RUEDI WIDMER

MUMIEN DER VERÄNDERUNG — BAZIN MEETS CLOUZOT MEETS PICASSO

ESSAY

»Zavattini träumt von nichts anderem, als po Minuten aus dem Leben eines Mannes zu filmen, dem nichts passiert!«

— André Bazin, »L'évolution du langage cinématographique«

»Um zu erfahren, was im Kopf eines Malers vor sich geht, brauchen wir nur seiner Hand zu folgen. Sie werden sehen, wie außergewöhnlich das Abenteuer des Malers ist. Er läuft, er gleitet im Gleichgewicht über das gespannte Seil. Eine Kurve nach der linken Seite, ein Tupfer nach der rechten. Wenn er sein Gleichgewicht verliert, bricht alles auseinander. Wie ein Blinder tastet sich der Maler durch die Dunkelheit der weißen Leinwand, Das Licht, das langsam ent­steht, schafft der Maler paradoxerweise, indem er immer mehr Schwarz auf­trägt. Zum ersten Mal spielt sich das tägliche innere Drama des schöpferischen Blinden vor aller Augen ab. Denn Picasso ist bereit, es hier zu leben, vor Ihnen und mit Ihnen.«

Henri-Georges Clouzot filmt Pablo Picasso. Der Film stammt aus dem Jahr 1956, er heißt Le mystère Picasso (Henri-Georges Clouzot, F 1956). Was die obige Präambel als Off-Stimme ankündigt, ist nichts weniger als die Enthüllung des kreativen Prozesses schlechthin. Picassos Genius erscheint persönlich auf der zweidimensionalen Bühne seiner Leinwand, macht Striptease und Salto mortale zugleich.

Während im Off vom »Gleiten über das gespannte Seil« die Rede ist, sieht man den einsamen kreativen Helden mit nacktem Oberkörper vor der Lein­wand sich positionieren, Auge in Auge mit der Möglichkeit des Scheiterns und Gelingens, scheinbar ohne ein Zurück. Picasso hat es in der Hand. Er ist der Akteur, der sich investiert. Er spielt, obwohl nicht live im eigentlichen Sinn, eine Art von »Wetten daß ...?«. In einer späteren Szene zählt Clouzot als Zere­monienmeister einen Countdown in Filmmetern und Sekunden, während der dadurch sichtlich motivierte Meistermaler sein als Skizze angekündigtes Werk in Farben einzuholen versucht. All das funktioniert als Kunststück mit Ansage: »Picasso ist bereit, es hier zu leben, vor Ihnen und mit Ihnen.«

Dann verschwindet der Maler hinter die Bildfläche. Seine transparente Leinwand füllt, von der Rückseite her aufgenommen, beinahe während der ge­samten Filmdauer diejenige des filmischen Bildes. Beim Entstehen einer ersten Arbeit hört man noch die Geräusche des Malgeräts. Die weiteren »Malsequen­zen« begleitet Musik von Georges Auric. Claude Renoirs Kamera läuft. Oder läuft nicht. Das reine »On« und »Off« der auf die Ebene der Leinwand fixierten Aufnahmeapparatur soll einlösen, was der gloriose verbale Trommelwirbel ein­leitend versprach: Eine sich langsam mit Punkten, Linien und Flächen füllende Leinwand enthüllt einer im Kino versammelten Menge das kreative Geheimnis des Künstlers hinter der weißen Wand – Le mystère Picasso.

Im selben Jahr wie der Film erschien in den Cahiers du cinéma ein Aufsatz von André Bazin mit dem Titel »Un film bergsonien: >Le mystère Picasso<«. Der Aufsatz bringt Clouzots Vorgehen und Anspruch weitgehend auf den Punkt, zugleich aber Bazins eigene Philosophie ins Spiel. Bazin macht damit einen Film, der im engeren Sinn nicht realistisch ist, zum Demonstrationsobjekt sei­ner realistischen Thesen. Im Zentrum von Bazins filmischen Reflexionen steht Live-Action: die filmische Photographie einer vor der Kamera »laufenden «, in ihrer Materialität und Zeitlichkeit nichtsynthetischen Welt mit handelnden Per­sonen. Die Malsequenzen von Le mystère Picasso zeigen demgegenüber weder »wirkliche« Menschen noch »wirkliche« Welten, noch eine »wirkliche« Hand­lung. Die einzige unmittelbar sichtbare Oberfläche ist die unbefleckte Rück­seite der Leinwand Picassos. Sie vermittelt wohl die Bewegungen des Akteurs, den sie aber zugleich verdeckt, um die Entstehung seiner Figuren und Bilder ins Licht zu setzen. Der Unterschied zu einer gezeichneten oder gemalten Anima­tion besteht somit einzig im Laufen der Kamera, der konkreten Zeitlichkeit des »langsam entstehenden« Bildes.

