HARUN FAROCKI

AM AUSGANG DER FABRIK

ESSAY

Der Lumière-Film La sortie d’usine (1895)1 ist etwa eine dreiviertel Minute lang und zeigt die etwa hundertköpfige Belegschaft der Fabrik für photographische Artikel in Lyon-Montplaisir, wie sie durch zwei Ausgänge das Werkgelände und nach beiden Seiten das Filmbild verläßt. Uber ein Jahr galt es mir, das Motiv dieses Films, eine Belegschaft beim Verlassen der Arbeitsstelle, in möglichst vielen Varianten aufzusuchen.2 Belegstellen fanden sich in Dokumentär-, Industrie- und Propagandafilmen, in Wochenschauen und Spielfilmen. Ich ließ die Fernseharchive beiseite, die zu jedem Stichwort eine unüberschaubare Menge aufbieten, und ebenso die Archive der Film- und Fernsehwerbung. In den letzten Jahren habe ich einmal an die 10000 Werbespots durchgesehen und fand die Industriearbeit kaum dreimal dargestellt - nur den Tod fürchtet der Werbefilm noch mehr als die Arbeit in Fabriken.

Deutsches Reich, Berlin, 1934: Arbeiter und Angestellte der Siemens-Werke verlassen das Werkgelände zu Marschblöcken geordnet, um sich einer Nazikundgebung anzuschließen. Es gibt einen Block der Kriegsversehrten (als wäre dies eine eigene Waffengattung), und viele der Männer tragen weiße Kittel, als wollten sie den Begriff der militarisierten Wissenschaft ins Bild setzen.

DDR (ohne nähere Ortsangabe), 1963: Eine Betriebskampfgruppe - das ist eine aus Arbeitern gebildete Miliz unter der Führung der Partei - rückt zu einer Übung aus. Männer und Frauen in Uniform besteigen mit großem Ernst leichte Militärfahrzeuge und fahren in den Wald, wo sie Männer stellen werden, die Schiebermützen tragen und „Saboteure“ spielen. Als der Zug durch das Werktor fährt, sieht die Fabrik wie eine Kaserne aus.

BRD, Emden, 1975: Vor den Volkswagen-Werken steht ein kleiner Lautsprecherwagen und spielt Musik: Verse von Majakovskij, gesungen von Ernst Busch. Ein Gewerkschaftler ruft die Arbeiter, die von der Frühschicht herauskommen, zu einer Kundgebung auf, die gegen die bevorstehende Verlegung des Zweigbetriebes von Emden in die USA Protest einlegen soll. Die Metallarbeiter-Gewerkschaft unterlegt das Bild von Industriearbeitern in der Bundesrepublik, 1975, mit einer optimistisch-revolutionären Musik - mit einer, die vom tatsächlichen Schauplatz widerhallt und nicht, wie in der dummen Praxis so vieler Filme von 1968, nur von der Tonspur kommt. Ironischerweise lassen die Arbeiter sich diese Töne gefallen, weil der Bruch mit dem Kommunismus und seiner Kultur so vollständig ist, daß sie gar nicht mehr wissen, daß mit diesem Lied die Oktoberrevolution anklingt.

Die Lumiere-Kamera von 1895 ist auf die Werktore gerichtet und ist an dieser Stelle Vorläuferin der vielen Überwachungskameras, die heute automatisch und blind eine unvorstellbar große Menge an Bildern zur Eigentumssicherung hervorbringen. Mit solchen Kameras hätte man vielleicht die vier Männer identifizieren können, die in Robert Siodmaks The Killers (1946), als Arbeiter verkleidet, in eine Hutfabrik gelangten und dort die Lohngelder raubten. Da sieht man „Arbeiter, die in Wahrheit Gangster sind, beim Verlassen der Fabrik“. Für die Kameras, die Mauern, Dächer, Höfe überschauen, kommen automatische Bewegungsmelder auf den Markt (Video Motion Detection). Sie können Schwankungen der Lichtstärke außer acht lassen und sind programmiert, eine „unwichtige Bewegung“ von einer „wirklichen Bedrohung“ zu unterscheiden. Alarm wird gegeben, wenn eine Person einen Zaun übersteigt, nicht aber, wenn ein Vogel vorbeifliegt.

