CYRIL THURSTON

DER SCHWARZE TANNER (XAVIER KOLLER)

SELECTION CINEMA

Der Schwarze Tanner ist eine Adaption der gleichnamigen Erzählung von Meinrad Inglin, die im Jahre 1947 erschienen ist. Xavier Koller hält sich in seinem Film aber nicht verbindlich an die Vorlage. Er verwendet und interpretiert die literarische Grundgeschichte, schildert sie aus der Sicht heutiger realpolitischer Streitpunkte.

1941 verfügt der Bundesrat im Rahmen des “Plans Wahlen”, der sogenannten Anbauschlacht, die Vieh- und Milchwirtschaft sei zugunsten des Ackerbaus zu reduzieren. Um den Sinn ihres Befehls verständlich zu machen, ihn zu popularisieren, bedient sich die Landesregierung unter anderem einer Wochenschau. Doch die Bergbauern von Unter- und Oberschwend lassen sich von diesem Propagandastreifen nicht blenden. Sie verweigern sich dem Befehl, beschliessen, dass sie sich dagegen auflehnen wollen. Nach finanziellen und rechtlichen Drohungen des Staates bröckelt der Widerstand ab, die Bauern fügen sich, einer nach dem andern, der Verordnung aus Bern, Allein Kaspar Tanner behält seinen Standpunkt bei; das Gesetz ist gegen die Natur und somit Unrecht. Tanner verweigert sich der Staatsräson. Er negiert die Aufforderung, Kartoffeln und Weizen anzubauen, weigert sich, dieser auferlegten Pflicht Folge zu leisten. Die Staatsgewalt reagiert geharnischt, sie will solchem Ungehorsam natürlich nicht nachgeben. Sie betrachtet den Fall Tanner als eine Herausforderung ihrer Machtansprüche, statuiert an ihm ein Exempel. Kaspar Tanner und seine Familie bekommen Repressalien zu spüren. Um den unnachgiebigen Trotzkopf in seiner Existenz zu treffen, wird ihm zur Strafe Heu enteignet. Tanner lässt sich nicht kleinkriegen, doch als die Staatsvertreter ihn zudem noch beim Schwarzhandel erwischen und er weiterhin keine „Einsicht“ zeigt, verhaften sie ihn schliesslich. Im Gefängnis widersetzt sich Tanner weiterhin der staatlichen Autorität. Er tritt in den Hungerstreik und lehnt jegliche Nahrungsaufnahme kategorisch ab. Weder Alplernahrung noch das Zureden des Dorfpfarrers können Tanner in seinem Entscheid umstimmen. Der Staat scheint endlich nachzugeben — das wäre zu schön —, die restlichen Hafttage werden Kaspar Tanner erlassen. In der Staatskarosse lässt sich Tanner, da er sich weigert, auch nur einen Schritt zu tun, in seine Heimat zurückfahren. Das Schlussbild: Kaspar Tanner liegt tot im Schnee, neben ihm sein heulender Hund.

Koller berührt in seinem Film die Frage nach der Zumutbarkeit von staatlichen Beschlüssen. Einmal attackiert er den in der Geschichtsschreibung bislang unangefochtenen Plan Wahlen. Er enthält sich dabei einer Interpretation, behandelt die Auswirkungen, den Sinn und Unsinn dieses Gesetzes für die Landesverteidigung nicht näher. Er greift bloss auf, stellt mit seinem Film zur Diskussion. Was ihn mehr interessiert, ist die Frage nach der Berechtigung des Anspruchs des Einzelnen, Widerstand gegen die Staatsgewalt zu leisten. Soll, darf und kann sich ein freier Bürger gegen einen Befehl des Staates, dessen Absurdität er erkannt zu haben scheint, zur Wehr setzen?

