CYRIL THURSTON

GHAME AFGHAN (MARK M. RISSI, ZMARAI KASI)

SELECTION CINEMA

Ein Spielfilm zu den seit Jahren anhaltenden Kriegswirren im fernen Afghanistan macht neugierig und skeptisch zugleich, vor allem, wenn sich ein Schweizerfilmer an dieses Thema heran wagt. Mark M. Rissi hat den Spielfilm in Ko-Regie mit dem afghanischen Drehbuchautor Zmarai Kasi realisiert, einem Freund Rissis, der seit etlichen Jahren in der Schweiz im Exil lebt. Ghame Afghan gehört nun aber nicht zu diesen oberflächlichen, dummen Action-Streifen, welche die verschiedenen Kriegsschauplätze als opportune Kulisse verwenden. Rissi und Kasi verzichten gänzlich darauf, den Krieg anhand üblicher Bilder von bewaffneten Auseinandersetzungen darzustellen. Ghame Afghan (Die Trauer des Afghanen) beschränkt sich auf die Schilderung der direkten Auswirkungen und Folgen des Krieges auf die afghanische Zivilbevölkerung. Am Beispiel einer afghanischen Familie, die nach Pakistan flüchtet, beschreibt der Film die einfache, alltägliche, brutale Realität, zeigt uns, unter was für existentiellen Nöten diese Menschen leiden. Das Familiendrama, die Form, in der es geschildert wird, erinnert an die Filme des Türken Yilmaz Güney. Ghame Afghan stellt afghanische Lebensweise dar, lässt uns darin augenfällig Mechanismen von Ungerechtigkeit erkennen, zeigt uns die Ohnmacht des einfachen Menschen. Die Geschichte beruht auf Erlebnissen verschiedener Flüchtlinge, die nahe der pakistanisch-afghanischen Grenze in Auffanglagern hausen. Sie ist also authentisch, ein Konzentrat mancher realer Begebenheiten.

Die Realisatoren führen uns in die fremde afghanische Kultur ein, mit einem für unsere Ohren melancholischen Lied. Abdullah, der Vater der Familie, wird von der Polizei verhaftet. Der patriarchalen Tradition gemäss treten die Söhne in dessen Fussstapfen, übernehmen die Verantwortung für die Familie. Ihnen ist es vorbehalten, die Schule zu besuchen, während die Töchter zuhause bleiben müssen. Mark M. Rissi und Zmarai Kasi schildern in fragmentarischen Szenen das Sei bst Verständnis der afghanischen Stammeskultur. Djuma, der Zweitälteste Sohn, heiratet Laila. Deren Eltern haben sie schon kurz nach ihrer Geburt einander zugesprochen. Die Zeremonie der Heirat ist ein ausgesprochenes Männerfest. Sie feiern, schlagen sich die Bäuche voll, unter Ausschluss der Frauen. Ähnlich wie bei uns vor dem Pfarrer geben sich die beiden vor dem Mullah das Ja-Wort, verspricht die Frau ihrem Manne zu gehorchen. Die Abhängigkeit der Frau, Schutz und Befugnisse über ihre Person, gehen bei der Heirat von ihrer Familie auf ihren Mann über. Hakim, der älteste Sohn, ist Schafhirte. Nahe der Weidestelle findet er einen verwundeten Mudjahedin. Mit einem Stück seines Schals verbindet Hakim den verwundeten Kämpfer notdürftig und bringt ihn anschliessend mit Hilfe von Djuma in die Vorratskammer ihres Hauses. Am nächsten Morgen finden sie ihn tot, an den Folgen seiner Verletzungen erlegen. Die Anfangssequenz wiederholt sich, diesmal wird Hakim verhaftet, der sich durch das fehlende Stück Stoff an seinem Schal verraten hat. Djuma beschliesst darauf, Haus und Heimatdorf zu verlassen. Mit dem Notdürftigsten ausgestattet, flieht er mit Mutter, Schwester, Frau und Enkeln nach Pakistan. Von einem Fluchthelfer wird ihnen der Weg erklärt. Für seine Dienste knöpft er der Familie den Lastesel ab. Ein Nomade, der ihnen durch das unwegsame Gebirge zur pakistanischen Grenze hilft, nimmt die Milchkuh entgegen. Der Rest ihrer Habseligkeiten wird den Flüchtlingen schliesslich von Banditen geraubt, so dass sie zuletzt völlig mittellos im Flüchtlingslager eintreffen. Herausgerissen aus überschaubaren, klaren Strukturen leiden sie an Orientierungsschwierigkeiten (die Flüchtlingslager zahlen bis 800000 Menschen). Mina, die Schwester Djumas, wird verschleppt und an einen einflussreichen Händler verkauft, der sie zur Frau nimmt. Dass sich Leila als Frau allein auf den Markt wagt, um Lebensmittel zu besorgen, wird auch unter erschwerten Umständen nicht toleriert. Um die sich mit der Zeit angesammelten Schulden zu begleichen, lässt sich Leila auf den sexuellen Vorschlag des Lebensmittelhändlers ein und begibt sich zu ihm nach Hause. Leila begeht damit eine Todsünde. Nach den Stammesregeln bleibt Djuma keine Wahl; um seine Ehre zu retten, muss er seine Frau ermorden.