Mit diesen elementaren Erkennungsmaschinen kündigt sich eine neue Archivordnung an. Bisher haben die Archive ihr Material nach autoriellen, dokumentarischen oder narrationeilen Gesichtspunkten geordnet. Zu solchen Ordnungen kann ein sensorisches System zur automatischen Klassifikation kaum beitragen. Auch künstliche Augen und Erkennungssysteme der fortgeschrittensten Militärtechnik können nicht einen „Arbeiter“ oder eine „Fabrik“ in ihren unendlichen denkmöglichen Erscheinungsformen erkennen. Ein automatisches Auge im Dienst der Filmbibliotheken wird Menschen, die aus einem Warenhaus oder Gefängnis kommen, nicht von denen unterscheiden können, die eine Fabrik verlassen. Aber es wird Bilder mit gleichen oder ähnlichen kompositorischen und dynamischen Qualitäten auffinden können - und ist damit dem Auge des Cutters näher als dem des Autors oder Produzenten.

Die erste Kamera in der Geschichte des Films war auf eine Fabrik gerichtet. Aber nach hundert Jahren läßt sich sagen, daß die Fabrik den Film kaum angezogen, eher abgestoßen hat. Der Arbeits- oder Arbeiterfilm ist kein Hauptgenre geworden, der Platz vor der Fabrik ist ein Nebenschauplatz geblieben. Die meisten Erzählfilme spielen in einem Leben, das die Arbeit hinter sich gelassen hat. Alles, was die industrielle Produktionsform den anderen überlegen macht: die Zerlegung der Arbeit in kleinste Teilschritte, die beständige Wiederholung, der Organisationsgrad, der vom Einzelnen kaum Entscheidung fordert und ihm kaum Spielraum gibt - all das macht es schwer, erzählungsstiftende Wechselfälle zu erwarten. Darum ist fast alles, was während der letzten hundert Jahre in Fabriken mit Worten, Blicken, Gesten ausgetauscht wurde, der filmischen Aufzeichnung entgangen. Die Filmerfindung Kamera und Projektor ist im Kern eine mechanische, und 1895 war die Hochzeit der mechanischen Industrie vorbei. Die damals aufsteigenden technischen Verfahren - Chemie und Elektrizität - sind dem Augensinn kaum zugänglich. Die Filmkamera ist aber auf die Bewegung fixiert geblieben. Als vor zehn Jahren noch Rechenmaschinen in Gebrauch waren, die ein sichtbar bewegtes Teil hatten - das vor- und zurückruckende Magnetband -, da richteten sich die Kameras stets auf diese letzte sichtbare Bewegung zur stellvertretenden Darstellung der unsichtbaren Operationen. Der Bewegungssucht geht heute dramatisch der Stoff aus, dieser Entzug kann das Kino in die Selbstzerstörung treiben.

USA, Detroit, 1926: Arbeiter steigen die Stufen eines Überweges hinab, der eine Straße überbrückt, die parallel zum Hauptgebäude der Ford Motor Company verläuft. Die Kamera nimmt nun mit selbstgewissem Gleichmaß einen Schwenk nach rechts auf, eine Durchfahrt öffnet sich, groß genug, mehrere Lokomotiven zugleich passieren zu lassen, dahinter erstreckt sich ein Hof, groß genug, einem Luftschiff Landeplatz zu sein. An den Seitenrändern des Platzes sind Hunderte von Arbeitern unterwegs zu den Ausgängen, die sie erst in ein paar Minuten erreichen werden. Im tiefsten Bildhintergrund zieht ein Güterzug vorbei, in bester Abstimmung mit dem Tempo des Schwenks - dann rückt ein zweiter Überweg ins Bild, dem ersten gleich, und seine in vier Spuren abgeteilten Treppen sind wieder mit herabsteigenden Arbeitern angefüllt. Das alles ist formuliert von Kameraoperateuren, die die Kraftlinien des Bauwerks aufgefaßt haben, und von Architekten, die beim Entwurf mit einer solchen Blickmaschinerie rechnen mußten, die ihr Bauwerk in Szene setzt. Die Anwesenheit der Arbeiter im Bild bezeugt, daß die hier vorgestellte Spielzeugwelt Tatsache geworden ist, oder daß das Modell dieser Automobilfabrik im Maßstab eins zu eins ausgeführt wurde. Ein Augenwunder wie dieser Schwenk ist sonst nur in rotierenden Aussichtstürmen zu erleben oder vor den beweglichen Bühnen eines Revuetheaters - bei anderem Großspielzeug. Wie im Revuetheater fordert dieser Schwenk über das Hauptgebäude der Ford Company vom Zuschauer ein anerkennendes Zungenschnalzen für Ausstattung und Massenregie.

