KEVIN ROCKETT

DAS IRISCHE KINO IN DREI ETAPPEN

FILMBRIEF

Das irische Kino ist in jüngster Zeit in eine Erneuerungsphase getreten, und die irischen Filmemacher sind heute so prominent wie nie zuvor. Die Filme der Oscar-preisgekrönten Regisseure Neil Jordan und Jim Sheridan haben dem irischen Filmschaffen zu nie dagewesenem Ruf und Ansehen verholfen. Und dennoch sind nicht alle Hindernisse, die in früheren Jahrzehnten die Entwicklung des irischen Films verzögerten, definitiv aus dem Weg geräumt. Da das Kino untrennbar mit der Wirtschafts- und Industriepolitik eines Landes verknüpft ist - was für Irland vermutlich mehr als alle anderen europäischen Länder gilt -, scheint es sinnvoll, drei ausgeprägte Etappen der irischen Filmgeschichte auseinanderzuhalten und einzeln zu beleuchten. Doch vorgängig ein paar Bemerkungen zum Sonderfall Irland.

Sowohl nach als auch vor der irischen Unabhängigkeit von 1921 waren die Kinoleinwände des Landes von europäischen und US-amerikanischen Filmen beherrscht. So sollte es bis 1915 dauern - zwanzig Jahre nach den kommerziellen Anfängen des Kinos -, bis der erste einheimische Kinofilm zustande kam. Fünf Jahre zuvor hatte die US-amerikanische Filmgesellschaft Kalem bereits einen ersten Spielfilm in Irland produziert. The Lad From Old Ireland handelte von der irischen Auswanderung nach New York und war der erste einer bedeutenden Reihe von in Irland hergestellten Filmen des Kalem-Produzenten und Regisseurs Sidney Olcott. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs verbrachte Olcott ziemlich viel Zeit in Irland und verfertigte einfühlsame Vignetten irischer Kultur und Geschichte für die Leinwand, zu denen auch Adaptionen von Bühnenwerken des beliebten irischen Autors Dion Boucicault gehörten.

Die Kalem Company und andere US-amerikanische und britische Produzenten, die Anfang des Jahrhunderts Filme in Irland herstellten, zielten nicht so sehr auf das Publikum im Fand selber denn auf die in New York, Chicago, London und Liverpool niedergelassenen Iren ab. Im Gegensatz zu diesen urbanen Zentren mit einer hohen Konzentration an irischen Auswanderern war Irland selbst eine vorab bäuerliche Gesellschaft. Dies sollte sich bis in die sechziger Jahre, als erstmals die Mehrheit der Bevölkerung Irlands in den städtischen Zentren lebte - was im übrigen Europa längst der Fall war nicht ändern. Daher ist die Darstellung Irlands als einer ländlichen, auf der Landwirtschaft basierenden Gesellschaft klar in der Realität verankert. Es scheint jedoch der unstillbare Wunsch des ausländischen Kinos zu sein, Irland einzig und allein in dieser Version auf die Leinwand zu bringen, und dies wiederum erwies sich als einer der ausdauerndsten und hartnäckigsten Kinomythen, gegen den die irischen Filmemacher der späteren Generation sich so heftig zur Wehr setzten.

Die Auswirkungen dieses demographischen Unterschieds zwischen Irland und seinen beiden größten nationalen Einflußsphären, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, auf die irische Kultur und Gesellschaft waren enorm. Da die Entstehung einer nationalen Kinematographie mit der Endphase des irischen Befreiungskampfs zusammenfiel, war das Kino unweigerlich an dieses historische Ereignis geknüpft. Es kann daher nicht verwundern, daß die bedeutendste irische Produktionsfirma der Stummfilmära, die Film Company of Ireland, im März 1916 gegründet wurde - just einen Monat vor dem Oster-Auf- stand, einer blutig niedergeschlagenen Rebellion, die im südlichen Teil Irlands das Ende der direkten britischen Kolonialherrschaft beschleunigen sollte.

