Ändert sich eigentlich etwas, wenn die Linke regiert? Was den Film betrifft, ja, jedoch langsam und mit der Schwerfälligkeit einer Situation, die sozial homogen bleibt. Als Pier Paolo Pasolini vor vielen Jahren einen Prozeß der Nivellierung (»Homologisierung«) feststellte, wußte er, wovon er sprach. Er rechnete jedoch nicht mit dem Beharrungsvermögen und dem Widerstand der »Stämme«, der Regionen und Korporationen innerhalb dieses Prozesses.
Selbstverständlich sind die stärksten Regionen und die mächtigsten Korporationen diejenigen, die in der politischen Auseinandersetzung am lautesten zu vernehmen sind. Die Regierung ist gezwungen, zwischen diesen verschiedenen Gruppierungen zu vermitteln und ihre Interessen ja nicht etwa zu übergehen. Und wenn auch die Rechte andere Regionen und Korporationen vertritt als die Linke, so bleiben die Möglichkeiten jeder Politik - ganz gleich welcher Ausrichtung - beschränkt, wenn es ums Erneuern und Verändern geht. Und das ist nicht nur in Italien so, auch wenn hier eine besondere Erregung, ein chaotisches und überlautes Zurschaustellen und - sagen wir es offen - eine zunehmende Kulturlosigkeit neuer sozialer Schichten es fertiggebracht haben, die ihnen gemäßen politischen Vertreter hervorzubringen und damit dem politischen und kulturellen Leben neue Formen der Vulgarität zu erschließen, die mitunter diejenigen, die das Ganze aus einer gewissen Distanz betrachten, in nicht geringe Verlegenheit bringen.
Dasselbe geschieht auch in der Filmbranche. Die Regierung der Rechten schreckte jene Gruppen auf, die noch die alten Vermittlungsformen gewohnt waren, so wie sie sich seit der Nachkriegszeit zwischen Katholiken einerseits, Sozialisten und Kommunisten andererseits eingespielt hatten und als »historischer Kompromi߫ zuerst in den kulturellen Institutionen realisiert worden waren. Einer ihrer ersten großen Akteure war Cesare Zavattini. Die Aufkündigung des Kompromisses hatte Folgen. Gegen den gemeinsamen Feind (Silvio Berlusconi, Gianfranco Fini) formierte sich eine Gruppe, die aus Alten und Jungen bestand, aus Personen, die einem konventionellen Kino verpflichtet waren, und solchen, die neu und innovativ sein wollten. Heute nun, unter der Mitte-links-Regierung von Romano Prodi und dem Vizepräsidenten Walter Veltroni von der Partito Democrático della Sinistra, der den Ehrgeiz hat, Kulturminister* zu werden (ein Ministerium, das bisher nicht existierte, nicht zuletzt weil es in Italien die schlechten Erinnerungen an das Ministero della cultura popolare, kurz Minculpop, aus den Jahren des Faschismus heraufbeschwor), läßt sich bei gewissen Persönlichkeiten, von denen man es nie vermutet hätte, eine Übereinstimmung mit den Positionen des Ulivo - der Nachfolgepartei der kommunistischen PCI - beobachten. Zu diesen gehören Vittorio Cecchi Gori, einer der größten Produzenten, Verleiher und Kinobesitzer Italiens, auf der einen Seite und junge Regisseure, die zu den aufgewecktesten zählen, auf der anderen Seite. Aber das geht nicht ohne Widersprüche vor sich.
Der erste Widerspruch ist die Spaltung der Anac, der historischen Organisation der Regisseure und Filmproduzenten. Dieser während Jahrzehnten von Francesco Maselli geleitete Verband agierte sowohl als korporatives wie auch politisches Machtinstrument überaus raffiniert. Viele Cineasten haben sich von ihm losgesagt, aus Angst, die Regierung werde entsprechende neue Gesetze erlassen und nur noch mit jener Organisation von Filmautoren verhandeln, die seit Jahren ausschließlich ihre eigenen Interessen verteidigt.