Kaspar Tanner ist ja nun gewiss kein sogenannter Staatsfeind. In den Clinch mit dem Staat kommt er aber da, wo dieser ihm seine Eigenverantwortung entziehen will, wo ihm als selbständiger Bergbauer plötzlich vorgeschrieben wird, was er zu tun hat, und was er besser bleiben lässt. Tanner wehrt sich vehement und bis aufs Äusserste entschlossen gegen einen derartigen Eingriff des Staates. Den Bemühungen einer bedingungslosen Integration setzt er seine eigenen Gesetze und Erfahrungen und die Gesetze der Natur entgegen.

Und bist du nicht Willens, so brauch ich Gewalt: Die Methoden des Staates, zivilen Ungehorsam zu brechen, haben sich bis heute nicht verändert. Der Staat demonstriert nach wie vor seine Hegemonie-Ansprüche, setzt Präjudiz um Präjudiz. Er zeigt damit aber gleichzeitig auf, dass die Machtausübung einiger Beamter, denen, hinter Akten, Fakten und Artikeln verborgen, die Sicht der Realität abhanden gekommen ist, nicht unangreifbar ist. Woran Widerstand vielfach scheitert, zeigt Xavier Koller präzise und differenziert in der Person des Ackerbauleiters Steiner. Dieser begreift zwar ebenfalls die Absurdität, ein solches Gesetz in den Berggebieten durchzuzwängen, ja er hat sogar Sympathien für das widerspenstige Verhalten Tanners. Doch er kann sich nicht durchringen und klar Stellung beziehen. Dafür verhilft er als Ackerbauleiter einer ihm blödsinnig erscheinenden Verordnung zum Durchbruch, schlimmer noch, er steht dem Rechtsstaat bei der Durchsetzung eines gegen jegliche Vernunft schreienden (Un-)Rechts bei. Steiners Mitleid gegenüber Tanner ändert nichts am Gang der Dinge. Ob Tanner den Widerstand mit dem Tod bezahlen muss, lässt der Film offen!

Xavier Koller hat diesen umfänglichen Interessenskonflikt in den Rollen der einzelnen Figuren dramaturgisch fein gestaltet. Die Darstellerinnen, allen voran die Interpreten von Tanner (Otto Mächtlinger) und Steiner (Dietmar Schönherr), setzen ihr Profil und Können mit Überzeugungskraft ins Spiel. In der Schilderung der Geschichte setzt Xavier Koller auf klare, vertraute Erzählstrukturen. Die Montage bleibt geradlinig fortlaufend; die Handlung einfach nachvollziehbar. Die logische Abfolge der Bilder wird nie gebrochen, sie bleibt von Anfang bis Schluss im Dienste einer präzisen Nacherzählung der Handlung. Diesen Anspruch erfüllen die Bilder in hervorragender Weise. Meisterhaft fotografiert, vermitteln sie uns die Stimmung der Geschehnisse. In der Bildgestaltung entdecken wir oftmals symbolische Gleichnisse der gegebenen laufenden Handlung. Der Schwarze Tanner ist — in Aufbau, Darstellung und Schauplätzen — ein Kino, das dem Heimatfilm nahekommt. Entgegen der geschmäcklerischen Form der Heimatfilme der 50er Jahre ist der Film von Koller (wie übrigens auch Fredi M. Murers Höhenfeuer) eher eine klug inszenierte Parabel. Xavier Koller bedient sich einer überschaubaren Grösse und Struktur. In sie hinein stellt er die Umsetzung aktueller Themen. Der Inhalt des Films wird so für jeden Menschen transparent und erkennbar. Xavier Koller hat seinen Film auf ein möglichst breites Publikum zugeschnitten. Er hat sich daher, speziell in formaler Hinsicht, mit Experimenten in der Gestaltung zurückgehalten, hat sich stark an gängigen Konventionen orientiert. Der Schwarze Tanner begibt sich somit in Gefahr, in der Masse der lauten, finanziell aufwendigen Kommerzstreifen unterzugehen. Dennoch ist Der Schwarze Tanner ein Film, in dem Unterhaltung und Sozialkritik beispielhaft und treffsicher miteinander verbunden sind.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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