Der Golem ist eine Metapher der Mediengeschichte. Seine Erscheinung dekliniert durch die Zeiten, welche Machbarkeiten Medien - von der Handschrift über den Buchdruck bis zum Film - jeweils bereitgestellt haben.
Am Anfang des Golems stand, einmal mehr, das Wort. Die jüdische Kabbala des Mittelalters hat den tragenden Glauben aller Buchreligionen, wonach Gott den Menschen durch Permutation heiliger Buchstaben schuf, in ein Initiations- ritual überführt, das Menschen und näherhin Kabbalaschülern lehrte, nach Gottes Vorbild einen Lehmkloß zu beleben. Und weil die Belebung einfach darin bestand, den Golem mit EMET, den vier hebräischen Buchstaben für „Wahrheit“ zu beschriften, reichte zur Rückverwandlung in formlosen Stoff- wie um die Handschriftkultur des Mittelalters als solche zu bezeichnen - das Löschen eines einzigen Buchstabens. MET heißt „er ist tot“ und bewirkte eben dies.1
Seinen Höhepunkt erreichte der alphabetische Golem erst, als die Schriften der Kabbala in Gutenbergs Druckmedium gerieten.2 Denn damit wurden aus Anweisungen zur mystischen Versenkung Blaupausen einer magischen Praxis. Es geschah im Prag Kaiser Rudolfs, des Schutzherrn aller barocken Alchimisten, Astrologen und Physiker, daß der Hohe Rabbi Löw zur physikalischen Implementierung eines Golems schritt. Ganz wie Schickards gleichzeitige Rechenmaschine, die die vier Grundrechenarten zum erstenmal mechanisierte, tat der automatische Knecht, was immer sein Herr an Dienstleistungen befahl.3
Am Ende, das mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenfiel, war von dieser Macht des Wortes nichts geblieben. Unter dem Konkurrenzdruck moderner Medien hörten Buchstaben und Namen auf, „Archetypen aller Dinge“4 zu sein. Der Lehmkloß wurde zur feldgrauen Eigur des Stummfilms und der Befehl, der ihn schuf, zum technischen Krieg.
Das Ende des Golems im Film ist nur folgerichtig. Erst die Technik der laufenden Bilder hat es historisch ermöglicht, das unhaltbare Versprechen aller Schriftkulturen zu erfüllen, und das heißt Leben zu simulieren. Erst der Autorenfilm, dessen ganzer Inhalt seit Paul Lindaus Anderem und Hanns Heinz Ewers’ Studenten von Prag die Autoreferenz dieser lebenden Bilder war, hat die alte Bibliotheksphantastik systematisch in Filmtricks überführt. Als Doppelgänger, Spiegelbild oder Golem auf der Leinwand zu erscheinen, hieß für die Verfilmten, sich in ihre eigene Verfilmung zu schicken.
Paul Wegener, der den Golem dreimal verfilmte und spielte, kam im Unterschied zu Lindau oder Ewers ohne literarische Vorlage aus. Sein Abbild hatte er schließlich schon 1913 in Studenten von Prag verloren, es konnte also automatisiert in Serie gehen. Aus dem gefeierten Bühnenschauspieler Wegener wurde ein stummer Lehmklotz oder Spielfilmheld und aus der literarischen Autorschaft, wie Zensurbeamte, Volkspädagogen und Schriftsteller sie seit 1913 dem Varietékino entgegensetzten, eine Funktion des Mediums. „Der eigentliche Dichter des Films“, hieß es 1916 in Wegeners Vortrag über Die künstlerischen Möglichkeiten des Films, „muß die Kamera sein.“ Die autoreferentielle Maxime, „aus dem Film für den Film zu schaffen“ (Wegener 1916/1954, S. 110), holte nur ein, was schon der erste Golem in Handlung umgesetzt hatte: den Medienwechsel von Schrift zu Filmtechnik.