Die Film Company of Ireland schuf eine Reihe historischer Dramen, einschließlich der Verfilmungen einiger Schlüsselromane des 19. Jahrhunderts, um den nationalistischen Kräften einen volksverbundenen kulturellen Bezugsrahmen zu schaffen. Und in der Tat machte die subtile Neuanordnung respektive Prioritätensetzung einiger der Motive dieser Filme das irische Kino jener Zeit zu einem klaren Propagandainstrument und einer »kulturellen Waffe« im anhaltenden Kampf gegen die britische Anwesenheit im Land. Doch die große Mehrheit der Filme über die Iren stammte aus den USA und befaßte sich vornehmlich mit den Erfahrungen der dortigen irischen Einwanderer. So wurden denn bis zum ersten Irland thematisierenden Spielfilm eines irischen Regisseurs mehr Filme über die Iren in Amerika produziert als während des gesamten hundertjährigen Bestehens des irischen Kinos - die gewaltige Expansion der irischen Filmproduktion zu Beginn der achtziger Jahre eingeschlossen. Warum war dem so, und welche Auswirkungen hatte dies für die irische Kultur im allgemeinen?

I Protektionismus

In den Jahrzehnten vor der Unabhängigkeit lautete die Maxime der irischen Nationalisten und der eng mit ihr verbündeten katholischen Kirche, daß Irland vor fremden populärkulturellen Einflüssen aus Großbritannien und anderswo abgeschirmt werden müsse. Diese Xenophobie führte kurz nach Erlangen der Unabhängigkeit und Bildung des Freistaats Irland 1921 zu einer veritablen Kampagne gegen importierte Kultur, die auch das Kino betraf: Aufgrund einer drakonischen Filmzensur wurden in der Zeit von 1924 bis 1965 rund 3000 Filme verboten und weitere 8000 beschnitten. Während das Filmzensurgesetz von 1923 die Vorbedingung für ein nicht minder restriktives Zensurgesetz für Veröffentlichungen (der Censorship of Publications Act) von 1929 schuf, muß dennoch daran erinnert werden, daß Irland mit einer solchen Politik zwischen den beiden Weltkriegen keineswegs alleine dastand.

Was das Fand jedoch von anderen unterscheidet, ist, daß diese Restriktionen unverändert bis Mitte der sechziger Jahre andauerten. Denn im Gegensatz zu den europäischen und den Vereinigten Staaten reagierte Irland nicht auf das veränderte Produktionsumfeld nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Einführung eines »Nur für Erwachsene«-Prädikats. Die irische Filmproduktion zwischen 1920 und i960 war mit einer etwas anders gearteten Palette von Schwierigkeiten konfrontiert.

In der Nach-Unabhängigkeitsperiode war Irland aufgrund des »Treaty« innerlich zerstritten. Das sogenannte Abkommen mit Großbritannien von 1921 spaltete das Fand (die sechs nördlichen protestantischen Grafschaften Ulsters - das heutige Nordirland - wurden vom Freistaat abgetrennt - A.d.Ü.). Der darauffolgende Bürgerkrieg von 1922 bis 1924 stellte sowohl die fragilen demokratischen Institutionen als auch die materiellen Ressourcen des neuen Staats auf eine harte Probe.

Als 1932 die von Eamon de Valera geführte Anti-Abkommens-Partei Fianna Fad an die Macht kam, konsolidierte sich eine verfassungskonforme Stabilität. Während die - teils nach sozialen Schichten aufgeteilten - oppositionellen Unabhängigkeitskräfte ihren Zwist bis in die aktuelle Gegenwart aufrechterhielten, herrschte doch hinsichtlich der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik nahezu völlige Einigkeit. Dies sowohl in bezug auf den Inhalt des irischen Films als auch in bezug auf den Wirtschaftsprotektionismus der irischen Industrie. Man hoffte, daß die Protektionspolitik der präunabhängigen Sinn-Fein-(»Wir allein«-)Partei zur Entwicklung einer durch Zolltarife geschützten Industriebasis führen würde. (Die 1905 gegründete Sinn-Fein-Partei arbeitete auf eine vollständige Unabhängigkeit hin, wobei sich der radikale Flügel später abtrennte und unter De Valera in Opposition zu den 1922/23 regierenden gemäßigten Sinn-Feinern trat - A.d.Ü.)