Einer der jüngeren Regisseure, Carlo Mazzacurati, stellte fest, daß man in Italien Zeuge der traurigen Realität werde, daß Filmemacher, einmal fünfzig geworden, nichts mehr zu sagen hätten. Mit anderen Worten: Es gibt eine Generation, die seit den sechziger Jahren - und auch schon vorher - bis heute dominierte und deren Fähigkeit, zu erzählen und das Land zu interpretieren, im Laufe dieser Jahre aufgebraucht wurde. Der letzte Große, Federico Fellini, lieferte mit La voce della luna (1990), seinem Testament, das Bild einer unbefriedeten und unruhigen Nation. Aber das ist das einzige Beispiel des »alten Kinos«, das von Vitalität und anthropologischer Schärfe zeugt.
Die neue Organisation wird Probleme haben, welche ihr vor allem deshalb Zuwachsen, weil ihr Produzenten und Vertreter jenes traditionellen Kinos angehören - meist Söhne der alten Filmschaffenden, deren Stern im Sinken begriffen ist. Leute wie Marco Risi und Ricky Tognazzi machen oft nur deshalb Filme, weil sie in diesem Ambiente groß geworden sind, ohne über ein besonderes Talent dafür zu verfügen. Um sie herum ist eine Generation junger und gleichgesinnter Drehbuchautoren herangewachsen, die unter großen Anstrengungen zwei alte Genres neu zu beleben versuchen, die nach der Meinung des Schreibenden zum Untergang des italienischen Films geführt haben: die Sittenkomödie und das Denunziationskino, das heißt der engagierte Film. Die Komödie hatte in den Jahren des Aufschwungs - zu Beginn der sechziger Jahre – ihre große Zeit. Sie ist jedoch allmählich zur gefälligen Selbstbespiegelung verkommen, statt die italienische Realität kritisch zu reflektieren. Und das Publikum identifizierte sich zunehmend mit den sympathischen beziehungsweise unsympathischen Figuren. Dem schauspielerischen Niedergang von Alberto Sordi, Vittorio Gassman, Gianfranco Manfredi, Monica Vitti, von Ugo Tognazzi und selbst Marcello Mastroianni folgte der moralische Zerfall des Landes, zu dem sie noch beigetragen haben - trotz der Anstrengungen, die ihre »Erfinder« (Age und Scarpelli vor allem) dagegen unternommen haben.
Das politische Kino, das in Italien immer ein linkes Kino war, hat sein Meisterwerk mit Salvatore Giuliano (1962) von Francesco Rosi. Was dann folgte, gab - mit wenigen Ausnahmen - von der Politik nur immer ein und dasselbe Bild des Komplotts. Es fand in seiner Oberflächlichkeit an extremen Formen der Politik Gefallen, die als einzig mögliche Reaktion auf die »universelle Konspiration« der von »geheimen Mächten« kontrollierten Staatsgewalt erschienen. Dieses Kino - die Komödie und der engagierte Film - war zudem ein absolut männlich zentriertes Kino, sowohl in seinen Figuren als auch in seiner Logik. Die besten italienischen Filme der Vergangenheit enthalten hingegen fast ausnahmslos melodramatische Elemente (wie Pedro Almodóvar sagte, »wenn sich das Melodrama mit Arbeitslosen beschäftigt, wird es als Neorealismus bezeichnet«) und gaben den Frauen großen Raum (Anna Magnani, Ingrid Bergmann, Silvana Mangano, Lucia Bosè, Sophia Loren und viele andere). Das Melodrama verschwand, um vor kurzer Zeit wiederaufzutauchen. Und es ist gewiß kein Zufall, wenn eben Werke dieses Genres heute wieder unser Kinoschaffen in Bewegung setzen, indem sie von Italien ein authentisches Bild zu vermitteln vermögen - so Gianni Amelio mit II ladro di bambini (1992), Silvio Soldini mit Un’anima divisa in due (1993), Carlo Mazzacurati mit Un’altra vita (1992), Mario Marione mit L’amore molesto (1995), Pasquale Pozzessere mit Verso sud und andere.