Der Golem von 19145 beginnt mit jener Altstadtsanierung, die um 1900 das Prager Ghetto faktisch zerstört hat, in der Spielfilmfiktion aber gerade umgekehrt dafür sorgt, daß Wünschelrutengänger und Bauarbeiter die Lehmfigur des Hohen Rabbi Löw aus ihrer historischen Tiefe wieder ausgraben können. Was damit im Trödelladen eines alten Juden landet, ist allerdings nur die eine Hälfte des kabbalistischen Erbes. Die andere - ein altes Buch mit der Wiederbelebungsformel - verwahrt ein „hungernder Gelehrter“, dem es jedoch nur helfen soll, „sein umstürzendes neuartiges Werk über Schwarzkunst und Zauberei des Mittelalters zu vollenden“ (Wegener/Galeen 1913, S. 7). Historisch völlig korrekt6, soll anstelle der Golemzauberbücher die historische Wissenschaft von ihnen treten, nur daß der Hunger den Gelehrten auch noch zwingt, seine unersetzliche Quelle dem Trödler zu „verkaufen“ (Wegener/Galeen 1913, S. 7). So buchstäblich kommt das Buchmedium auf den Hund, der selbstredend Drehbuch heißt. Denn zum einen ist Gustav Meyrinks Golem-Roman zwar erst 1915 erschienen, was aber die seit 1911 veröffentlichten Vorabdrucke einzelner Kapitel ersichtlich nicht vor Wegeners Filmadaption schützte.7 Und zum anderen verfährt jener Trödler, wenn er mit dem Drehbuch in der Hand zur Wiederbelebung der Lehmfigur schreitet, wie ein Cutter, der alles kabbalistische Wissen auf Tricktechniken reduziert:
„31. Wir sehen bloß wieder groß die Buchseite. Die zitternde Hand des Juden. Die Pfand blättert um, wir sehen auf der nächsten Seite die Abbildung der Kapsel und längs über die Seite einen Pergamentstreifen mit arabischen Ziffern beschrieben. Darunter folgender Text:
TEXT: Dies ist der uns überlieferte Zauberspruch, mit dem der Rabbi Löw den Golem belebte: Zusammengerollt in der Kapsel bewirkt er den Lebenszauber.
Der Jude betastet in höchster Aufregung den Golem, findet die leere Stelle in der Brust, hat eine Erinnerung, eine ähnliche Kapsel gesehen zu haben. Stürzt in den Hintergrund, bringt eine kleine Ebenholztruhe, in die er erst die [ausgegrabenen] Schätze verschloß, hervor. Sucht fieberhaft in ihr, er findet die Kapsel.
33. Hände und Kapsel ganz groß. Er öffnet die Kapsel mit zitternden Händen. Die Kapsel ist leer.
34. Er sieht den Streifen mit dem Zauberspruch in dem Buche, kommt auf einen neuen Gedanken. Holt ein Messer. Beginnt den Gebetsstreifen herauszuschneiden.