Während die beiden Unabhängigkeitsfraktionen sich hinsichtlich des Ausmaßes der Staatsintervention uneins waren, so war doch keine der beiden Parteien gewillt, die notwendigen Ressourcen zur Entwicklung einer eigenen Kinematographie bereitzustellen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden überhaupt die ersten, wenngleich bescheiden budgetierten Informationsfilme über Gesundheit und Sicherheit für die entsprechenden Regierungsstellen produziert, währenddessen man keinerlei Gelder für Spielfilme zur Verfügung stellte. Hie und da wurde zwar ein unabhängiger Spielfilm produziert, insbesondere in den dreißiger Jahren und unter dem Thema des Unabhängigkeitskriegs (der schließlich unter De Valera zur Proklamation eines souveränen Staats führte - A.d.Ü.), doch waren dies amateurhafte oder halbprofessionelle Filme, die mit einem minimalen Budget hergestellt wurden. Der erste abendfüllende irische Tonfilm, The Dawn (1936), erwies sich zwar beim irischen Publikum als ungemein populär. Die ausländischen Filmkritiker jedoch bemängelten die unspektakulären Dekors und die eher holprige Tonspur. Es bedurfte des dramatischen Wandels in der Nationalökonomie zwanzig Jahre später, um die erste nachhaltige Phase einer Spielfilmproduktion im postunabhängigen Irland einzuleiten. Zum Leidwesen der irischen Filmschaffenden waren es jedoch die ausländischen Produzenten, die von dieser Entwicklung profitieren sollten.

II Internationalisierung

Erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erkannten die Schlüsselfiguren in der Politik, insbesondere der für die nationale Filmpolitik zuständige Minister für Industrie und Handel und zukünftige Premierminister Sean Lemass, daß einheimisches Kapital zur Entwicklung einer irischen Industriebasis schwerlich die - seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die jüngste Gegenwart andauernde - Emigration aufhalten würden. (Allein zwischen 1945 und 1965 emigrierten eine Million Menschen.)

Insbesondere Lemass war der Überzeugung, daß die irische Industrie sich nur mit Hilfe ausländischen Kapitals entwickeln könne. Er machte dabei keine Unterscheidung zwischen den einzelnen Industriezweigen, und auch die Filmproduktion war für ihn lediglich ein weiteres arbeitsplatzschaffendes, exportorientiertes Unternehmen. Seine zentrale Interventionsstrategie dafür war die Schaffung staatlich subventionierter Filmstudios. Lemass’ Vorschläge wurden jedoch 1946/47 im Kabinett abgeschmettert, als Finanzminister Frank Aiken dagegen argumentierte mit der Begründung, daß die Studios nur von ausländischen Produzenten genutzt würden und daß die einheimischen Filmemacher handwerklich zuwenig ausgebildet seien und ihnen auch der Zugang zu fremden Märkten für ihre Produkte fehle. Da der Staat zu jener Zeit gerade im Begriff war, bescheidene Summen für - weitgehend austauschbare - politische Kampagnenfilme bereitzustellen, hätte die Kluft zwischen Lemass’ Vorschlägen und den tatsächlichen Verhältnissen nicht tiefer sein können. Doch Lemass ließ sich nicht abschrecken und erreichte schließlich doch noch sein Ziel, indem er den Promotoren der Ardmore-Studios die notwendigen finanziellen Mittel sicherte. Die Studios öffneten 1958 ihre Tore mit dem ursprünglichen Plan, Abbey-Theateraufführungen für die Kino- und Fernsehauswertung zu verfilmen. Doch nach sechs solcher Produktionen erkannten die Ardmore-Betreiber die Notwendigkeit, mehr ausländische Produzenten für Projekte nach Irland zu locken. Nach dem Erfolg des auf Ardmore-Initiative gründenden Films Shake Hands With the Devil (1959) war die Bahn frei für eine Reihe mittelmäßiger britischer Filme, die Irland zumeist einfach als Schauplatz benutzten.

