definitiven Aufführverbot belegt. Nach Meinung des Filmemachers ist das ein deutliches Zeichen einer Zeit, in welcher der Fundamentalismus zunehmend an Stärke und Einfluß auf das tägliche Leben, die Politik und die Künste gewinnt. Den Kampf dagegen wird der mutige Filmemacher wohl kaum aufgeben: Sein neuster, in Cannes 1997 präsentierter Spielfilm Al massir (Das Schicksal) ist eine Hommage an den Philosophen Averroes, der bereits im mittelalterlichen Anda­lusien gegen einen absurden Fundamentalismus zu kämpfen hatte.

In den achtziger Jahren wurde eine neue Generation von Filmemachern aktiv: Ali Badrachan, Mohamed Khan, Chairi Bischara, Da‘ud Abdessaiyed und Atif el Taiyeb. Der Kritiker Ibrahim el Aris bezeichnete sie als »die Kinder von Salah Abu Seif«. Wie der große alte Filmemacher versuchten sie, realistisch zu filmen, Vergangenheit und Gegenwart kritisch zu beleuchten und zu analysieren und sich im traditionellen Sozialismus auf die Seite des Volks zu schlagen. Yussef Chahine wurde und wird zwar bewundert, übte aber mit seinem Internatio­nalismus und seiner kosmopolitischen Denkweise wesentlich weniger Einfluß auf die jüngeren Cineasten aus. Sie waren im abgeschlossenen Ägypten Nassers aufgewachsen, das damals zwar den Panarabismus predigte, sich aber als füh­rende Kulturträgerin nur wenig vom künstlerischen Schaffen des »maschrek« (»Osten«) und des »maghreb« (»Westen«) oder gar Europas beeinflussen ließ. Die festen Filmmuster, die sich seit den vierziger Jahren gebildet hatten, waren mit dieser konservativen Einstellung nur schwer zu durchbrechen.

Andererseits wagten sich die jungen Filmemacher vom Studio auf die Straße. Voller Ehrgeiz wollte man Städte und Gegenden entdecken, die filmisch bisher zu kurz gekommen waren. Ziel wurde, mit der Inszenierung des Alltags an Allerweltsorten der heutigen Wirklichkeit näherzukommen und so einen echteren Realismus zu schaffen. So spielten Mohamed Khans Filme rund um den Tahrirplatz im Zentrum Kairos (El harîf, Der Profi, 1983), auf den Schnell­straßen nach Alexandria (Ta’ir aala at-tarîq, Ein Vogel auf dem Weg, 1981) und in den langsam zerfallenden Vierteln unter Kairos Hochstraßen (Faris al me­dina, Der Stadtritter, 1991), Chairi Bischara drehte in Oberägypten (At-toq wal isswera, Halsband, Armband, 1986) und dann in Schobra, einem der dicht­besiedeltsten Viertel Kairos (Yom murr, yom helu, Ein bitterer Tag, ein süßer Tag, 1989), während Atif el Taiyeb mit Sauwa’ el otobis (Der Busfahrer, 1982) eine ungewöhnliche Bilderreise durch das Kairo im Morgengrauen und die nordägyptischen Städte Port Saïd und Damietta machte.

Ende der achtziger Jahre erregte Scherif Arafa mit der Komödie Al aqzam qua­dimun (Die Gnomen kommen, 1987) und ihrer Einbeziehung von Kleinwüch­sigen das Interesse der Kritik. Auch seine folgenden Filme befaßten sich mit Randgruppen, deren Probleme er auf komisch-phantasievolle und leichtver­daulich-politische Weise darzustellen wußte. Trotz aller Unkonventionalität blieb er aber bei der stereotypen Moral des ägyptischen Films, nämlich daß der Gute arm ist und der Reiche böse und der wirklich Gute lieber arm bleibt, als daß er sich und seine Loyalität den Reichen verkauft.