35. Wir sehen ganz groß die manuelle Tätigkeit. Ablösen des Streifens vom Buche. Die Hände rollen den Streifen zusammen, schließen ihn in die Kapsel.“ (Wegener/Galeen 1913, S. 9/10)
Schrift figuriert also als Insert schlechthin. Was Hände aus Büchern aus- schneiden und in Spielfilmfiguren einsetzen, produziert eine Monstrosität. Nicht umsonst erscheint die manuelle Tätigkeit des Trödlers in Großaufnahme: Sie führt das Schneiden und Rollen von Zelluloid vor. Aber um den Golem zum Laufen zu bringen, ist es mit der Filmrollenmechanik nicht getan. Auch die elektrotechnische Bedingung seiner Existenz, das Projektionslicht, muß noch erfüllt sein:
„36. Der Golem rührt sich nicht. Jude lächelt, schüttelt den Kopf. Hebt das Licht, um dem Golem ins Gesicht zu leuchten. Da schlägt Golem ganz langsam weit die Augen auf! Jude prallt entsetzt zurück. Golem dreht ganz langsam den Kopf wie ein Kind nach dem Lichte. Jude weicht entsetzt rückwärts. Golem geht ihm, ganz schwer wie mechanisch, immer aufs Licht stierend nach“ (Wegener/Galeen 1913, S. 11)
Sobald Montage und Projektion als technische Rahmenbedingungen bereit- gestellt sind, kann die Binnenhandlung starten. Sie behandelt genau das, was der puren Autoreferenz des Mediums notwendig entgeht: seine Effekte auf die Kinobesucher, und das heißt 1913 zuallererst auf Frauen. Nicht umsonst programmiert der alte Jude den Golem einzig und allein zum Wächter seiner unkeuschen Tochter, die nächtens mit ihrem gräflichen Liebhaber in Schloßgärten lustwandelt. Der Sex, den die Kinoreformer von der Leinwand verbannt wissen wollten, wird also bestraft, nur um sie in klinischer Reinheit füllen zu können. Der Golem, „das halb entblößte Mädchen in dem Arm“, „schnuppert wie ein Hengst“, „läßt sie auf den Tisch gleiten und verbirgt wie in plötzlicher Raserei sein wüstes Haupt in ihrem Schoߓ (Wegener/Galeen 1913, S. 18). Mit anderen Worten: Sex macht den Automaten zum Mann und erfüllt gerade im Absturz seines Softwareprogramms alle Desiderate von Kinoprogrammen. Während nämlich das Geschöpf Rabbi Löws - zeitgenössischen Golemforschern zufolge - „ohne Zeugungskraft und Trieb zum Weibe“8 auszukommen hatte, „öffnet“ es im Kino gerade umgekehrt - zeitgenössischen Kritikern zufolge - „die Kapsel des Filmgeheimnisses. Wie der Golem ein automatisches, nicht ein beseeltes Wesen ist, so läuft auch der Film mit der stummen Figur - seelisch leer.“9 Aber weil der Golem das Paradoxon eines automatischen Wesens nicht auflöst, sondern zum Inhalt hat, erliegt noch die Filmwissenschaft von heute seiner Wirkung: „Der Golem als künstlich generiertes Wesen scheitert [...] bei dem Versuch, in einer Liebesbeziehung zu der Form menschlicher Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu gelangen.“10 Charme und List der ersten Golemfilme, daß sie es nicht soweit kommen lassen. Zunächst läßt das Drehbuchtyposkript selbst keinen Zweifel. „Nur ein Gedanke bewegt [den Golem]: wo ist das Weib?“ Und schließlich kann der eindeutig programmierte Automat schwerlich „scheitern“, er wird schlicht abgeschaltet. „In letzter Minute“ gelingt es der Trödlertochter, „den Schenn [sic] aus Golems Brust zu reißen“ (Wegener/Galeen 1913, S. 21-27).
Einmal gespeicherte Schauspielerkörper sind aber so verfügbar wie verführerisch. Grund genug für Wegener, die Medienmacht 1917 noch einmal zu verfilmen. Der Golem und die Tänzerin11 handelte vom Kino, spielte im Kino und verfilmte Kinoschauspieler und -Zuschauer und die Folgen ihrer Verfilmung, die in einer Filmkomödie folgerichtig zum Happy-End führten. Happy-End für den Golem von 1914 und den Studenten von Prag zugleich, denn der Doppelgängerstaffel entsprach die Serialität der Bilder. Während schon in Studenten der Titelheld und „seine Tragödie“12 eine autorisierte Filmkunst etablierten, erfüllte die Nebenrolle der leichtbekleidet tanzenden, kletternden, spionierenden Zigeunerin Liduschka alle Funktionen des Varieté- wie des Frauenkinos.13 Ob Student Balduin im Vordergrund mit Zauberer Scalpinelli Geld- oder mit Gräfin Margit Liebesdinge verhandelt, im Hintergrund ist stets Liduschka als Zuschauerin und für die Zuschauer über die geheimnisvollen Vorgänge im Bilde. So verfolgt den Studenten nicht allein die „grauenhaft ewige Erscheinung des ‚Anderen’“ (wie Drehbuchschreiber Ewers den Autorenfilm auf seine Formel brachte14), sondern auch Liduschkas wissender Zuschauerblick.