Beim Lumière-Film von 1895 kann man erkennen, daß die Arbeiterinnen und Arbeiter hinter den Werktoren aufgestellt waren und auf ein Kommando des Operateurs hin herausdrängten. Bevor diese Filmregie verdichtend eingreift, ist da zunächst die industrielle Arbeitsordnung, die das Leben der vielen Einzelnen synchronisiert hat. Diese Ordnung entläßt sie zum gleichen Zeitpunkt und bewegt sie durch die Ausgänge, die sie einfassen wie ein Bilderrahmen. Lumières Kamera hatte noch keinen Sucher und konnte sich ihres Ausschnittes nicht sicher sein - mit den Werktoren ist die Vorstellung von einer Kadrage gewonnen, an der es keinen Zweifel geben kann.

Das Werktor formierte die von der Arbeitsordnung vergleichzeitigten Arbeiterinnen und Arbeiter, diese zweifache Kompression erzeugt das Bild einer „Arbeiterschaft“. Es ist augenscheinlich, aus der Anschauung gewonnen oder bei der Anschauung wiedererlangt, daß die durchs Werktor Tretenden etwas Grundsätzliches gemeinsam haben. Ihr Bild ist einem Begriff nahe und darum zu einer rhetorischen Figur geworden. Diese findet sich in Dokumentationen, in Industrie- und Propagandafilmen, oft mit Musik und/oder Worten unterlegt, um dem Bild einen Wortsinn einzutragen, etwa „die Ausgebeuteten“, die „Beschäftigten“, „das Industrieproletariat“, „die Arbeiter der Faust“ oder „Teilmenge der Massengesellschaft“.

Die gemeinschaftliche Erscheinung währt nicht lange. Gleich nachdem die Arbeiter durch das Tor sind, verlaufen sie sich zu Einzelmenschen - und es ist diese Seite ihrer Existenz, die von den meisten Erzählfilmen aufgegriffen wird. Wenn die Arbeiter nach Verlassen der Fabrik nicht zu einer Manifestation zusammenbleiben, zerfällt das Bild ihrer Arbeiterexistenz. Das Kino könnte es bewahren, etwa indem es sie durch die Straßen tanzen ließe - eine choreographierte Bewegungsform gibt es zur Darstellung der Arbeitererscheinung in Fritz Längs Metropolis (1926). In diesem Film tragen die Arbeiter einen einheitlichen Anzug und bewegen sich in synchronem, dumpfem Gleichschritt, den Kopf wie zum Gebet gesenkt. Dieses Zukunftsbild hat sich nicht erfüllt, und in den meisten Weltgegenden kann man heute jemandem auf der Straße kaum ansehen, ob er von der Arbeit kommt, vom Sport oder von der Wohlfahrtsbehörde. Das Kapital, oder in der Sprache von Metropolis’, die Fabrikherren, sie sind auf eine einheitliche Erscheinung der Arbeitssklaven nicht aus, viel eher auf deren Zerstreuung und Vereinzelung.

Weil das Gemeinschaftsbild gleich dem Passieren durch das Werktor nicht haltbar ist, kommt die rhetorische Figur vom Fabrikverlassen oft am Anfang oder Ende des Films vor - wie ein Motto oder Schlußwort -, wo es möglich ist, sie unverbunden stehenzulassen. Es ist erstaunlich, daß der erste Film etwas hat, über das man nicht leicht hinauskommt.