Die Enttäuschung mit dem Ardmore-Projekt dauerte bis in die siebziger und achtziger Jahre an, als die Studios zwischen 1975 und 1982 sukzessive verstaatlicht wurden und der britische Regisseur John Boorman als deren Vorsitzender waltete. Zu diesem Zeitpunkt war es einem gutorganisierten und politisierten unabhängigen Filmsektor, unterstützt von breiten Teilen der (Film-) Industrie und kompetenten Journalisten, gelungen, die Debatte von einem rein kommerziellen Filmpolitikmodell auf ein Filmkulturprojekt zu lenken. Diese Bemühungen mündeten 1981 in die Gründung der staatlichen Finanzierungsstelle Bord Scannán na hÉireann / Irish Film Board. Die miteinander wetteifernden Interessen derer, die für eine Filmkulturpolitik eintraten, und anderer, die eine kommerzielle Filmindustrie entwickelt sehen wollten, führten in den darauffolgenden fünf Jahren zu beträchtlichen Spannungen unter den Kommissionsmitgliedern. Dennoch schaltete sich die Filmkommission erfolgreich in verschiedene Projekte ein. Unabhängige Filmemacher wie Bob Quinn, Pat Murphy, Joe Comerford und Cathal Black erhielten Unterstützung für ihre kritisch-engagierten Projekte, während natürlich die kommerziell orientierten Produzenten gegen die staatliche Subventionierung solcher »persönlicher« oder »Kunst«-Filme Sturm liefen. Die Spannungen unter den Board-Mitgliedern hielten bis Mitte der achtziger Jahre an, bis zu dem Zeitpunkt, als der Staat seine makroökonomische Politik neu formulierte.

III Globalisierung

Als Anfang der achtziger Jahre eine nationale Debatte über die Industriepolitik entbrannte, war es vielen Politstrategen ein zentrales Anliegen, die vermeintliche Überabhängigkeit von Fremdkapital neu zu beurteilen. Mit Ausnahme einiger Kommentatoren aus dem linken, von antikapitalistischen Positionen geprägten Lager sowie den aus nationalistischer Perspektive argumentierenden, um eine Wiederbelebung der alten Sinn-Fein-Protektionspolitik bemühten Stimmen (wobei beide Lager oftmals Feindseligkeit gegenüber einer Integration in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft an den Tag legten), herrschte breiter Konsens darüber, daß Fremdkapital weiterhin als Teil der irischen »nach innen gerichteten« Investition anvisiert werden sollte. Daher dauert die zweite Phase noch an, ist Irland doch Empfänger beträchtlicher Investitionen seitens multinationaler Konzerne, die von Irlands niedriger Besteuerung für den Export bestimmter Industrieprodukte profitieren und gleichzeitig einen hohen Anteil der irischen Bevölkerung beschäftigen.

Ein Gesinnungswandel manifestierte sich Mitte der achtziger Jahre, als man sich dazu entschloß, das Verhältnis zwischen einheimischem und Fremdkapital auszubalancieren. Die Politiker und Wirtschaftsstrategen waren sich des begrenzten Binnenmarkts bewußt und versuchten daher das Wachstum irischer Unternehmen im Ausland anzukurbeln, wobei sie in die dritte Phase der irischen Industriepolitik, die Globalisierung, einschwenkten. Im vergangenen Jahrzehnt haben fast alle größeren irischen Fabrikationsunternehmen - und so auch der Dienstleistungssektor - beträchtliche Investitionen in Übersee getätigt, was im stetig wachsenden Anteil des im Ausland erzeugten Profits der irischen Unternehmen seinen Niederschlag fand.

Auf regierungspolitischer Ebene wurden diese Akzentverlagerungen durch Thatcher-artige Kürzungen im Haushaltsbudget von 1987 intensiviert. Eine der Absichten dieser neuen Sparpolitik war die definitive Auflösung des Irish Film Board durch Taoiseach Charles Haughey, der innerhalb seines Ministeriums für die Kommission zuständig war. Haughey teilte dem Dáil (Parlament) unumwunden mit - ohne auch nur den geringsten Verweis auf die historisch bedingte Unterentwicklung der einheimischen Filmindustrie -, daß die Kommission aufgrund der niedrigen Umsatzrendite der vom Film Board getätigten Investitionen aufgelöst worden sei. Er rechtfertigte diesen Entscheid damit, daß die eher »kommerziell eingestellten« Filmemacher selbst vom Staat eine andere Strategie wünschten, wie er sich ausdrückte. Das Ergebnis war eine Klausel im Finanzgesetz (Finance Act) von 1987, gemeinhin Section 35 genannt, die Privaten und Firmen für ihre Investitionen attraktive Steuererleichterungen zusicherte. Dieser Paragraph sollte jedoch erst dann in größerem Umfang zur Anwendung kommen, als 1993 die detaillierten Bestimmungen für solche Filminvestitionen als Zusatzparagraph ins Gesetz aufgenommen wurden. In der Zeit zwischen 1987 und 1993 wurden insgesamt 11,5 Millionen Pfund an Investitionsgeldern aufgetrieben. Im Vergleich dazu tätigte man unter dem neuen Konzeptplan mit seinen gelockerten Bestimmungen zwischen 1993 und 1995 Investitionen in der Höhe von 55,5 Millionen Pfund. 18 Spielfilme und 11 Fernsehproduktionen waren 1994 zu verzeichnen, während 1995 bereits 33 Spielfilme und 16 TV-Produktionen unter Section 35 vom Department of Arts, Culture and the Gaeltacht, dem nunmehr für Filmpolitik zuständigen Regierungsministerium, eine entsprechende Bescheinigung und damit das Startsignal erhielten.