Genau das setzt Der Golem und die Tänzerin in Szene. Eine Wiedergängerin des tanzenden Zigeunermädchens, die „charmante Tänzerin Liduschka“ (deren Name das Drehbuch teilweise in Jela Orsevska änderte, hieß doch die Schauspielerin Lyda Salmonova, die in einer Nebenrolle noch sich selbst hätte spielen sollen), begibt sich „nach ihrem Auftreten im Varieté in ein Lichtspielhaus, um endlich den berühmten Wegener-Film Der Golem zu sehen“. Als Doppelgängerin aller Kinogängerinnen hat sie einen triftigen Grund: „Den Film muß ich unbedingt heute sehen, zumal die Partnerin des Golem, Lyda Salmonova, mir so ähnlich sehen soll.“ Zunächst gefällt sie sich, wie zuvor Balduin mit seinem Degen, im Blumenschmuck vor einem „großen Spiegel“, um ihn sogleich gegen ihr Leinwandspiegelbild einzutauschen. Während der „Liebling der Saison“ noch im Variete auftritt, ist die Doppelgängerin längst Filmstar (Wegener 1917, S. ½).
Im Kino sind der Golem, als Ausstellungsstück im Foyer, und der Schauspieler Paul Wegener bereits anwesend. Letzterer verliebt sich prompt in die Doppelgängerin seiner Filmpartnerin. Diese zeigt aber am „Original“ (Wegener 1917, S. 2) zunächst wenig Interesse, statt dessen erwirbt sie - frühe Leinwanddoppelgängerin erster Kinofetischisten - die Golempuppe und läßt sie sich nach Hause schicken. Da Tänzerinnen vor allem in Stummfilmen nicht zu Treffen „außerhalb des Theaters“ (Wegener 1917, S. 3) zu überreden sind, wendet Wegener den Trick des Films in der Liebe an und hat als Golempuppendoppelgänger seinen Auftritt im Boudoir. Die Tänzerin belebt den Golem, wie zuvor als Film im Film gesehen, und wieder wird ein kinoprogrammierter Traum wirklich.
Träume aber, zumal in Kriegsjahren wie 1917, sind Deckbilder von Alpträumen. „Als der große Krieg im Sommer 1914 ausbrach“ (Wegener 1914/ 1933, S. 7), paddelte Landsturmunteroffizier Paul Wegener gerade mit „Freundin“ Lyda Salmonova bei Esztergom auf der Donau. Vor einer Verhaftung als russischer Spion bewahrte ihn nur sein eigener „Kopf als Macbeth“, der - ganz wie die Golempuppe das Kinofoyer - gerade das „Titelblatt einer illustrierten Zeitung“ schmückte. So erfuhr Wegener erst am 14. August, daß „Deutschland wirklich mobilisierte“ (Wegener 1914/1933, S. 9). Zurück in Berlin, entdeckte er schließlich eins der „von den Garden aufgestellten neuen Reserveregimenter, die auch einen Unteroffizier des Landsturms als Freiwilligen einstellen würden“. Am 12. Oktober erhielt er seine „Totenmarke“, am 19. die Feuertaufe im flandrischen Schlamm (Wegener 1914/1933, S. 14-19) und am 25. Dezember das Eiserne Kreuz erster Klasse (Wegener 1914/1933, S. 185). Eine Ehrung, die Wegener auf ein „wirklich nicht so bedeutendes“ Verdienst zurückführte. Er hatte dank „guter Nerven“, die es ihm gestatteten, „äußerliche Ruhe zur Schau zu tragen“, „eine Art Verteidigung organisiert“ (Wegener 1914/1933, S. 151).