Einige dieser Filme weisen »geographische« Spuren auf: Sie wurzeln in regionalen Kulturen, zeigen unbekannte Landschaften, die in unserem Kino bisher noch nicht zu sehen waren. Ihre Handlung findet abseits von Rom statt. Und wenn sie die Hauptstadt ins Bild rücken wie in Un’altra vita, in II ladro di bambini oder Verso sud, dann ist es ein anderes Rom. Die Filme entstehen oft auch anderswo und in ganz anderen Produktionszusammenhängen. Obwohl ich sie für banale Filmautoren halte, haben der Sizilianer Giuseppe Tornatore mit Nuovo Cinema Paradiso (1988) und Gabriele Salvatore mit seinen Mailänder Komödien durch den Erfolg ihrer Filme, die sogar mit dem Oscar ausgezeichnet wurden, neue Wege für andere Regisseure gebahnt, die nun auch in Rom jene Aufmerksamkeit finden, die sie forderten. Und sie haben gezeigt, daß man die Sujets und Milieus am Ort suchen muß, weit weg von der Hauptstadt.
Die größte Neuigkeit ist wohl die Entstehung lokaler Gruppen von Produzenten, wie es in Palermo, Neapel und Mailand geschah. Rom bleibt weiter- hin zentraler Bezugspunkt, um die Finanzierung zu vervollständigen, um einen Verleiher zu finden und um bestimmte technische Arbeitsschritte durchzuführen, die nur hier, wo sich Labors und Profis befinden, angemessen realisiert werden können. Aber auch anderswo werden Filme hergestellt. Im Gegensatz zu früher, als es von Rom ausgehend in die Provinzen ausschwärmte, startet das Kino heute in der Provinz, um nach Rom zu gelangen.
Die andere Neuigkeit, und die gilt nicht nur für Italien, ist die große Zunahme von Erstlingswerken, seien sie nun auf Filmmaterial aufgenommen oder als Video realisiert. Und es sind sowohl Langspielfilme als auch Kurzfilme. Entsprechend hat auch die Zahl der Festivals, der Wettbewerbe und der Preise zugenommen und damit auch die Möglichkeit, diese Werke vor einem - wenn auch beschränkten - Publikum zu zeigen. Hier können neue Autoren nachwachsen. Diese Zunahme ist ein Effekt der sinkenden Kosten für die Apparate und einer gleichsam verlängerten Arbeitslosigkeit »reicher« Jugendlicher (ohne die finanzielle Unterstützung durch die Familie wäre dies undenkbar).
95 Prozent oder mehr dieser Werke sind bedeutungslos, sind Wiederholungen von Wiederholungen von Wiederholungen, sind das Echo eines Echos anderer Filme, anderer Werke, nach obsessiv wiederholten Vorbildern. Es gibt darunter aber auch außergewöhnliche und gewagte Stücke, mit leichter und geglückter Linienführung, selbst wenn man schon Bekanntes zeigt, Erkundungen des Ambiente und ungewöhnlicher Figuren. Mitunter finden sich darunter Beispiele einer selbständigen und reifen Regie. Viele Junge drängen nach vorn. Die meisten werden allerdings bald müde, und man könnte sagen, daß die Erfahrung mit Video und dem Kurzfilm (und auch mit 16 mm, selbst mit Langspielfilmen, die mit Unterstützung entstanden sind) Teil poverer Rites de passages einer Jugend sind, der es schwerfällt, sich zu definieren.
Von Randständigen sind sehr radikale filmische Erfahrungen vermittelt worden. Die wichtigsten sind die der Palermitaner Ciprì und Maresco (Autoren des genialen Films Lo zio di Brooklyn und zahlreicher kurzer »FernsehProvokationen« - beängstigender Ministories von radikaler Andersartigkeit) und jene aus der Romagna von Romeo Castellucci (Autor des längeren Films Brentano, nach einer Erzählung von Robert Walser), der auch Initiator und Regisseur der zurzeit vielleicht innovativsten Theatergruppe, der »Societas Raffaello Sanzio« aus Cesena, ist. Castellucci knüpft an Artaud, an das große Kino des Expressionismus, an Eraserhead (1976) von David Lynch an. Cipri und Maresco beziehen sich mit ihren Werken, die gleichzeitig äußerst originell sind und nur in der Jetztzeit haben entstehen können, einerseits auf den Surrealismus Buñuels, andererseits auf Beckett und Pasolini.