Weil Bazin Le mystère Picasso dennoch als Exempel für Realismus nimmt, wird der Aufsatz zwangsläufig zu einer Untersuchung über nichtsynthetische Zeit im Medium Film. Mehr noch: Er stellt den Versuch dar, Bazins Vorstellung realistischer Zeitlichkeit als wahre Bestimmung des Mediums von syntheti­schen Formen der filmischen Zeit abzugrenzen. Darin hat er auch seine Aktua­lität. Heutige Debatten über den »Wirklichkeitsverlust« computergenerierter Bilder kreisen um Grundannahmen des filmischen Realismus, die Bazin nicht nur mit viel Resonanz propagiert, sondern auch außerordentlich genau durch­dacht hat.

Bazin versteht Le mystère Picasso nicht als dokumentarischen oder pädago­gischen Film im engeren Sinn, sondern als erzählerische Leistung, als »Spekta­kel«, als »wahren Film«. Den Ausschlag dafür gibt die Art und Weise, wie Clouzots Werk in zeitlicher Hinsicht gestaltet ist. Bazin unterscheidet zwi­schen der in der Kamera aufgenommenen »realen« oder »konkreten Zeit« und einer »abstrakten Zeit«, welche den eigentlichen Film prägt und zum dramati­schen Erlebnis macht. Dabei ist abstrakte Zeit so etwas wie ein Gefäß oder Transportmittel für konkrete Zeit. Die ungeschnittene Einstellung ist das Fun­dament von Bazins Theorie des zeitlichen Realismus und mithin dessen, was er hier unter einem »Spektakel« oder »wahren Film« versteht. Im Clouzot-Auf­satz unternimmt Bazin den Versuch, die zentralen dramatischen Dimensionen der Kinoerfahrung in der konkreten Zeit oder Dauer, der »zeitlichen Struktur der 24 Bilder pro Sekunde« zu begründen.

Die eigentliche »Handlung« von Clouzots Werk, so Bazin, besteht in der »Aufnahme der Freiheit des Geistes« (»appréhension de la liberté de l'esprit«), die im Malen Picassos sinnlich wahrnehmbar wird. Le mystère Picasso verkör­pert demnach die »Evidenz, daß diese Freiheit Dauer ist«. Die Freiheit bzw. Dauer zeigt sich konkret auf Picassos Leinwand. Sie braucht nur noch photo­graphisch aufgenommen zu werden: »Statt von unbeweglichen Zeichnungen auszugehen, welche die Projektion durch optische Täuschung in Bewegung bringt, existiert die Leinwand vorgängig als Bildschirm; es genügt, sie in ihrer realen Dauer zu photographieren.« Möglich ist dies deshalb, weil Picassos Malen schon seinem Wesen nach zeitlich und somit kinematographisch ist. Es enthält »Warten und Ungewißheit im Reinzustand« sowie, damit verknüpft, Spannung: »Das ganze Prinzip des Films als Spektakel und sogar, präziser, als >Spannung< liegt in diesem Warten und in dieser ständigen Überraschung.«

Das gilt für den malenden Picasso genauso wie für den jagenden Nanook in Flahertys Nanook of the North (USA 1922), den Bazin in der Studie »L’évolution du langage cinématographique« in ähnlicher Weise beschreibt. »Was für Flaherty angesichts des die Robbe jagenden Nanook zählt, ist das Verhältnis zwischen Nanook und dem Tier, die reale Länge des Wartens. Die Montage könnte die Zeit suggerieren; Flaherty beschränkt sich darauf, uns das Warten zu zeigen; die Dauer der Jagd ist die eigentliche Substanz des Bildes, sein verita­bler Gegenstand.« Der Kontext dieser These ist die Beschreibung des Kinos als Sprache, deren Gehalt und Plausibilität via Kamera an die gefilmte Welt gebun­den ist. Die Stärken und Regeln filmischer Sprache à la Bazin rühren allesamt aus dem Mitgehen einer Kamera mit einer Welt – sei diese erfunden oder vor­gefunden. Sie gründen in der Unbestimmtheit, Ambivalenz und Reichhaltig­keit einer Entwicklung. Die Kamera öffnet sich zuallererst nach »vorn«, in Richtung der Zukunft. Darin liegt die primäre Tiefe ihres Bildraums.