Dennoch hielten die Nerven des Kriegsfreiwilligen nur bis Frühjahr 1915:
„Ich habe meinen Berliner Müllkutscher Retzlow und manchen westfälischen Rekruten um die Nervenlosigkeit beneidet. Mein eigener, physischer Mut war starken Schwankungen unterworfen. [...] Mit vierzig Jahren, endlich nach schweren Kämpfen auf einer gewissen Flöhe der Karriere angekommen, aus einem Kreis voller Liebe, von Heranwachsenden Kindern, Geschwistern und Freunden herausgerissen, hängt man doch enger am Leben, als ein zwanzigjähriger Rekrut. Man kennt den Wert des Lebens tiefer und inniger. Auch sind die Nerven natürlich verbrauchter, zumal in meinem Berufe und nach einem Arbeitsjahre wie dem letzten, wo ich neben meiner Berliner Tätigkeit noch fünfundsechzig Tage außerhalb Berlins gespielt und zwei Filme, darunter den sehr schwierigen Golem, gedichtet, inszeniert und dargestellt hatte.“ (Wegener 1914/1933, S. 03)
Die verbrauchten Nerven, die Wegeners Fronttauglichkeit gefährdeten und schließlich ruinierten, gingen also weniger auf feindliches Trommelfeuer als auf einen Film zurück, der schon als Verfilmung von Verfilmung reine Psychotechnik gewesen war.15 Damit aber wurde umgekehrt der Krieg zum Nervenkrieg16 und sein „glücklicher Abschluߓ, wie kein geringerer als Generalquartiermeister Ludendorff erkannte17, zur abhängigen Variablen starker Nerven. Hatten Militärs bis Falkenhayn dem alten Wahn gefrönt, Militärs könnten ihre Bevölkerungen „naturgemäߓ18 nicht beeinflussen, so stellte Ludendorffs Dritte Oberste Heeresleitung (OHL) alle Heimatfrontstrategien auf Psychotechnik um. Und da keine Psychotechnik höhere Effizienz als der Film versprach, rückte er unter Ludendorffs „Kriegsmitteln“, die auch und gerade aufs eigene Volk zielten, an erste Stelle. Mit einemmal verbuchten sogar die Heeresakten, wie „psychologisch falsch“ es war, in den deutschen Kinotheatern weiterhin Filme zu zeigen, die „zu wenig unterhaltend und zu belehrend“19 waren. Folglich arbeitete das neue Bild- und Filmamt, diese Wiederverwertungsstelle kriegsversehrter Soldaten, nicht allein an effektvolleren Frontfilmen, sondern schoß sich, wie immer auf Weisung der OHL, auf Unterhaltung ein. In derselben Logik drehte der Kriegsheimkehrer Wegener seinen „schwierigen“ Erstling zur leichten Komödie um. Den Golem und die Tänzerin macht gerade sein Unterhaltungswert zum Kriegsfilm.
Und doch durfte die Kriegsunterhaltung 1917 nicht länger Sache freier Filmautoren bleiben. Noch bevor die Reichsspielfilmpropaganda auf Befehl Ludendorffs in der Ufa Institution wurde, stand ihre erste Produktion fest. Geplant war nichts Geringeres als „der große, wirksame Tendenzfilm ersten Ranges, der mit größten Geldmitteln hergestellt eine in der Wirkung absolut sichere Idee zur Darstellung“20 bringen sollte, oder - um die Superlative der neuen Cineasten auf einen Namen zu bringen - ein zweiter Golem.
Die Ironie der Filmkriegsgeschichte wollte es, daß Gustav Meyrink, obwohl oder weil er mit der angeblichen „Verfilmung seines Golems schlechte Erfahrungen gemacht“21 hatte, in dieser seiner Autorfunktion zum Zug kam. Doch nicht einmal die zweimonatige Kur, die das Bufa dem Romancier spendierte, lieferte ein „in der Idee absolut sicheres“ Propagandadrehbuch. An die Stelle gescheiterter Bufa-Pläne trat einmal mehr der Nachkrieg und das heißt die Ufa. 1920 durfte Wegener sein Flandrisches Tagebuch, lange bevor es 1933 in Druck ging, als dritten Golemfilm abdrehen.
