Jacob und Wilhelm Grimm unterscheiden im Deutschen Wörterbuch (DW 1860 II: ii3-119) unter dem Stichwort „Blick“ eine Vielzahl von Blicken. Sie nennen den festen, sicheren, freien, richtigen, tiefen, höheren, den scharfen, starren, schwärmerischen, träumerischen, den verlangenden, trunkenen, irren, scheuen, dreisten und endlich den nassen und den trockenen Blick. Das aktive Tun des Blickens ist wohl selten unschuldig, vielmehr durch Medien, bewußt oder unbewußt, geschult, ja abgerichtet. Dem Film kommt als Prägemittel für die Blickgewohnheiten im Alltag, die das Wahrgenommene ihrerseits wiederum prägen, eine besondere Bedeutung zu. Die Bemerkung Walter Benjamins, daß innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume sich mit der gesamten Daseinsweise der historischen Kollektiva auch ihre Wahrnehmung verändere, bezieht sich auf Kunstwerke und damit auch auf den Film. Was diese vom Gesehenen wiedergeben, ermöglicht es auch anderen, es so zu sehen. Kunstwerke teilen auf diese Weise Veränderungsprozesse der Wahrnehmung mit, vergegenständlichen sie dadurch (Ursula Baatz). Unser Interesse dem Blicken gegenüber galt konkreten Fragen. Der Zuschauer und die Zuschauerin schauen den Film an. Sie schauen dabei zu, wie die dargestellten, handelnden Figuren Dinge anschauen, ins Leere starren, den Blick anderer Personen suchen oder, selten, das Publikum anblicken. Dieses Spiel der Blicke ist nicht frei; nicht das der Schauspieler und auch nicht jenes der Zuschauer. Die Blicke der Schauspielenden binden jene der Zuschauenden in ein komplexes System ein. Fred van der Kooij spricht von einem „double bind des leeren Blickes“ auf der Leinwand, indem die von einem Komparsen, einem Soldaten, angeschaute Lillian Gish den Blick abwendet und sich sowohl dem Blick des Soldaten als auch jenem des Kinogängers gleichzeitig aussetzt. Um die Infragestellung dieser Selbstverständlichkeit und vermeintlichen Natürlichkeit, womit im herrschenden Kino der Blick von einem Geschlecht beansprucht und ausgeübt wird, geht es Catherine Silberschmidt in ihrer Analyse von Germaine Dulacs L’invitation au voyage (1927). Über das kalkulierte Schwindelgefühl, das jene ergreift, die im Kino zuschauen, wie im Film eine Person ins Kino, Theater oder Kabarett geht, um ihrerseits zuzuschauen, handelt der Essay von Mariann Lewinsky. Solche Schauszenen bringen, ebenso wie die Selbstreferenz, die narrative Konvention durcheinander. Wie der Beobachter beim Beobachten beobachtet wird, erläutert Thomas Christen an ausgewählten Filmen. Martin Schaub schließlich untersucht an Luis Bunuels Un chien andalou (1929) das zentrale Motiv eines unerhörten Angriffs „auf die Fassung der Betrachter, das Auge“. Weiter beschäftigt sich der Aufsatz von Vinzenz Hediger mit der Kreierung eines neuen Trailer-Typus in den USA der dreißiger Jahre, der bewußt aus der „Schule“ plaudert. Produktionsanekdoten und technische Leistungen werden als Werbung eingesetzt. Daß heute die Schauspielerinnen sich über ihre Rollen äußern und die Arbeit des Regisseurs qualifizieren, ist die konsequente Weiterführung dieses weit zurückliegenden Paradigmawechsels in der Filmwerbung. Peggy Chiao (Jiao Xiongping) erklärt das Filmwunder des Neuen Films in Taiwan, Harun Farocki untersucht quer durch die Filmgeschichte das Motiv, wie eine Belegschaft die Fabrik verläßt, und Susanne Holl und Friedrich Kittier verfolgen die Allegorese von Wegeners drei Golemfilmen. Von dieser CINEMA-Nummer an soll jeweils ein Beitrag sich mit einem oder einer zeitgenössischen schweizerischen Filmschaffenden kritisch auseinandersetzen. Den Anfang macht Salome Pitschen mit einer Analyse des filmischen Werkes von Peter Mettler. Zu danken ist Ruth Waldburger und Andreas Balemi für ihre Hilfe, Hanns Zischler für seine Bereitschaft, in kurzer Zeit die Rede Jean-Luc Godards zu übersetzen. Alfred Messerli
CINEMA #41
BLICKFÜHRUNG
EDITORIAL
ESSAY
FILMBRIEF
DIE KINEMATOGRAPHIE IN BOSNIEN-HERZEGOWINA WÄHREND DES KRIEGES 1992 BIS 1995
SELECTION CINEMA
JEAN SEBERG, AMERICAN ACTRESS (DONATELLO DUBINI, FOSCO DUBINI)
LE CIEL ET LA BOUE / BAUEN WAR MEIN LEBEN (FRÉDÉRIC GONSETH)
¡DEVILS DON ’T DREAM! – NACHFORSCHUNGEN ÜBER JACOBO ARBENZ GUZMÁN (ANDREAS HOESSLI)
GERHARD MEIER - DIE BALLADE VOM SCHREIBEN (FRIEDRICH KAPPELER)
JÎYANA ME - UNSER LEBEN VIER FRAUEN AUS KURDISTAN (DOROTHEA KEIST, CRISTINA KARRER)
CASA SCELSI ODER DIE INNENANSICHTEN DES KLANGS (FRED VAN DER KOOIJ)