CYRIL THURSTON

AUGENBLICK (FRANZ REICHLE)

SELECTION CINEMA

Augenblick ist eine feinfühlig erzählte Liebesgeschichte. Wichtig ist nicht die Geschichte, die Story, sondern sind die Bilder, mit denen Franz Reichle ein Gewebe von Gefühlen, Erfahrungen, von Freud und Leid, von Verliebtheit und Trennungsschmerz darstellt. Es sind Bilder eines intensiven Innenlebens, des Innenlebens von Frank und Stefanie, die, zuerst kopflos ineinander verliebt, den nagenden Zahn des mit der Zeit in die Beziehung eindringenden Alltagsgeschehens bald zu spüren bekommen. Der Verlust des Realitätsbezugs in der Phase der ersten Verliebtheit ist ein Gefühl, das wohl allen vertraut ist. Um so schmerzlicher brechen gewöhnlich nach dieser ersten Phase die Frustrationen des Alltags, der immer noch ungelösten individuellen Probleme über einen herein. Man kann sich nicht mehr verstecken hinter dem Gefühl einer bedingungslosen Verliebtheit.

Stefanie, von ihrer Arbeit frustriert, vermag nicht mehr mit Frank zu schlafen. Er, seinerseits verletzt, verweigert Stefanie die Geborgenheit und stosst sie zurück. Die Schwierigkeit ist, dass solche Probleme, die immer mit Verletzungen verbunden sind, sich nicht fortschreitend in eine Richtung entwickeln. Schwer zu sagen, inwieweit man den Verlauf einer Beziehung als schicksalsgegeben betrachten muss, oder inwieweit und mit was für einem Verhalten man einer sich als negativ abzeichnenden Entwicklung Einhalt gebieten kann. Frank und Stefanie ist es auf jeden Fall nicht gelungen, diese Schwierigkeiten aufzufangen, nein, sie haben sich immer mehr auseinandergelebt.

Die Gegenwartsgeschichte des Films beginnt mit einer Reise der beiden ans Meer. Sie wird zum Bewältigungsversuch ihrer Beziehungsschwierigkeiten, den sie zwar erst nach ihrer Trennung angehen. Zu nahe liegt all der erlebte Schmerz, die unbewältigten Probleme, als dass sie sich spontan, wenn auch diesmal nicht in einer Liebesbeziehung, wieder finden könnten. All die alten Geschichten quellen an die Oberfläche und verunmöglichen ein entspanntes, freudiges Zusammensein. Frank kann nicht akzeptieren, dass Stefanie sich erneut verliebt hat und reagiert nach altem Muster verletzt, zurückweisend, sich schützend. Erst am Schluss des Films finden die beiden für sich wieder einen Boden, eine reale Möglichkeit einer ungezwungenen Begegnung, die ihnen auch erlaubt, sich erneut spielerisch abzuheben.

Eingetaucht ist diese individuelle Geschichte in ein Klima des Widerstands. Widerstand gegen die Integration in eine funktionierende, kleinbürgerliche Welt. Mittels Fotografien und Sprayschablonen bringt Franz Reichle eine Welt ein, die ihren Atem aus den für viele hoffnungsvollen 80er Unruhen bezieht. Die Hoffnung auf ein neues Leben kann sich für Frank und Stefanie nicht im Weiterfahren auf dem Gleis der bisherigen kulturpolitischen Entwicklung konstituieren. Sie wollen nicht reproduzieren, was sie von ihren Eltern kennen, was ihnen bei jedem Schritt in der Öffentlichkeit ins Gesicht schlägt. Doch sie scheitern letztlich nicht an äusseren, gesellschaftspolitischen Problemen, sondern an ihrer eigenen, verinnerlichten Problematik, die die Beziehung in Brüche gehen lässt.

Franz Reichle hat einen sensiblen, feinfühligen Liebesfilm geschaffen, der sich neuer, unkonventioneller Bilder bedient. Vibrierende, ästhetische, skizzenhafte Bilder. Dem Film haftet etwas Unfertiges, Unabgeschlossenes an; einer der wenigen Filme, die dem Zuschauer noch erlauben, sich ein eigenes Bild vom Gesehenen zu formen. Dazu Reichle: „Ich mag Skizzen lieber als Produkte, die bis zum Exzess perfektioniert sind und dadurch die Enge einer absoluten Schlussformulierung ausstrahlen. Skizzen lassen mehr Raum offen, obwohl sie genauso auf das Wesen des Grundsätzlichen verweisen. Skizzen beinhalten das Leben. Endprodukte beinhalten oft den Tod. Skizzen beinhalten Bewegung, die bei Endprodukten weggeglättet wird. Fehler, Ecken, Ungereimtheiten fordern zum Dialog auf, regen Kommunikation an, weil sie menschlich sind. Eine Skizze ist eine Vision oder eine Idee von etwas. Sie hat nicht die Anmassung zu wissen, was richtig ist.“

Die einzige Schwachstelle des Films ist der Hauptteil der Dialoge. Sie wirken zu aufgesetzt, zu gestellt neben den eine starke Menschlichkeit ausstrahlenden Bildern.

Zu den schönsten Szenen gehört die Schlusssequenz des Films, in welcher Frank und Stefanie nach erneutem Vertrauensgewinn zu einer spielerischen, abgehobenen Ebene finden. Das sind Szenen einer ausserordentlichen visionären, utopischen Kraft, die die Hoffnung und die Lebenskraft einer Nach-80er-Generation zeigen und diese nicht gleich in Resignation und Abstumpfung verstummen lässt.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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