Es ist der elementare Unterschied dieses Films zu den zwei verlorenen Versionen von 1913 und 1917, daß seine Handlung alle Motive, die sie von der Erotik bis zur Herr-Knecht-Dialektik wieder aufgreift, unter politische Bedingungen stellt. Obwohl oder weil der deutsche Kaiser seit November 1918 entthront und exiliert ist, beherrscht ein deutscher Kaiser den ganzen Film. Deshalb tritt anstelle des Lustschlosses, in dem die Katastrophe des ersten Golems spielte, die Kaiserburg des Prager Hradschin, anstelle des Grafen als Liebhaber der Judentochter ein Bote Kaiser Rudolfs. Seine Botschaft an die Prager Judengemeinde befiehlt ihr aber, in Umkehrung aller Novemberrevolutionen, das Exil.
Deshalb ist Wegeners dritter Golem kein Werkzeug und kein Knecht mehr, sondern eine Waffe. Der Hohe Rabbi Löw hat sie nur geschaffen, weil er von vornherein auf den Ernstfall vorbereitet ist und (wie Kaiser Rudolfs historische Astrologen) die Zeichen der Zeit in den Zeichen der Sterne zu lesen vermag. Schon darin ist er mehr Generalstäbler als gottergebener Rabbi - wo alle anderen und vorab die Ältesten der Synagoge längst kapituliert haben, entwickelt Rabbi Löw den Golem als neues automatisches Waffensystem. Ganz so hat Ludendorff ab 1916 der drohenden Niederlage eine systematische Heeresreform entgegengesetzt, die gleichfalls in „rigoroser Substitution von Menschen durch Maschinen“ bestand.22
Als Schöpfer einer solchen Maschine ist Rabbi Löw über alle Buchgelehrten und Trödler des ersten Golems erhaben. Wo vormals die Einheit des literarischen Autors in Drehbuchverfasser und Cutter zerfiel, triumphiert am Ende ihre mediengerechte Rekombination. Kaum daß Rabbi Löw die künftige Filmhandlung in den Sternen gelesen hat, geht er daran, seine Gegenwaffe (mit Aristoteles) nach Stoff und Form hervorzubringen. Der Stoff des Golems ist kein zufälliges Fundstück aus Vorzeiten mehr, sondern künstlerisch geformter Lehm; das Leben des Golems entspringt keinem ausgeschnittenen alten Zauberspruch mehr; es ist Effekt einer groß inszenierten Beschwörungsszene, die Astaroth als dem Geist des Filmtricks selber23 das Geheimnis aller Animation entringt. Wegeners dritter Golem, mit anderen Worten, verfilmt keinen geringeren als den Regisseur. Was das Flandrische Tagebuch dem ersten Golem, ziemlich verfrüht, als Einheit von „Dichten, Inszenieren, Spielen“ nachgerühmt hat, wird Ereignis.
Der Handlung bleibt also nur noch der Nachweis zu erbringen, daß im Medium Film alle Beschwörungsszenen die Medienmacht selber inszenieren. Nichts anderes geschieht auf dem Höhepunkt der Gefahr, wenn Rabbi Löw und sein Golem eine panische Judengemeinde im Ghetto zurücklassen, um auf der Kaiserburg die Wende herbeizuzwingen. Daß Rudolf sein Judenedikt zurücknimmt, hat aber den einfachen Grund Technikbegeisterung. Ganz wie Wilhelm II., der sich alle neuen Medientechniken, vom Phonographen bis zum Radio, sofort im Privatkreis vorführen ließ, bittet auch Rudolf den Rabbi um sein neuestes Zauberkunststück. Woraufhin der barocke Kaiserhof auf dem Hradschin zum modernen Publikum einer Kinovorführung mutiert.