Wenn es um Streik oder Streikbruch geht, um Fabrikbesetzung oder Fabrikräumung, kann der Fabrikvorplatz ein ergiebiger Schauplatz werden. Am Fabriktor grenzt die unzugängliche Produktionssphäre an den öffentlichen Raum. Das ist der ideale Ort für den ökonomischen Kampf, zum politischen zu werden. Die streikenden Industriearbeiter ziehen durch das Werktor, und andere „werktätige“ Schichten und Klassen schließen sich ihnen an. So aber hat die Oktoberrevolution nicht begonnen, und so sind nicht einmal die kommunistischen Regimes gestürzt worden. Allerdings hat zum Sturz des Kommunismus in Polen stark beigetragen, daß die Lenin-Werft in Gdansk von den Arbeitern besetzt gehalten wurde, während vor den Werktoren eine Gruppe von Nicht-Arbeitern ständig anwesend blieb. Damit war dargestellt, daß die Werftbesetzung eine öffentliche Angelegenheit war und eine Räumung durch die Ordnungsmacht nicht heimlich geschehen könne - ein Film von Wajda, Der Mann aus Eisen (Czlowiek Z Zelaza, 1981), erzählt davon.

1916, in der modernen Episode von Intolerance, gibt D.W. Griffith eine dramatische Streikdarstellung. Zunächst wird den Arbeitern der Lohn gekürzt, weil die Verbände, die die Arbeiter moralisch bessern wollen, mehr Mittelbrauchen. Als die Streikenden sich am Werktor versammeln, rückt die Polizei an, geht in Stellung und schießt die Menge mit Gewehren und Maschinenpistolen zusammen. Der Arbeitskampf sieht hier ganz selbstverständlich wie ein Bürgerkrieg aus. Vor den Wohnhäusern haben sich die Frauen und Kinder der Arbeiter versammelt und sehen dem Gemetzel zu. Mit Entsetzen, Schlachtenbummler aber auch von den Hügeln, die gute Aussicht geben. Auch eine Versammlung von Arbeitslosen steht bereit, die den Platz der Streikenden einnehmen will, hier im wahrsten Sinne des Wortes eine Reservearmee. Das ist wahrscheinlich die größte Schießerei vor einem Werktor in hundert Jahren Kinogeschichte.

1933, in der Darstellung eines Streiks der Hamburger Hafenarbeiter (Wsewolod I. Pudowkin: Desertir) muß ein streikender Arbeiter Zusehen, wie Schiffe von Streikbrechern entladen werden. Er sieht einen Streikbrecher unter der Last der Kiste schwanken, lange Gegenwehr leisten und endlich zusammenbrechen. Den ohnmächtig Daliegenden betrachtet er mit kalter, sozialgeschichtlicher Aufmerksamkeit, dabei huschen Schatten über sein Gesicht. Die werden von Arbeitslosen geworfen, die zum Eingang des Hafenbetriebs hasten, um die Stelle des eben Zusammengebrochenen einzunehmen: elende Gestalten, so armutskrank, daß sie verblödet sind, zu Kindern oder Greisen entstellt. Der Arbeiter sieht einem Alten, der mit der Zunge im Speichel herumfährt, tief ins Gesicht und wendet sich dann erschrocken ab. Es gibt so viele, die keine Arbeit haben und keinen Platz in der Arbeitsgesellschaft finden können - wie soll da die soziale Revolution möglich sein? Der Film zeigt die Gesichter der Verelendeten durch die Gitterstäbe der Werktore. Also sehen sie aus dem Gefängnis der Arbeitslosigkeit auf die Freiheit, die Lohnarbeit heißt. Aber durch die Gitterstäbe aufgenommen, sehen sie alle vor allem aus, als habe man sie schon in Lager gesperrt. Millionen in diesem Jahrhundert wurden für überflüssig erklärt, man hat sie als rassistisch minderwertig eingestuft oder für sozial schädlich erklärt. Und sie wurden von Nazis oder Kommunisten in Lager gesperrt, zur Umerziehung und Vernichtung.