Während Section 35 und die wiederbelebte Filmkommission mit einem Jahresbudget von rund drei Millionen Pfund in den Jahren 1994/95 ein in Irland nie dagewesenes Volumen an Filmproduktionen gestatteten, folgte auf eine öffentliche Kontroverse im Jahr 1995 hinsichtlich gewisser Filminvestitionen die Verschärfung der Section-35-Bestimmungen. Ebenso belastend war die Erkenntnis, daß der Staat beträchtlicher Summen an nichterhobenen Steuern verlustig ging, die auch nicht mit den großzügigsten Einschätzungen des Werts solcher Investitionen für die Wirtschaft im allgemeinen wettgemacht werden konnten. Es wurde daher beschlossen, die Section-3 5 -Investitionen auf kleinere irische Projekte (mit einem Budget unter vier Millionen Pfund) zu verwenden, um damit die Entstehung einheimischer Produktionsgesellschaften zu fördern. Eine Taktik, die übrigens auch in anderen Wirtschaftsbereichen angewandt wurde. So erkennt man im nachhinein, daß die Veränderungen von 1987, die auch die Filmproduktion betrafen, Teil einer industriellen Gesamtstrategie waren, die bedeutsame kulturelle Folgen haben sollte.

Vor dem Hintergrund der Globalisierung sämtlicher Medien in den achtziger Jahren fand auch im Filmschaffen Irlands eine größere Verlagerung statt. Die erste Generation einheimischer Spielfilmregisseure - Bob Quinn, Kieran Hickey, Joe Comerford, Cathal Black, Pat Murphy und andere - waren vom Wunsch beseelt, ein kritisches nationales Kino auf die Beine zu stellen, welches die von ihnen empfundene beschränkte Sicht Irlands seitens ausländischer Filmemacher erweitern sollte. Quinns Poitin (1978) nahm es mit John Fords doch eher romantischen Vision Irlands auf (The Quiet Man, 1952, und The Rising of the Moon, 1957), Comerfords Down the Corner (1978) und Traveller (1981) brachten die Arbeiterklasse und Reisende auf die Leinwand, während Blacks Our Boys (1981) und Pigs (1984) kritisch die katholische Kirche beleuchteten und so marginalisierte Gruppen wie Homosexuelle und Prostituierte einem breiten irischen Publikum vorführten. Pat Murphys Erforschung der Beziehung zwischen Republikanismus und Feminismus im äußerst vielschichtigen Werk Maeve (1981) und ihr erstaunliches Porträt Anne Devlin (1984) über das Leben einer Anhängerin der Rebellion gegen die britische Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert erhellten nicht nur tief in der irischen Geschichte begrabene Ereignisse, sondern brachten auch den Willen zum Ausdruck, sich mit Stil- und Formfragen auseinanderzusetzen. Dies erscheint auch als zentrales Anliegen in Thaddeus O’Sullivans formal ungemein anspruchsvollem Film On a Paving Stone Mounted (1978) über irische Migranten in London.