Diese zeitliche Offenheit des Mediums Film konvergiert im Clouzot-Auf­satz mit der zeitlichen Offenheit des Schaffens von Picasso, der »Freiheit des Geistes« (dem »schöpferischen Blinden« in Clouzots Präambel). Sie ermöglicht den existentiellen Charakter des Experiments und der Erfahrung, die Clouzot via Picasso zugänglich machen will. Der eigentliche Gehalt des Films liegt dem­nach in seiner »realen« Zeitlichkeit. Er verdankt sich der mitlaufenden Kamera, dem für Bazin einzigen denkbaren Mittel, Dauer als solche zu konservieren, zu transportieren und damit zu emanzipieren.

Die dramatische Kerngröße, in der sich die Authentizität der aufgenommenen Dauer mit den Anforderungen des Spektakels trifft, ist das Ereignis. Die lauernden Picasso und Nanook korrespondieren mit einem beweglichen »Et­was«, das sie auf je eigene Weise fassen, verfolgen oder bannen wollen. Im fil­misch aufgenommenen Warten birgt sich die Ankündigung oder Möglichkeit,daß dieses Etwas kommen wird. Es soll auftauchen aus der Unbestimmtheit der unmittelbaren Zukunft, aus einem raumzeitlichen Block im Gesichtswinkel der Kamera. Es soll sich abzeichnen. Dann soll es festgehalten werden, vor und in der Kamera. Schließlich soll es kommen, noch einmal oder erst recht, nämlich vor »aller Augen«, wie jedes in Film oder als Film gepackte Ereignis.

In »L'évolution du langage cinématographique« spricht Bazin vom Neorealismus und der »Sorge, die Totalität des Ereignisses zu umfangen«. Schon diese kurze Formulierung deutet darauf hin, daß das Ereignis vor der Kamera weitgehend ein Ereignis für die Kamera ist. Bazin hat kein Problem damit, daß gefilmte »Ereignisse« üblicherweise vorbereitet, geplant, gestaltet und wieder­holt, kurz: inszeniert werden. Er weiß, daß die Kamera genauso wie der Speer oder der Pinsel dazu dient, Ereignismomente aus der Tiefe der Raumzeit her­ auszuheben oder gar herauszulösen. Was ihm vorschwebt, ist nicht der Verzicht darauf, sondern das substantielle Herein- und Mitnehmen der Dauer in das Ereignis. Wenn die Zeit am »ursprünglichen Ereignis« das einzige ist, was tatsäch­lich ins Kino hinübergerettet werden kann, dann soll der Transfer möglichst ohne Verlust vonstatten gehen. In den Augen des Realisten kommt die veritable Dramatik des Films erst dann zustande, wenn die Kamera als Aufnahmegerät des raumzeitlichen Ganzen eines Ereignisses voll greift.

Der Film bildet in dieser Hinsicht die »Vollendung in der Zeit« der photographischen Objektivität, die Bazin in »L'ontologie de l'image photographique« umreißt. Photographie ist die Möglichkeit, der Vergänglichkeit der Dinge blei­bende Eindrücke abzuringen, die als Abdrücke geschildert werden: »Die Exi­stenz des photographierten Gegenstandes hat [...] an der Existenz des Modells teil wie ein Fingerabdruck«. Vom Kino spricht Bazin im selben Kontext nur sehr kurz. Die Ambivalenz der Begriffe »Moment« und »Dauer«, die Gespal­tenheit ihrer Bedeutung zwischen Beständigkeit und Vergänglichkeit wird nicht analysiert. Sie scheint aber auf – am prägnantesten im folgenden Satz, der das Kino als bildergeschichtliche Premiere feiert; »Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, gleichsam die Mumie der Veränderung.«

Die Botschaft ist komplex, hat aber einen deutlichen Kern. Es geht um die Aufwertung der Zeitlichkeit des »Dings« im filmischen Bild. Wenn Bazin sich über Le mystère Picasso begeistert äußert, dann wohl hauptsächlich deshalb, weil Clouzot diesen Gedanken am Gegenstand der Malerei filmisch ausführt.