In Modern Times (1936) nahm Charlie Chaplin eine Arbeit am Fließband an und wurde beim Streik von der Polizei aus dem Werk geschoben ... Marilyn Monroe saß am Fließband einer Fischfabrik bei Fritz Lang ... Ingrid Bergman war einen Tag in der Papierfabrik. Als sie darauf zuging, war auf ihrem Gesicht der Ausdruck heiligen Erschreckens, als ginge es in die Hölle. Die Filmstars sind in einem feudalen Sinne wichtige Menschen, und es verschlägt sie in die Arbeitswelt. So wie es den Märchenkönigen ergeht, die bei der Jagd vom Weg ab kommen und den Hunger erfahren. In Deserto Rosso (1964) will Monica Vitti an der Arbeiterexistenz teilhaben und entreißt einem der streikenden Arbeiter ein angebissenes Brötchen.

Stellt man die Ikonographie des Kinos neben die der christlichen Malerei, so ist der Kinoarbeiter dem seltenen Heiligen gleich. Das heißt nicht, daß das Kino nichts vom Arbeitersein verstanden hätte oder davon schweige. Denken wir an den Western, in dem es oft um die sozialen Kämpfe zwischen den Viehhaltern und den Ackerbauern geht, die aber seltener auf den Feldern und Weiden und häufiger im Saloon und auf der Dorfstraße ausgeschossen werden. In der Großstadt verlegt der Film den Kampf um Lohn und Brot von der Fabrik in die Schalterhallen der Banken. Es ist wie mit dem Krieg, der sich nicht auf den vorbestimmten Schauplatz, das Schlachtfeld, beschränken läßt und in jeden Bereich des Lebens dringen kann.

In der Wirklichkeit werden auch die sozialen Kämpfe meistens nicht in oder vor der Fabrik ausgetragen. Als die Nazis die Arbeiterbewegung in Deutschland zerschlugen, da geschah das in Wohnungen und Stadtteilen, in Gefängnissen und Lagern - aber kaum je in oder vor den Fabriken. Die großen Gewalttaten in diesem Jahrhundert: Bürger- und Weltkriege, Lager zur Umerziehung oder Vernichtung, vieles davon hat nächste Beziehung zur industriellen Produktionsform und deren Krisen - so viele Gewalttaten berufen sich auf diese Form und diese Krisen -, sie geschehen aber weitab vom Schauplatz der Fabrikwelt.

1956, eine Wochenschau der British Pathé zeigt Bilder vom Arbeitskampf in England. Streikende Arbeiter vor den Austin-Werken in Birmingham wollen verhindern, daß Streikbrecher die Autoproduktion fortsetzen, sie wenden Gewalt an, damit keine Halbfertigwaren hinein- und keine Fertigwaren hinausgelangen können. Da ist eine kontrollierte Gewalt zu sehen, die den Gegner an etwas hindern, ihn aber weder beschädigen noch vernichten will. Die Streikenden handeln mit Leidenschaft, aber ohne jede Lust an der Zerstörung.

Man kann diese und viele andere Bilder mehr zu einem vergesellschafteten oder tatsächlichen Film fügen und sich dabei vorstellen, das Kino habe über hundert Jahre nur ein einziges Motiv bearbeitet. Als würde ein Kind das erste Wort, das es sprechen gelernt hat, über hundert Jahre wiederholen, um die Freude am ersten Sprechen zu verewigen. Oder: Das Kino arbeite im Geist fernöstlicher Maler, die stets wieder die gleiche Landschaft malen, bis diese vollkommen ist und den Maler in sich aufnimmt. Als an solche Vollkommenheit nicht mehr zu glauben war, wurde der Film erfunden.

Beim Lumière-Film ist das Fabrikgebäude oder -areal ein Behältnis, das zu Beginn voll ist und am Ende entleert. Dieser Vorgang befriedigt die Augenlust und andere Lüste, auf die sie gründen mag. Beim ersten Film galt es, Bewegung zu zeigen und vor allem, daß es möglich ist, mit Bildern Bewegung darzustellen, bewegte Photographie zu bieten. Die Bewegungsdarsteller waren sich dessen bewußt, und einige setzten die Füße so fest auf und warfen die Arme so hoch, als gelte es anschaulich zu machen, was das ist: das Gehen. Als müsse mit dem neuen Aufzeichnungsmittel auch das Wissen von der Welt erneuert werden.