Der Film im Film, den Rabbi Löw auf der Saalwand zu sehen gibt, beginnt mit einer Totale, die ihn schon als Dokumentarfilm ausweist. Vor einem Hintergrund, leer wie Wüsten oder Steppen, ziehen endlose Völkerscharen dahin. Der Entscheidung, ob cs Juden auf dem Weg zur Diaspora oder Weltkriegsvertriebene auf dem Weg zum Flüchtlingslager sind, steht der Stummfilm entgegen. Namenlose, gleichgültig ob Juden, Armenier oder Russen, „humpeln, gehen, schlurfen [...] über die Schutthalden einer Ordnung, einer europäischen und bürgerlichen Ordnung, von der sie noch nicht wissen, daß sie zerstört ist für immer“24. Erst wenn der Ewige Jude in Großaufnahme, riesig wie sonst nur der Golem, aus der Menge hervortritt, kommt Löws Film zu seiner inszenierten Bedeutung, zugleich aber auch ans Ende.
Die Hofdamen nämlich, einem ausdrücklichen Rabbinerwort zum Trotz, haben gelacht. Sie haben den Dokumentarfilm einer Deportierung mit dem Unterhaltungstrickfilm eines Méliès verwechselt. Darauf steht die Strafe aller Strafen: Das Kino namens Hradschin stürzt ein. Nur daß die Sekunde der einstürzenden Altbauten zugleich der Augenblick ist, den Golem als Sieger vorzuführen. Einzig sein übermenschlicher Einsatz rettet Balken und Decken, Kaiser und Hof vor dem Zusammenbruch. Genau das aber weist den Golem als Schützengrabenkämpfer aus.
Über den 4. Dezember 1914, seinen „schlimmsten Tag“ im Schützengraben jenseits des Yserkanals, berichtet Wegener:
„Der Tag beginnt zu grauen. [...] Um halb sieben beginnt das Artilleriefeuer. Es ist das Tollste, was ich je erlebt, und dem, der nicht dabei war, unvorstellbar. Der Feind feuert andauernd in Salven, Schrapnells, Granaten und aus schweren Schiffsgeschützen. Es ist ein ständiges Heulen und Krachen. Der Boden wankt buchstäblich wie bei einem Erdbeben. Der Feind ist glänzend eingeschossen. Fast jede Granate sitzt in der Stellung. Das geht anderthalb Stunden ohne aufzuhören. Wir sitzen alle ganz stumm und warten auf das Ende. Jeder fühlt die Todesnähe, Erde, Granatsplitter, Dämpfe erfüllen unsern Unterstand. Endlich läßt das Feuer ein wenig nach. Wir hören Schreie und Stöhnen Verwundeter. [...] Ich stürze zum Unterstand hinaus, hole die noch Lebenden aus ihren Löchern.
Das Artilleriefeuer wütet fürchterlich. Ganze Gruppen werden verschüttet, Stöhnen, Schreien überall [...].