Das wird plausibler, wenn man Bazins Äußerungen über den zeitlichen Charakter der Malerei näher betrachtet. In »L'ontologie de l'image photogra­phique« beschreibt er die barocke Malerei in ihrem Anspruch auf Wiedergabe der Welt als »Krampfzustand«, als »geplagte Immobilität«, die durch die Exi­stenz des Kinos hin zur Bewegung befreit (und dadurch zugleich überflüssig gemacht) worden sei. Auch einer nicht realistisch ausgerichteten Malerei kann aber filmisch »geholfen« werden. Erst das Kino bzw. Clouzots Film, so einer der Hauptgedanken in Bazins Aufsatz, bringt den Prozeßcharakter der Male­rei voll ins Bild. Statt nur Momente festzuhalten, wie es Bazin der Photographie zuschreibt, öffnet die »Mumie der Veränderung« das Werk auf die in ihm steckenden Metamorphosen. Der Film reanimiert die Malerei.

Er tut das nicht im synthetischen Bild-für-Bild der auf »optische Täuschung« angewiesenen Animation, sondern als lebendiges Medium. Noch ein­mal: »Statt von unbeweglichen Zeichnungen auszugehen, welche die Projek­tion durch optische Täuschung in Bewegung bringt, existiert die Leinwand vorgängig als Bildschirm; es genügt, sie in ihrer realen Dauer zu photographieren.« Die bildende Kunst, die traditionellerweise das abgeschlossene und blei­bende Werk pflegte und beleuchtete, wird so in ihre Zeitlichkeit zurückgeholt. Die Vollendung als Fluchtpunkt des Kunstwerks nähert sich der Dauer der Entstehung, hier: dem Ereignis »Picasso«, das der Film auf- und mitnimmt.

Was Clouzot vor seiner Kamera positioniert, was er als Zeit des Malens in die Zeit des Films hinüberrettet, ist aber nicht nur ein exemplarisches Ereignis. Es ist, in Bazins katholisch-vitalistischen Augen, der Inbegriff des lehendigen Phänomens.

Schon der Titel des Aufsatzes läßt darüber keine Zweifel offen. Die Philosophie Henri Bergsons und das Label »bergsonien« stehen für die Aufwertung der globalen Erfahrung eines animierten Universums gegenüber dem positivi­stischen Herauslösen von Tatsachen aus dem zeitlichen Kontinuum. Bazins Realismus hat darin einen seiner wesentlichen Hintergründe.

Das Geschehen läßt sich demnach aufnehmen, aber nicht ganz und gar fassen. Der allererste Satz von Bazins Text radiert die Botschaft in Clouzots Prä­ambel aus: »Als erste Beobachtung drängt sich auf, daß >Le mystère Picasso< nichts erklärt.« Wenn es in Clouzots Film etwas zu lernen gebe, so Bazin, dann die Erkenntnis, daß die Betrachtung eines Künstlers bei der Arbeit keineswegs den Schlüssel zu dessen Kunst vermittelt, und schon gar nicht zu dessen Genie. Picassos Bilder entwickeln und enthüllen im Film sich selbst und sonst gar nichts. Jeder Strich ist »eine Schöpfung, die eine andere nach sich zieht, nicht in der Art, wie eine Ursache eine Wirkung zeitigt, sondern wie aus dem Leben das Leben entsteht«. Denn: »Da ist kein Strich, kein Farbfleck, der nicht in absolut unvorhersehbarer Weise erscheint.«

Bazin fügt hinzu: »Erscheinen ist das treffende Wort.« Tatsächlich: Clou­zots Dispositiv stellt die Leinwand des Malers so in den Raum, daß sie aus der Sicht der Kamera effektvoll verdeckt, was in Bazins Augen eh nicht zu enthül­len ist – die eigentliche Quelle und Logik des Geschehens, des entstehenden und vergehenden »Lebens«. Auch bei Flaherty findet der Todeskampf der von Nanook harpunierten Robbe jenseits der »Bildfläche« statt (unter dem Eis). Ihr Leben hängt am »Faden« des Jägers, der Verbindung zwischen dem sichtbaren »Diesseits« (seinem Lebensraum) und dem verdeckten »Jenseits« (ihrem Le­bensraum).

Im Setting Picasso/Clouzot ist die unterschwellige Theologie dieser Ver­teilung zwischen Tod und Leben, zwischen Verschwinden und Erscheinen noch deutlicher. Hinter dem Fluß der Farben auf der Bildebene hockt hier der Genius des Schöpfers selbst. Indem Picasso das Wunder des Werdens von der eigenen auf die Kinoleinwand durchscheinen läßt, vermittelt er: Die Zeitlich­keit ist mehr als eine bloße Rampe zum Erreichen eines finalen Zustandes. Sie ist eine Fülle, ein Kontinuum, ein Reichtum in sich selbst.