Rissi und Kasi haben für ihren Film eine einfache, chronologische Erzählstruktur gewählt. Die einzelnen Szenen beschränken sich auf das Wesentliche, sie wirken dadurch kompakt und eindringlich. In die Filmgeschichte integriert vermitteln uns die Realisatoren eine Fülle an Informationen über die Lebensweise der Afghanen, sicherlich ein Verdienst von Zmarai Kasi. Der Erzählfluss wird vor allem in der ersten Hälfte des Films mit längeren Einstellungen der wunderschönen Landschaft unterbrochen. Die Bilder einer kargen, ausgeprägten Topographie geben Raum zu Reflexion, verwurzeln die Handlung für uns westlich geprägte Menschen nachvollziehbar im Boden der afghanischen Realität. Der Spielfilm erhält damit einen durchaus gewollten dokumentarischen Charakter, ohne dabei einem weinerlichen Zeigefinger-Pathos zu verfallen. Die Szenen, welche sich in den Flüchtlingslagern abspielen, geben die schwierigen Verhältnisse und Zustände, die miserablen sanitären und existentiellen Bedingungen, denen die Flüchtlinge ausgesetzt sind, nachhaltig wieder. Der Film ist neben der Schilderung des Flüchtlingsschicksals ebenso eine Darstellung der Stellung der Frau in dieser archaischen Kultur. Die Frauen sind und bleiben in ihrer Rolle gefangen. Die ausgeprägten, patriarchalen Gebärden der Männer treten in keiner Weise zurück, bestimmen die Gesetze die Kultur. Ihrer Geschichte verhaftet, müssen sich die Frauen, gewollt oder ungewollt, unterordnen. Ghame Afghan ist ein Beitrag zum Verständnis der afghanischen Flüchtlingsproblematik. Er stellt in diesem Sinne den Menschen in den Mittelpunkt der Geschichte, regt die Betrachterinnen zu Überlegungen an. Der Film liefert keine geschichtliche Aufarbeitung des Afghanistankonflikts, über die politischen und wirtschaftlichen Interessen, die hinter dem Konflikt stehen, erfahren wir nichts. Er ergreift nicht Partei für eine bestimmte Ideologie. Ebenso undurchsichtig wie zuvor bleibt der Konflikt zwischen den einzelnen Mudjahedin-Gruppen sowie deren Machtstrukturen. Das Publikum bleibt in dieser Hinsicht mit einer Palette von Fragen auf dem Stuhle sitzen. Wieso Djuma aus seinem Heimatdorf flüchten musste, bleibt im Raume stehen. Die Frage erübrigt sich allerdings, wenn wir uns die effektive Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan vor Auge halten. Als Dokument dieser verrückten Realität ist Ghame Afghan ein vehementer Anti-Kriegsfilm, der in Erinnerung bleibt. Er fordert uns auf, gegen die Kriegshetzer dieser Welt anzukämpfen, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und den Rassen zu beseitigen. Ein Welt-Thema, und doch ein Film über und für Afghanistan.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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