Gäbe es zu filmischen Motiven ein Buch, wie es Bücher zum Bedeutungsfeld sprachlicher Ausdrücke gibt, ein solcher neuer Orbis Pictus könnte ausführen, daß das Motiv der Pforte schon in der Homerischen Odyssee vorkommt. Der geblendete Zyklop steht am Ausgang seiner Höhle und betastet die herauskommenden Herdentiere, unter deren Bäuche sich Odysseus und seine Männer gehängt haben. Treibt man eine Herde durch einen engen Unterlaß, so kann man sie in Zahlen fassen und jedem Tier die Marke aufbrennen. „Beim Verlassen der Fabrik“ ist kein literarisches Motiv, keines, das aus einem geläufigen Text ins Kino übernommen wurde. Aber es ist kein Filmbild denkbar, das nicht auf Bilder vor dem Kino Bezug nimmt. Auf gemalte, geschriebene, erzählte - auf Bilder, die im Denken vorgeprägt wurden: auf Bildideen und Bildkonzepte.

Gleich nachdem 1895 das Kommando zum Fabrikverlassen erteilt ist, strömt die Menge der Arbeiterinnen und Arbeiter heraus, und wenn sie sich einander auch manchmal in den Weg treten - eine junge Frau zupft eine andere am Rock, bevor sie in entgegengesetzter Richtung abgeht, sie weiß, daß die andere nicht zurückzupfen kann unter dem gestrengen Auge der Kamera -, so ist doch die Gesamtbewegung zügig, und niemand bleibt vor dem Werk zurück. Dies wahrscheinlich, weil es galt, deutlich Bewegung darzustellen - vielleicht aber wurde damit schon ein Zeichen gesetzt.

Heute muß es uns Vorkommen, daß die entschiedene Bewegung der Belegschaft repräsentativ ist, daß die sichtbare Bewegung für verborgene und abwesende Bewegungen steht: für die Motorik der Güter, Gelder und Ideen, die in der Industrie zirkulieren. Schon im ersten Film wird dessen hauptsächliche Stilistik begründet.3 Filmbilder greifen nach Ideen und werden von diesen ergriffen. Dabei werden die Bedeutungen im Wirklichen aufgegriffen, als teile die Welt aus sich heraus etwas mit.

Es sind drei Filme erhalten, die das Verlassen der Fabrik von Lyon-Montplaisir zeigen. In einem kommt ein einspänniges Fuhrwerk vor, im zweiten eine zweispännige Kutsche. Ich beziehe mich auf die Version, in der überhaupt kein Pferd zu sehen ist. Bisher galt dieser Film als der erste je projizierte; nach neuerem Forschungsstand ist das zweifelhaft. Ich will aber bei diesem Film bleiben, der von all den Blicken, die ihn für den ersten nahmen, aufgeladen ist.

1994 begann ich die Arbeit an einer 37-minütigen Dokumentation, die Szenen vom Verlassen der Fabrik zur Anschauung bringt und kommentiert. Erstsendung: 2. April 1995, 3sat (Deutschland, Österreich, Schweiz

Denken wir an das Bild vom Rotarmisten, der auf dem zerstörten Dach des Reichstagsgebäudes in Berlin die rote Fahne aufstellte. Wir wissen heute, daß dieses Bild mehrfach aufgenommen wurde und nicht am Tage der Kapitulation. Aber es ist dieses Bild, das sich als das gültige Bild der Kapitulation behauptet.

Harun Farocki
geb. 1944 in Soekabumie (Java), Kurzstudium an der Filmakademie Berlin, seit 1965 etwa 70 Produktionen zwischen Kinderfernsehspot und Spielfilm, vor allem Dokumentarfilme. Arbeitet als Filmemacher und Journalist.
(Stand: 2019)
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