Bazin geht nicht näher darauf ein, daß Picasso über den Prozeß hinaus im­mer mit eigentlichen Zuständen befaßt ist (»les tableaux sous les tableaux«). Die »Mumie der Veränderung« ist für ihn eine Erfüllung, nicht ein Problem. Er er­lebt in ihr die globale Belebung und Aufwertung der Zwischenzeit gegenüber dem Moment als Monument: »In >Le mystère Picasso< sind die Zwischenstadien nicht untergeordnete und minderwertige Realitäten, wie etwa der Weg zu einer schließlichen Fülle; sie sind schon das Werk selbst, aber bestimmt dazu, sich zu verschlingen, oder eher: zu verwandeln, bis zu dem Moment, wo der Maler aufhören will.«

Die realistische Vision kulminiert in der folgenden Passage: »Nur das Kino konnte das Problem auf radikale Weise lösen, die groben Annäherungen des Diskontinuierlichen weiterbringen zum zeitlichen Realismus der kontinuier­lichen Sicht; endlich die Dauer selbst zu sehen geben.«

Just darin ist freilich Clouzots Film nicht wiederzuerkennen. Ein »zeitlicher Realismus« läßt sich in Le mystère Picasso nur dann ausmachen, wenn man die »kontinuierliche Sicht« – entgegen Bazins Beschreibung – von der konkreten Zeit des »ursprünglichen Ereignisses« abstrahiert.

Clouzots Film ist ein Patchwork von Ausschnitten, eine eigentliche Orgie des jump cut. Die Bewegung der Hand Picassos wird zwar vermittelt, ebenso oft sieht man aber reine »Zwischenstände« in einer sprunghaften Abfolge. Mit­unter verändert sich ein Bild an mehreren Stellen zugleich, und an einem Ort kehrt Clouzot die Zeitachse sogar um. Generell koexistiert die dramatische Zeit einer Musik mit der Zeit eines malerisch dargestellten Raums, der Rhyth­mus der Montage mit demjenigen einer Drehsituation (die im übrigen schon als solche von Clouzot – der sich selber spielt – vor der Kamera inszenierend und materialsparend gestrafft wird).

Bazin scheint nichts davon entgangen zu sein: »Ich weiß sehr wohl, daß einige hier protestieren und sich entrüsten werden über die Freiheiten, die sich Clouzot augenscheinlich im Umgang mit der Zeit des künstlerischen Schaffens herausgenommen hat. Ich höre, wie gesagt wird, er hätte nicht das Recht ge­habt, beim Schnitt das Entstehen der Bilder zu >beschleunigen< und dabei zu jonglieren, um die Zeit des ursprünglichen Ereignisses zu modifizieren. Zwar verdient dieses kühne Unterfangen eine Diskussion, Ich werde es indessen rechtfertigen.«

Das Ausmerzen von toter Zeit (»temps morts«) und Überlängen (»durées longues«) ist für Bazin kein unannehmbarer Trick: »Man muß unterscheiden zwischen Trick und Fälschung.« Was Clouzot diesbezüglich von vornherein unverdächtig macht, ist der Umstand, daß er uns ganz offensichtlich nicht zu täuschen sucht: »Nur den Zerstreuten, den Dummköpfen oder denen, die nichts vom Kino wissen, können die montagebedingten Beschleunigungseffekte ent­gehen.«

Dann führt Bazin die beiden Typen der Zeit bzw. Dauer ein: »Schließlich und vor allem muß man radikal unterscheiden zwischen der Zeit der Montage und derjenigen der Aufnahme. Die erstere ist abstrakt, intellektuell, imaginär, dramatisch [>spectaculaire<]; nur die letztere ist konkret. Das ganze Kino beruht auf der freien Stückelung der Zeit durch die Montage, doch jedes Fragment des Mosaiks bewahrt die realistische zeitliche Struktur der 24 Bilder pro Sekunde. Clouzot hat sich davor gehütet – und man kann ihn dazu gar nicht genug be­glückwünschen –, uns Blumenteppiche wie in den Vegetationen wissenschaft­licher Zeitrafferfilme zu bescheren. Aber er hat als Regisseur die Notwendig­keit einer dramatischen Zeit verstanden und gespürt, indem er die konkrete Dauer zu seinen Zwecken gebrauchte, ohne sie allerdings zu entstellen.«