Das Feuer läßt ein wenig nach. Wir überlegen jede Möglichkeit. Beim Überschauen unserer Lage merken wir erst jetzt unsere Verluste. Die drei linken Gruppen sind gefangen. Ich krieche nach unserem Unterstand zurück, nach meinen Kameraden zu sehen. Ich finde sie nicht mehr. Dort ist nur noch ein riesiges Granatloch. Mein lieber Putzer Altenmeyer mit allem Gepäck ist verschüttet.“ (Wegener 1914/1933, S. 143-145)
Ein Hradschin, den mysteriöse Erdbeben bis in die Grundfesten erschüttern, eine Hofgesellschaft, auf die Balken und Decken niederstürzen - all das übersetzt nur den Schrecken eines Soldaten, den ein bloßer Zufall davor bewahrt hat, im eigenen Schützengrabenunterstand verschüttet zu werden. Anstelle dieses Zufalls setzt der Film den Golem als Wunder. Nervenlos wie sonst nur noch Berliner Müllkutscher oder westfälische Rekruten bietet er einer Hofgesellschaft in Panik Unterstand vor der einbrechenden Katastrophe. Genau darin verkörpert der Golem einen neuen Soldatentyp, den Wegener nicht zufällig an Pionieroffizieren entdeckt hat:
„Anschauung und Wesen dieses jungen Offiziers haben etwas typisch Neues. Hier wächst der neue Ingenieursoldat heran. Er wird vielleicht nicht mehr den draufgängerischen Glanz des Schwertadels haben. Dafür viel Einsicht und unerschrockene Pflichttreue, fern von Palmengeflatter und Attackierträumen. Das ist der geeignete Führer für diesen Volks-Grabenkrieg, in dem der Infanterist zum Kanalarbeiter mit Waffe und Unerschrockenheit bei Explosionskatastrophen umgewandelt wird.“ (Wegener 1914/1933,8. 186/187)
Der Soldat als Arbeiter, wie Jüngers gleichnamige Schrift ihn 1932 auf den Begriff bringt, erlangt auch im Film alles Recht, den Schwertadel historisch zu verabschieden. Schon beim Passieren der Wachen, deren federgeschmückte Helme und barocke Rüstungen den Historienfilm nachgerade herbeizitieren, überragt der Lehmklotz sie alle. Mit der Explosionskatastrophe wird vollends klar, welche Bewandtnis die Golemmaske von 1913 im Nachkriegskontext annimmt: Das Haar wird zum Stahlhelm, der Lehm zur „verlehmten Uniform“ (Wegener 1914/1933, S. 147).
Das „Proletarierhafte seines Zustandes“ (Wegener 1914/1933, S. 190) macht den Golem zur politischen Figur. Sein Katastropheneinsatz mag in der Filmerzählung eine wunderbare Errettung sein, im Machtkampf zwischen Rudolf und Rabbi ist er eine doppelte militärpolitische Lehre. Löw führt dem Kaiser erstens vor, wie wenig seine barocken Soldaten im „Volks-Grabenkrieg“ taugen oder „wie wenig neue Gesichtspunkte diese in andern Kampfformen eingefahrenen Offiziere dieser uns aufgezwungenen Kriegsform abzugewinnen wissen“ (Wegener 1914/1933, S. 185). Löw führt zweitens vor, daß nur ihr Bündnis mit Proletariern als Frontsoldaten den proletarischen Umsturz alter Machtsysteme abwenden kann. So macht der Film explizit, was als historisches Telefonat im November 1918 Geheimsache bleiben mußte: OHL-General Groener versprach dem neuen Präsidenten Ebert die Unterstützung der Reichswehr.
Aber das Versprechen von General oder Rabbi reicht nur so weit wie seine Befehlsgewalt. Denn in jedem Frontkämpfer oder Golem schlummern revolutionäre Kräfte. Solange die Befehlskette hält, führen Arbeitersoldaten fraglos lauter Golemtätigkeiten aus: Sie kochen, holen Holz und bezahlen sogar beim Requirieren. Erst der Befehl, flandrische Häuser oder Mühlen anzuzünden, droht bei seinen Empfängern in blinde Zerstörungswut umzuschlagen (vgl. Wegener, 1914/1933, S. 35, 84/85). Mit derselben Zerstörungswut setzt der Golem, sobald anstelle des Rabbis nur noch dessen Famulus über ihm steht, das Ghetto in Brand.
Nicht umsonst wurde das Golemkostüm nach dem Krieg nur in einer Einzelheit verändert: Anstelle einer fünfeckigen Kapsel, die der Golem schon 1913 im Unterschied zum Davidsstern trug, tritt 1920 der fünfeckige Stern. Das vorletzte Filmbild zeigt also Trotzkis Rote Armee, diese Verwandlung der Front-Soldaten in Revolutionäre. Und weil Revolutionsarmeen den Krieg auf Dauer stellen, kann nur der Friede selber Amokläufer wieder abschalten. Auf dem Weg zur Sonne, zur Freiheit jenseits des Ghettos trifft der Golem ein blumen- spielendes Kind, dessen Lächeln ihn Stern und Leben kostet.