Mit Hilfe der Film Board waren diese Filmemacher Mitte der achtziger Jahre allmählich vom Rand der Filmproduktion in den Mainstream vorgerückt und erhielten Zugang zu mehr Geldmitteln und damit auch zu teuer ausgestatteten Projekten. Die Kritik jedoch, die sie an der irischen Kultur und Gesellschaft übten, war in der Phase der schmerzhaften ökonomischen Anpassung Irlands zu Beginn der achtziger Jahre alles andere als willkommen. Die Schließung des Irish Film Board in den Jahren 1987 bis 1993 hätte, rückblickend gesehen, dieser Art des Filmschaffens beinahe den Todesstoß versetzt. Während Filmer wie Camerford in High Boot Benny (1993) und Black in Korea (1995) das Wissen um dieses Malaise historisch und kulturell in ihre Werke einbrachten, nährte sich das Gros der Spielfilme jener Zeit aus ganz anderen Quellen.

In erster Linie sind die Produktionswerte sogar der kurzen Dramen und Fingerübungen von Filmschulabsolventen, die seit Ende der achtziger Jahre entstanden, oftmals denjenigen vieler unabhängiger Produktionen des Jahrzehnts zuvor weit überlegen. Dies spricht zwar für die Verfügbarkeit größerer Budgets und höherer Standards in der formalen Ausbildung. Dennoch könnte ein Betrachter dieser Filme leicht auf den Gedanken kommen, daß nunmehr dem Oberflächenglanz eines Films höhere Bedeutung beigemessen wird, während die frühere Generation von Filmemachern die soziale Komponente ins Zentrum ihres Schaffens rückte und in hohem Maß einer »Realismus«-Ästhetik verpflichtet war. Doch nun, da eine neue Generation von Filmemachern heranreift, wird immer augenfälliger, daß diese alles Irische aus ihren Werken zu verbannen suchen. In Spielfilmen wie Ailsa (1994) und Guiltrip (199 5) manifestiert sich das spezifisch Irische nur noch in der Sprache und nicht mehr, wie in der Vergangenheit, in der Landschaft und im soziohistorischen Umfeld.

Natürlich sind es weder die in den siebziger und achtziger Jahren in Erscheinung getretenen Filmemacher noch die heranwachsende Gruppe junger Autoren der neunziger Jahre, welche die Aufmerksamkeit eines internationalen Publikums auf den irischen Film gelenkt haben. Dies ist das Verdienst eines kleinen Kreises von Autoren, vorab Jim Sheridan, Neil Jordan und Pat O’Connor, die ihre Arbeit in Irland mit Aufträgen im Ausland - im Fall von Jordan und O’Connor in Großbritannien und den Vereinigten Staaten - verbanden.

Neil Jordans Spielfilmdebüt erfolgte 1982 mit Angel, einem Film über Nordirland, den der britische Channel 4 und das Irish Film Board finanzierten. Ein zu seiner Zeit äußerst umstrittener Film, aber dennoch der erste von einer irischen Produktionsgesellschaft hergestellte größere Film für den Kinoverleih seit den dreißiger Jahren. Diese schockierende Tatsache allein drückt aus, welchem Wandel die irische Filmproduktion der letzten fünfzehn Jahre unterworfen war. Jordan sollte in der Folge sein Schaffen zwischen nichtirischen Filmen wie Mona Lisa (1986) und Interview With a Vampire (1994) und mehr persönlichen irischen Werken wie The Miracle (1991) sowie dem historischen Epos Michael Collins (1996) aufteilen. Mit dem doch eher unkonventionellen Stoff von The Crying Game (1992) schuf er sich einen Namen als kommerziell höchst erfolgreicher Autor - ein Erfolg, der ihm den Weg zu einem so langgehegten Projekt wie dem Porträt des irischen Führers Michael Collins ebnete. Jordans Filme über irische Politik und Historie befassen sich mit der Metaphysik der Gewalt und sind daher nicht unumstritten. Solche Filme können durchaus als Fortsetzung der britischen Kinotradition gesehen werden, in der die Iren oft mit einer unersättlichen Lust zur Gewalttätigkeit dargestellt werden, dieweil eine Auseinandersetzung mit der britischen Präsenz in Irland in solchen Filmen entweder verdrängt wird oder gar nicht stattfindet.

