Tonkörper Der Ton, weniger als Geräusch oder Sprache denn als Musik, so hat es den Anschein, drängt sich in den Spielfilmen immer mehr vor. Er diktiert den Bildern seinen Rhythmus, er legitimiert sie. Die technischen Verbesserungen der Tonwiedergabe, die Auf- und Umrüstung der Kinosäle (auch wenn diese immer kleiner werden) sind nur ein Teil des Phänomens und zudem der Teil, der sich am einfachsten erklären läßt. Mit der Verfügbarkeit der Bilder und ihrer zunehmenden Beliebigkeit tut sich eine Leere auf, in die der Ton vorstößt. Die flachen filmischen Bilder werden durch das Musikzitat überhöht, die Musik verleiht ihnen die Aura und die Lebendigkeit, die ihnen gebricht und an die sie nicht mehr glauben. Eine im besten Falle symbiotische Relation hat sich in eine ausbeuterische verkehrt. Dabei ist der Ton, gerade weil man ihn zu oft überhört hatte, schon immer unterschätzt worden. Nur fällt das jetzt auf und damit die einseitige Privilegierung des Gesichtssinnes in unserer westlichen Kultur. Dem Auge ist in der Diskussion um die Rangfolge der Sinne nicht erst seit dem bildersüchtigen 20. Jahrhundert der erste Platz zuerkannt worden. Davon sprach Jacob Grimm in seiner „Rede über das Alter“: „Ich möchte vom erblinden und ertauben, die zwar in jeder zeit des lebens, doch meist gegen dessen schlusz stattfinden, etwas näher reden, das licht ist stärker, edler, schneller als der erst hinter ihm ausbrechende, ihm nachfolgende schall, das äuge ist ein herr, das ohr ein knecht, jenes schaut um, wohin es will, dieses nimmt auf was ihm zugeführt wird, darum hat auch die natur das äuge reicher ausgestattet und der Sehkraft viel gröszere tragweite gegeben als der hörkraft, ein augenzeuge ersieht noch was der ohrenzeuge nicht mehr hört, künstliche hülfe kann dem ohr nur geringe, dem äuge die bedeutsamste geleistet werden. durch ein fernrohr erblickst du auf entlegenem pfade einen wandersmann dahergehen, du vermagst seine gesichtszüge und gebärden zu unterscheiden, die knöpfe seines rocks zu zählen, aber was er spricht oder ruft bleibt dir unvernehmbar. dem gesicht wird solche macht zugegeben, dem gehör versagt, des hörens bedürfen wir zu vielem, des sehens fast zu allem, wer will es leugnen, dasz die Verhüllung des auges ein schwereres leiden sei als die Verdumpfung des ohrs, blindheit den menschen härter treffe als taubheit?“1 Das Ohr als Knecht benennt ein Herrschaftsverhältnis, dem unsere Sprache zu folgen scheint. Wörter wie gehören, gehorchen, Gehorsam, Hörige verweisen auf ein passives Verhalten; sehen, Augenschein, Augenzeuge, Absicht auf ein aktives.2 Den filmischen Konsequenzen dieser Relation geht der 37. Jahrgang von CINEMA, mit dem Titel „Tonkörper“, nach. Während nach Fred van der Kooij („Wo unter den Bildern sind die Klänge daheim?“) der filmische Blick gerichtet und selektiv ist und nur einen Ausschnitt der gebotenen Information wiedergibt, eignet dem Ton eine wesentlich panoramahaftere, entgrenztere Räumlichkeit: „Musik und Geräusch klingen auch dort noch, wo das Bild schon längst an seine Grenzen stößt. [... ] Und der Ton scheint dabei den Laufburschen zu markieren. Er kündigt an, was bereits da ist, aber noch nicht im Bild; klanglich schon präsent, aber noch unsichtbar.“ Anthropologisch ist das Hören der Raum- und Zeitsinn. Der heimische Raum ist ein Raum vertrauter, wiedererkannter Geräusche. Und anders als der Blick des Schauspielers in die Kamera, der uns vor dem Bildschirm nicht berührt, trifft uns wohl seine Stimme, denn sie hat im Gegensatz zum visuellen Abbild Körper (Claus-Dieter Rath). Töne im Film sind, mit den Bildern verglichen, grundsätzlich real. Durch sie verankern sich die reproduzierten Bilder glaubwürdig in der Realität (Frieda Grafe). Der Ton im Film ist unter anderem Körperersatz und Stellvertreter, er bezeugt und behauptet die Körperlichkeit der Welt. Fred van der Kooijs Metapher von der Musik als Blut- und Organspenderin für das filmische Schaffen bezeichnet einen Notstand und eine Utopie. Sind wir denn wieder am Anfang angelangt? In der Frühzeit des Filmes bestand nach Hansjörg Pauli („Ein blinder Fleck der Filmmusiktheorie“) die wichtigste Aufgabe der Filmmusik darin, dem Publikum hinter der rasch sich verdichtenden Flut der Bilder und Einstellungen die Szenen wieder sichtbar zu machen. Verlieh aber damals das Wissen um die organisierende Kraft der Musik dem Regisseur die Freiheit, die Technik der Montage weiter voranzutreiben, wäre diese Freiheit heute erst wieder zu gewinnen. Zu danken haben wir Miklós Gimes, Jörg Huber, Martin Schaub, Corinne Scheiben und Henry Taylor für das nachhaltige Interesse und die Bereitschaft, das Thema dieser Nummer der Filmzeitschrift CINEMA zu diskutieren. Der Dank gilt ebenso Thomas Bodmer für seinen Hinweis auf das Gespräch Thomas Meyers mit Michael Nyman. Alfred Messerli Janis Osolin 1 Jacob Grimm: Rede über das Alter. Gehalten in der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 26. Januar 1860. In: Kleinere Schriften, 1. Bd. Berlin: Derd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung, 121 879, (1864), S. 189-211, hier S. 200. 2 Vgl. Donat de Chapeaurouge: „Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht“. Der Weg von der mittelalterlichen zur abstrakten Malerei. Wiesbaden: Franz Steiner, 1983, S. 3.
CINEMA #37
TONKÖRPER
EDITORIAL
ESSAY
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
ANNA GÖLDIN - LETZTE HEXE (GERTRUD PINKUS, UNTER MITARBEIT VON STEPHAN PORTMANN)