CATHERINE SILBERSCHMIDT

ŞERIAT (URS GRAF, MARLIES GRAF DÄTWYLER)

SELECTION CINEMA

Rund 60000 Türken und Türkinnen leben heute in der Schweiz. Über ihre Lebensweise wissen wir weniger als über andere Ausländerinnen in unserem Land. Die meisten leben sehr traditionell, viele sind praktizierende Muslims. Urs Graf und Marlies Graf Daetwyler haben in jahrelanger Arbeit eine türkische Familie porträtiert: Şeriat ist aus zwei eigenständigen Filmen entstanden: einem Film über die Frauen von Marlies Graf und einem Film über die Männer von Urs Graf.

Şeriat (das islamische Gesetz) schildert auch den Alltag einer türkischen Familie in der Schweiz. In erster Linie ist der Film jedoch eine behutsame Annäherung an eine uns fremde Kultur. Mit wohltuender Unvoreingenommenheit erkunden die beiden Filmemacherlnnen sowie der Kameramann Hans Stürm das Fremde und sparen dennoch ihr Befremden gegenüber der autoritären und islamischen Religion nicht aus. „Männer muß außen, Frauen muß innen“, so das kurze Resümee von Idris über die Rollenteilung. Seine Frau und seine Kinder hat er zum Mitmachen gezwungen: „Die Schweizer verstehen uns Türken nicht, wissen zu wenig von uns. Wenn sie ein richtiges Bild von uns bekommen sollen, müssen wir ihnen doch zeigen, wie wir leben“, rechtfertigt er sein autoritäres Verhalten.

Şeriat dokumentiert eine allmählich entstehende Beziehung zwischen der Familie und den Filmemacherlnnen. Resmiyes anfängliche Weigerung, im Film mitzumachen: „Ich keine Zeit für Film [...] ich alles falsch machen“, ändert sich nicht nur - so jedenfalls mein Eindruck — wegen dem Zwang des Ehemannes, sondern weil sie allmählich auch fasziniert ist von der Idee ihrer Selbstdarstellung. Sie bestimmt, was sie wann zeigen will, z. B. wie sie „Baklava“, eine türkische Spezialität, herstellt. Faszinierend, wie sie auf dem Boden hockt und mit unwahrscheinlicher Fertigkeit kleinste Mengen Teig in kürzester Zeit zu hauchdünnen Fladen auswallt. Der Film zeigt, was Res- miye zeigen will. Es sind Szenen, die Identität dokumentieren. Die Isolation der Mutter und Ehefrau, das Fehlen der Dorfgemeinschaft und der Nachbarinnen bleiben unerwähnt. Dennoch: Als sie Fotos ihrer Familie in der Türkei kommentiert, wird deutlich, daß Resmiye eigentlich in Anatolien lebt.

Es gehört zur Qualität von Şeriat, daß nicht erklärt wird, wo Fremdes irritiert, daß Widersprüche und Ambivalenz nicht verwischt werden. Der Film ermöglicht damit die Reflexion auf unsere Kultur und unser Verhältnis zur Realität. Das Gefühl von Nähe und Distanz, aber auch Respekt vor der Intimität wird durch das Bild vermittelt. Bilder, die nur entstehen konnten aus der Vertrautheit mit den Dargestellten.

Catherine Silberschmidt
ist freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2019)
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