MARKUS JAKOB

ANHANG — LUDWIG HOHL — EIN FILM IN FRAGMENTEN VON ALEXANDER J. SEILER

CH-FENSTER

Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoffe. Was in der Sprache lebt, lebt mit der Sprache.

Diese Sätze von Karl Kraus treffen genau die Verjüngung der Kunst Ludwig Hohls, die Empfänglichkeit für die neu erschienenen «Notizen». Lassen sie sich getrost auch von der Sprache aufs Bild übertragen? Einerseits auf die von Seiler gefundenen Filmbilder, deren Stoff Hohl ist und die zwar bestenfalls ein Anhang zum Werk sind; doch muss sich das bildliche Koordinatensystem Seilers mit dem sprachlichen Hohls decken — in den Hauptachsen ... — andrerseits auf das Bild Hohls selbst, das dank Seilers Arbeit schärfer umrissen weiterlebt als das jener seiner Zeitgenossen, die ihn an Publikumswirkung zu Lebzeiten bei weitem übertrafen und die, weil sie auf Vorschuss lebten, keinen Nachlass haben, jetzt aber, sogar hinsichtlich der Beschreibung des äusseren Weges, dem Hohl ja ausdrücklich keinen Wert beimass, von diesem in weitem Bogen überholt werden. Denn davon dürfen wir ausgehen, dass die Veranschaulichung der Umstände, unter denen Hohls Werk entstand, auch eine Selbstlebensbeschreibung ist — in Zusammenarbeit mit Seiler und mit zeitgemässen Mitteln. Hohl war einverstanden, sich selbst zu spielen in einem Film des Lesers, der ihn in den letzten zwanzig Jahren immer wieder in Genf besucht und der in der Wohnung des Schriftstellers «stets ein Stück Selbstdarstellung, um nicht zu sagen Selbstinszenierung» empfunden hatte. Der Film zeigt Hohl lesend aus seinem Werk, er zeigt ihn als alltäglichen Schauspieler in seiner Wohnung und am Fusse des Salève, und er führt (ohne Hohl) die wichtigsten Stationen seiner Biographie vor — «doch verstehe ich nicht recht, was für ein Interesse solche Dinge haben können?»

Diesen dem Film innewohnenden Widerspruch haben beide, Hohl und Seiler, genau erkannt.

Hebt sich so der Widerspruch auf, dass Hohl das Werk als das Alleingültige bezeichnet, und dennoch die nie geschriebene Biographie illustrieren lässt? «Was für ein Interesse solche Dinge haben können?» — seine Leser werden es ebenso wenig begründen können und sich gleichwohl dazu hingezogen fühlen.

«So sieht einer aus, der ums Ganze spielt und seine Existenz dafür verpfändet» — aha — ist das nur eine ungeschickte Formulierung Adolf Muschgs? Wäre der Film so, würde sich hier die Kluft öffnen zwischen Absicht und Ergebnis, und Seilers Forderung, die Legende Hohls müsse endlich hinter seiner Wirklichkeit zurückbleiben, hätte sich in ihr Gegenteil verkehrt. Der indiskrete Charme der Eingeweihten! Doch niemand wird es Seiler vorwerfen, Hohls Vertrauen (und ein umfassendes Vertrauen war Voraussetzung dieser Produktion) missbraucht zu haben, z. B. weil er die Kamera laufen liess, als jener, betrunken, murmelte: «Absolut nicht nötig, das aufzunehmen.»

— Aber wenn man Hohl nicht beim Wort nimmt...?

—... muss man ihn bei der Visage nehmen. Ist es Literatur, oder ist es Film?

Und es war doch kein Scherz.

Aber Hohl wusste natürlich...

Schauen ist tatsächlich alles, Wissen geht immer fehl (das heisst das Wissen, das dauern will; das höchste Wissen kann nur einen Moment bestehen, eben den Moment, da es entsteht, im Schauen enthalten ist).

Schauen ist auch noch darum alles, weil es durch die vielen Kulissen, durch die vielen wie Kulissen, oder wie Blätter, hintereinanderstehenden Manifestationen des Dings, hindurchgehen kann; wogegen das Wissen fälschlicherweise nur immer auf einen Plan — während es doch viele gibt— abstellen muss. (Die Notizen XII, 34)

Seiler arbeitet mit den Widersprüchen, die sich aus seinem Sujet ergeben. Die wie ein Motiv im Film mehrmals wiederkehrenden Einwürfe Hohls hat er in voller Bewusstheit eingebaut. Er legt damit seine Methode offen, und das Offenlegen gehört zur Methode. Deren hauptsächlichstes Merkmal ist aber gerade die Trennung von Bildern und Wörtern: diese sind beinahe ausschliesslich Hohls Domäne; über jene verfügt Seiler mit Behutsamkeit, soweit das fait accompli des belichteten Materials dieses Attribut zulässt. Denn dem Dokumentarfilm wohnt ja naturgemäss inne, dass er Nuancen und Details zwar bannen, aber auch beim Schnitt nicht unendlich weiter nuancieren und detaillieren kann. Für die Bilder gilt ebenso wie laut Hohl für die Gedanken, dass sie «schon da» sind. Seiler hatte sie nur zu finden. Es sind, und das ist ihre Qualität, naheliegende Bilder: sie liegen am Weg und sie liegen im Werk Hohls, auch wenn sie stellvertretend sind: der Berg, der Arbeitsraum. Und der Schreibtisch, die blanke, nur selten mehr benützte Fläche, ist der eigentliche Drehpunkt des Films, in dem Bild und Gedanke eins werden. In den quantitativ wie qualitativ bedeutendsten Passagen des Films liest Hohl aus seinen Büchern. Und diese Fragmente aus einem grossen Werk, mit ungemeiner Genauigkeit der Betonung gelesen, scheinen dabei noch einmal — für den Film — neu gedacht und neu geschaffen zu werden. Hier wird klar, dass dieser Film Hohls vielleicht letzte Arbeit war.

Ludwig Hohl — ein Film in Fragmenten. B, R, Schnitt: Alexander J. Seiler; K: Pio Corradi; T: Florian Eidenbenz, Luc Yersin; P: SRG und Zyklop Film AG Zürich. 16 mm, Farbe, 73 Minuten.

Markus Jakob
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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