Innerhalb eines narrativeren Kinos und für ein »traditionelles« Publikum stellt die Entstehung einer neapolitanischen »Schule« die größte Neuigkeit dar. Drei sehr wichtige Regisseure, die sehr verschieden sind, vermochten von Neapel und seinem weiten Hinterland ein Bild zu geben, das ohne jeden römischen Folklorismus vergangener Tage auskommt und sich auch von den Gemeinplätzen des denunziatorischen Films freihält. Das sind Mario Marione (der vom Theater kommt), Pappi Corsicato mit Libera und I buchi neri, einem bizarren »poppigen« Kino, und Antonio Capuano mit Vito e gli altri und Pianese Nunzio 14 anni a maggio, schwankend zwischen Distanziertheit und einer Art Hypernaturalismus. Sie haben die politische Wende der Stadt vorweggenommen und dieser kulturellen Wiedergeburt ihren Stempel aufgedrückt. In Europa stellt Neapel ein extremes Beispiel einer Stadt mit überaus lebendigen schauspielerischen und musikalischen Traditionen dar, die sich auch in den schlimmsten Zeiten ihrer Geschichte nie beschwichtigen ließen.
Die Namen der Autoren, von denen man noch viel zu erwarten hat, sind nicht nur die zitierten. Selbstverständlich muß an Nanni Moretti erinnert werden, der nicht nur Regisseur und Schauspieler, sondern auch Filmproduzent ist, obwohl er auf diesem Gebiet treue und verläßliche Adepten wie Daniele Luchetti und Mimmo Calopresti bevorzugt - seine ganz persönlichen »portaborse« (zu deutsch etwa »Wasserträger«, in Anlehnung an Lucchettis Film II portaborse, 1991), die seinen Vorstellungen willfahren. Mit Caro diario (1994) legte Moretti seinen innovativsten und reifsten Film vor, der andere und weitere Vertiefungen verspricht, die immer weniger selbstbezogen und immer bedeutungsvoller für andere zu werden versprechen. Es muß auch an den schönsten Film erinnert werden, der zugleich derjenige war, welcher der italienischen Kultur jener Jahre am schlechtesten bekam: Lamerica (1994) von Gianni Amelio. Und nicht zu vergessen die Rückkehr von Bernardo Bertolucci nach Italien mit Io ballo da sola (1996), der zusammen mit La tragedia di un uomo ridicolo (1981) und Prima della rivoluzione (1964) einer seiner schönsten und zugleich unambitiösesten Filme ist. Sergio Citti, langjähriger Regieassistent Pasolinis und ein Regisseur, den es wieder neu zu entdecken und zu lieben gilt, hat mit seinem Film I magi randagi (1996) ein wunderbares pasolinisches Märchen geschaffen.
Traditionellere Autoren (als Drehbuchautoren besser denn als Regisseure) sind Paolo Virzì (Ferie d’agosto, 1996, eine Komödie, die ihrer soziologischen Schärfe wegen mit den besten Komödien der sechziger Jahre mithalten kann, wobei die Regie jedoch zu oberflächlich ausgefallen ist), Alessandro D’Alatri (Senza pelle, 1994, ein geglücktes Melodrama), Francesca Archibugi (Jl grande cocomero, 1993, während ihre Verfilmung des Romans von Federigo Tozzi, Con gli occhi chiusi, überhaupt nicht gelungen ist). Wichtig sind weiter die Werke von Giuseppe Bertolucci, von Peter Del Monte, von Marco Tullio Giordana und die Dokumentarfilme von Daniele Segre. Unter den jüngeren Autoren sind Francesco Calogero aus Sizilien, Gianni Zanasi aus Bologna (der mit einem schönen Film ä la Truffaut über Kinder aus der Peripherie Roms debütierte) und unter vielen anderen vor allem Roberta Torre, die aus Milano kommt und in Palermo lebt, zu nennen. Letztere ist Autorin sehr anregender Videos über das Randständigenproletariat von Palermo und Neapel und arbeitet jetzt an einem Langspielfilm, einer Art »Musical« über die Mafia.
Nichts Neues hingegen von den »neuen Komikern«, auch wenn Carlo Verdone und Maurizio Nichetti mitunter genaue und anspruchsvolle Filme schufen, während Roberto Benigni - ein wirklich großer Komiker - schreckliche Filme schreibt und inszeniert - selbstverständlich mit immensem Erfolg.
Übersetzung Alfred Messerli