Im Ganzen gleicht der Gedankengang einem unverhüllten Taschenspieler­trick. »Vor den Augen« des lesenden Publikums läßt der Theoretiker die kon­krete Zeit zur dramatischen werden, das vorfilmische Ereignis zu demjenigen des Films (»Es genügt, sie in ihrer realen Dauer zu photographieren«). Er macht glauben, beides sei der Substanz nach identisch – und läßt wissen, daß dem nicht so ist (»Schließlich und vor allem muß man radikal unterscheiden zwischen der Zeit der Montage und derjenigen der Aufnahme«). Das Verfahren entspricht demjenigen von Clouzot. Der Zuschauer/Leser projiziert die »ima­ginäre« Zeit des Spektakels in die »reale« Zeit des »ursprünglichen Ereignisses« zurück. Daß es sich dabei nicht um dasselbe handelt, weiß er wohl, wie Bazin. Dieser tut also dasselbe wie das von ihm beschriebene realistische Kino. Er gebraucht die konkrete Dauer zu seinen Zwecken.

Ohne sie allerdings zu entstellen. Clouzot jongliert zwar im Raum der ima­ginären Dauer; er jongliert aber mit lauter konkreten Zeit-Stücken: »Die Aufnahmen wurden tatsächlich immer in 24 Bildern pro Sekunde ausgeführt.« Darin liegt für Bazin die grundlegende Unverfälschtheit von Le mystère Picasso. Der Transfer wird beglaubigt durch die Kamera, deren erste und wichtigste Eigenschaft gemäß »L'ontologie de l'image photographique« in der Autonomie ihres Funktionierens besteht. Die menschliche Hand ist ausgespart und kann somit nicht fälschen.

Wo sie es dennoch tut, befindet sie sich zwangsläufig auf dem Terrain der Montage, zumal wenn Bazin diese wie in »L'évolution du langage cinématographique« eindeutig als Manipulation begreift, etwa im Konzept des »zeit­lichen Realismus eines Kinos ohne Montage«. Neben dieser Sichtweise bleibt »Montage« aber auch die globale Bezeichnung für eine Konstante filmischer Gestaltung (»Das ganze Kino beruht auf der freien Stückelung der Zeit durch die Montage«) und das spezifische Verfahren, welches dramatisierend mit »kon­kreter Zeit« umgeht, ohne diese zu entstellen. Die letztgenannte Konzeption der Montage geht weit über den Filmschnitt hinaus. Sie schließt alle Gestal­tungsmittel ein, die »konkrete Zeit« dramatisierend aus der vorfilmischen in die filmische Sphäre hinüberretten können.

Dazu gehört Clouzots Umgang mit den Zeit-Stücken von Le mystère Picasso – auch wenn deren »konkrete Zeit« oft einzig darin zu erkennen ist, daß Picassos Leinwand unverändert auf derjenigen Clouzots im1/24-Sekunden-Takt vibriert. Es läßt sich daraus wohl die »Ursprünglichkeit eines Ereignisses« er­schließen – unmittelbar sehen oder erleben kann man sie nicht. Die Ambivalenz der Zeitlichkeit zwischen dem konkreten Ereignisraum und dem imaginären Vorstellungsraum erzwingt in der Theorie Bazins die Ambivalenz der Begriff­lichkeiten rund um die Montage und die Dauer. Zum einen liegt das daran, daß Bazin die reale Dauer als konkrete Substanz des dramatischen Erlebens nicht preisgeben mag. Zum andern ist es Ausdruck einer Vertrautheit mit der Künst­lichkeit filmischer Zeit, die er mit Clouzot und Picasso teilt.

Im Film sagt Picasso nach der langen Sequenz über das »Ziegenkopf«-Bild zu Clouzot:

»Das lass' ich so.«

»Etwas stört mich. Das Publikum wird denken, du hättest das in zehn Minuten gemacht.«

»Wie lange habe ich gearbeitet?«

»Fünf Stunden.«

»Nun, dann wissen es jetzt alle.«

André Bazin, »Ontologie de l'image photographique«, erstmals publiziert 1945 in Problèmes de la peinture.

André Bazin, »L'évolution du langage cinématographique«, in einer ersten Fassung publiziert in Cahiers du cinéma 1 (1950).

André Bazin, »Un film bergsonien: >Le mystère Picasso<«, erstmals publiziert in Cahiers du cinema 60 (1956), S. 193-202.

André Bazin, Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975.

Zitierte Passagen übersetzt von Ruedi Widmer, nach Qu'est-ce que le cinéma: Edition définitive, Paris 1975.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]