Diese Botschaft und ihre phantastisch-witzige Verfilmung waren es wohl, welche die Aufmerksamkeit des ägyptischen Superstars Adel Imam auf sich zogen. Der hochbegabte, 1940 geborene Schauspieler spielt seit Jahren erfolg­reich dieselbe Rolle, nämlich den naiven, armen good guy, der sich mutig gegen die Machenschaften der gemeinen Besitzenden durchzusetzen versucht. Adel Imam, sein Leibdrehbuchautor Wahid Hamid und Scherif Arafa wurden schnell zum erfolgreichsten Trio des neuen kommerziellen Films. Filme wie El laaeb maal kubar (Spiel mit den Großen, 1991), El irhab wel kabab (Terroris­mus und Kebab, 1992), El mansi (Der Vergessene, 1993) und Tuyur ez-zalam (Vögel der Dämmerung, 1995) sind alle nach demselben Prinzip aufgebaut, in dem sich die drei Macher perfekt ergänzen. Zur bewährten Moral kommt das glänzende Spiel Adel Imams, ein wenig aktuelle Politik (wie der terroristische Fundamentalismus oder die zunehmende Korruption) und gängige Situations­komik. Relativ gute Qualität der Kameraführung und der Ausleuchtung run­den die Filme ab und bescheren ihnen ein Millionenpublikum,

Nicht nur Scherif Arafa ist seit langem zum Publikumsfilm übergegangen. Die neuen Filme von Mohamed Khan und Chairi Bischara weisen heute alle Merk­male der Schnulze auf. Chairi Bischara meint zu seiner Verwandlung: »Die Ägypter müssen ermutigt werden. Wir haben genug Kritisches, Politisches gesehen; wir brauchen nun endlich positive, optimistische Filme.«

Während die ägyptischen Kritiker lange Jahre blind fast jeden neuen Film in den Himmel lobten und beleidigt waren, wenn sie im Ausland nicht beach­tet und ausgezeichnet wurden, tönt es heute anders aus den Zeitungen. Man trauert den früheren, ambitionierten Filmen nach, die vielleicht filmisch nicht perfekt waren, sich aber durch neue Inhalte auszeichneten, und sucht nach den letzten integren Filmemachern, die noch wagen, einen Film statt nur program­miert erfolgreiches Kino zu machen. Die Krise wird beschworen, und sogar das Idol Adel Imam scheint langsam von seinem Sockel zu kippen. Die Filmpro­duktion ist quantitativ seit langem zurückgegangen, doch noch nie so stark wie in den neunzigerJahren, nämlich auf rund 15 Filme pro Jahr. Produzieren war in den goldenen Anfängen einfach und billig, und zahlreiche gute Säle garan­tierten ein Stammpublikum. Die Gründe für den Niedergang sind zahlreich, als wichtigster gilt der Wandel im Produzenten- und Abnehmerbereich. In den letzten Jahren ist die ägyptische Filmproduktion stark unter den Druck der Golfländer geraten, die ausschließlich schnell fertigzustellende, äußerst simple Filme mit bestimmten Stars wünschen und die dazu notwendigen finanziellen Mittel besitzen. Natürlich sind in diesen Filmen auch nur die leisesten Andeutungen von Sexualität, Religion und Politik verboten, und sie werden nach den banalsten Mustern der Filmtradition gedreht.