Während Neil Jordan auf dem Umweg einer vielversprechenden Karriere als Kurzgeschichtenautor und Romancier zum Film kam, hat Jim Sheridan seine Wurzeln im Theater, und zwar sowohl als Regisseur wie als Autor. Sheridan erhielt internationale Beachtung mit seinem Spielfilmdebüt My Left Foot (1989), der für fünf Academy Awards nominiert war - der erste irische Spielfilm, dem eine solche Ehre zuteil wurde -, wobei Daniel Day-Lewis und Brenda Fricker den Oscar als bester Hauptdarsteller respektive als beste Nebendarstellerin erhielten. Als nächstes führte Sheridan Regie in The Field (1990), mit wiederum einer Oscar-Nomination für Richard Harris. Und dann kam die explosive Verfilmung der authentischen Geschichte der Birmingham Six - der fälschlicherweise wegen eines Bombenattentats verurteilten Nordiren -, In the Name of the Father (1993), mit welcher Sheridan weltweit berühmt wurde.

Sheridans Filme, insbesondere The Field, lenken die Aufmerksamkeit auf eine der Schwierigkeiten, mit denen diejenigen, die innerhalb kulturell marginaler Gesellschaften arbeiten, konfrontiert sind. The Field basiert auf einem populären Bühnenstück von Brian Friel, das in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren angesiedelt ist und sich mit einem von England nach Irland zurückkehrenden Migranten befaßt. Dieser möchte ein Stück Fand erstehen, entgegen dem Willen des Pächters Bull MacCabe (Richard Harris), der das besagte Grundstück seit Jahren bewirtschaftet. Die Ermordung MacCabes durch den Rückkehrer wird von der Gemeinschaft geheimgehalten. Sheridan hat in der Filmversion zwei bedeutsame Änderungen vorgenommen. Zum einen verliert sich, da der Migrant in einen sozial neutralen Irish-American (gespielt vom US-Darsteller Tom Berenger) umgewandelt wurde, die Macht der historischen Erinnerung eines aus England Rückkehrenden, der sich mit dem Landkauf dem Willen der Gemeinschaft widersetzt. Schwerer jedoch wirkt sich die zeitliche Verschiebung aus: Während das Bühnendrama zur Zeit eines tiefgehenden Wandels in der irischen Gesellschaft, als die Debatte über Tradition kontra Moderne einen neuen, dramatischen Höhepunkt erreichte, angesiedelt ist, wird die Handlung im Film von den aufrührerischen sechziger in die dreißiger Jahre zurückverlegt. Für diese Änderung gibt es einen simplen Grund: Das die Leinwand beherrschende Image Irlands ist das einer ländlichen, präindustriellen, prämodernen Gesellschaft, in der Arbeit kein Thema ist, Trinken und Festen hingegen die Hauptmerkmale sind und Feindseligkeit gegenüber Außenstehenden die Norm darstellt. Solche Romantizismen waren während Jahrhunderten fester Bestandteil des von außen projizierten Irland-Bilds, und es ist daher deprimierend festzustellen, daß The Field und etliche andere zeitgenössische irische Filme diese Fremdsicht der Iren unhinterfragt weiter propagieren.

Den kulturellen Preis, den es für die Globalisierung und Internationalisierung zu zahlen gilt, ist die Verwässerung und Aufweichung des Lokalkolorits, die dann drohen, wenn Filmemacher und andere Kulturschaffende sichergehen wollen, daß ihr Produkt in den geänderten Zeiten auch bei solchen Gesellschaften und Kulturen »ankommt«, die bereits von der standardisierten Ware des US-amerikanischen Produktionsmodells geprägt sind. Während das irische Kapital nunmehr seinen Platz in der Sonne der Globalisierung sucht, gehen etliche irische Filmemacher den Weg des geringsten Widerstands, indem sie die standardisierte Dreiakter-Erzählstruktur verwenden und gezielt eine Entnationalisierung des Filmskripts betreiben, um sich für ihre Produkte unbedingt den Vertrieb im Ausland zu sichern.

Übersetzung Corinne Scheiben

Kevin Rockett
lehrt am University College in Dublin, Co-Autor von Cinema and Ireland (London 1987) und Still Irish: A Century of the Irish in Film (Dublin 1995) sowie Herausgeber der Irish Filmography (Dublin 1996), Autor der Festschrift Irish Cinema: Ourselves Alone? (Dublin 1995) zur irischen Hundertjahrfeier des Dokumentarfilms.
(Stand: 2019)
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