Wer sich nicht davon einnehmen lassen will, muß sich beizeiten einen anderen Geldgeber suchen. Das gelingt jedoch nur denjenigen, die sich bewußt vom klassischen Modell des ägyptischen Kinos wegbewegen und individualistische und qualitativ hochstehende Filme schaffen. So Yussef Chahine, der durch sei­nen Kosmopolitismus einerseits und seine originelle Arbeit andererseits auf die Koproduktion Frankreichs zählen kann. Für das Gros der ägyptischen Regis­seure ist das jedoch nicht möglich. Sie versuchen zwar, an irgendeinem inter­nationalen Filmfestival entdeckt zu werden, doch ebenso wird der Ruf nach einheimischer Unterstützung immer lauter. Das Kulturministerium, dem das Filmschaffen und die Kinos unterstehen, hat ihn bisher jedoch diskret über­hört. Zwar wurden einige der großen Kinosäle in Kairo renoviert, trotzdem hat sich ihre Zahl im ganzen Land auf 150 verringert, während die Bevölkerung auf 60 Millionen angewachsen ist. Die Zensur, die von Anbeginn an den Film­schaffenden gerne und häufig Steine in den Weg legte, ist kaum mit der Zeit gegangen und hält an scheinbar uralten Normen fest. Bis das Filmschaffen in Ägypten als Kunst und nicht als seichte Unterhaltung oder als potentieller An­zettler von Demonstrationen oder gar Revolten angesehen wird, ist es wohl noch ein weiter Weg.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist eine Handvoll »jüngerer« Cineasten, die trotz aller Widrigkeiten anderes, experimentelles Kino machen. »Jüngere« steht deshalb in Anführungszeichen, weil sie beinahe alle die Vierzig überschritten haben und kaum mehr als ein oder zwei Filme gedreht haben, da sie noch mehr als die konventionellen Filmemacher unter chronischem Geldman­gel und der Zensur leiden. Zu ihnen gehören Yussri Nassrallah, der seit langen Jahren treuer Regieassistent von Yussef Chahine ist und bisher zwei Filme (Sariqat seifeiya, Sommerdiebstähle, 1988, und Marsidis, Mercedes, 1993) gedreht hat, die Regisseurin Asma el Bakri (Schahazun wa nobala, Gohar, der Bettler, 1991) und Zaki Fatin Abdelwahab, dessen Film Romantîca (Romantica, 1996) wegen Schwierigkeiten mit der Produzentin nie zu Ende gedreht, aber dennoch von begeisterten, befreundeten Filmschaffenden fertiggeschnitten wurde und am Festival von Alexandria sämtliche Preise einheimste.

Ihre Filme ähneln sich kaum, haben allerdings Originalität und Entstehungsweise gemeinsam. Die drei Regisseure haben sich bewußt vom Starsystem abgewandt und engagieren den Produzenten zum Trotz lieber Freunde oder Leute von der Straße. Gemein ist ihnen auch die Weitläufigkeit und Vielspra­chigkeit, eine tiefe Kenntnis des internationalen Filmschaffens und die langjäh­rige Erfahrung als Regieassistent bei den großen Filmemachern. Dies scheint eine gesunde Basis für die echte Erneuerung des ägyptischen Filmschaffens zu sein.

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu Islam und Bilderverbot: Im Koran wird kein Bilderverbot erwähnt. Auch der Prophet Mohamed hat nie ausdrücklich etwas gegen Bilder oder Malerei gesagt, hat aber zum Sturm gegen die alten Götzenbilder aufgerufen. Durch die Scharia, das islamische Recht, wurde später jedoch - aufgrund von überlieferten Äußerungen des Propheten Mohamed - das Abbilden von Gon und den Propheten streng untersagt. Manche Interpreten weiteten das Ver­bot auch auf das Abbild des Menschen aus, weil diese von Gort geschaffen sind. In den Moscheen - praktisch die einzigen Orte, die man kunstvoll verzieren wollte - wich man deshalb auf abstrakte Dekorationsformen aus. Zeitweise wurden allerdings die Überlieferungen des Propheten und die Weisungen der Scharia als absolutes Bilderverbot interpretiert. Als Ende des letzten Jahrhunderts die Photographie und der Film aufkamen, stellte sich die Frage nach dem Bilderverbot erneut. Der damalige Mufti und Großscheich der Azhar, Mohamed Abduh, erließ daraufhin eine 􀀥Fatwa•, ein religiöses Rechtsgutachten, das sowohl die Photogra­phie als auch den Film gestattete. Mohamed Abduh galt und gilt als der wichtigste und berühmteste Großscheich und außerdem als Erleuchteter. Wohl deshalb ist diese Fatwa seither nie angefochten worden. Allerdings ist die Darstellung eines Propheten und auch die seiner Angehörigen in einem Film rigoros verboten.

Kristina Bergmann
geb. 1953, Studium der arabischen Sprache an der American University in Kairo, lebt seit mehreren Jahren in Kairo und ist als Korrespondentin für die NZZ tätig, u.a. Autorin von Filmkultur und Filmindustrie in Ägypten (Darmstadt 1993).
(Stand: 2018)
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