CHRISTOF SCHERTENLEIB

POSITIVE ODER NEGATIVE PROFESSIONALITÄT? — FILMKOLLEKTIV 1982: DIE UNTERBROCHENE SPUR UND WEGE UND MAUERN

CH-FENSTER

Eine Hoffnung, neue filmische Formen vermittelt zu bekommen, eine Garantie für engagierten Filmjournalismus, Versuche, die Herstellung und Auswertung von Filmen zu revolutionieren, das sind für mich Stichworte zur Arbeit des Filmkollektivs Zürich. Nach zwei Jahren Unterbruch, nach Aufpassen macht Schule (1978), Kollegen (1979) und Gossliwiler Trilogie (1980) sind jetzt gleich zwei vom Filmkollektiv produzierte Werke entstanden, die zumindest einen formalen Vergleich provozieren. Für Die unterbrochene Spur zeichnet Mathias Knauer, für Wege und Mauern Urs Graf zusammen mit Walter Brehm, Claudio Raveane, Rob Gnant verantwortlich.

Äussere Gemeinsamkeiten: Beide Gruppen haben ihre Recherchen fast unheimlich umfassend und genau durchgeführt, ihre Arbeit intensiv vorbereitet, sich für ihr Anliegen mit grossem Engagement eingesetzt; ihre Materialien und Informationen zum Thema und zur Entstehung des Films sind umfangreich.

Ohne Zweifel, die Arbeiten des Filmkollektivs und wahrscheinlich das schweizerische Dokumentarfilmschaffen überhaupt sind endgültig erwachsen und im positiven wie negativen Sinn professionell geworden. Die filmische Form lebt schon lange nicht mehr von Zufälligkeiten, von unvorhergesehener Spontanität, eine vorbereitete, ausgeklügelte Dramaturgie verhindert jeden Ausrutscher. Beide Gruppen haben ihr Thema und damit auch ihre eigene Betroffenheit voll im Griff; sie versuchen ganz bewusst eine bestimmte Wirkung, Reaktion zu erzielen. Der Geist, die intellektuelle Berechnung hat über das Gefühl gesiegt; wo früher Provokationen standen, stehen heute unkommentierte Fakten, für sich sprechende Momentaufnahmen. Agitation und Provokation schwelt höchstens in der Super-8- und Videoszene weiter (vgl. Züri brännt vom Videoladen Zürich und Heute und danach von Christoph Müller).

Es ist damit, ähnlich wie im Spielfilmbereich mit Das Boot ist voll, Der Erfinder, Die Schweizermacher, eine Kategorie von Werken entstanden, gegen die ein engagierter Zuschauer eigentlich nichts haben und sagen dürfte. Aus Angst, eine Kritik an der Form könnte das gutgemeinte Ziel, die Absichten zerstören, verschweigt der patriotische Filmbegeisterte seine Zwiespältigkeit und stimmt in die reservierte Lobeshymne ein. Denn er schätzt ja diese Werke immer noch hundert Mal mehr als irgendein pseudosozialkritischer, aalglatter Amischinken.

Diese aus verschiedenen aufgeschnappten Meinungen und Feststellungen zusammengebastelte Tendenz ist wahrscheinlich symptomatisch für einen Grossteil der Schweizer Filmkritik und des Schweizer Filmpublikums. Hier scheiden sich die Geister: die einen befürworten professionelle, dramaturgisch effektvoll gebaute, attraktive, publikumsfreundliche Filme, die anderen plädieren für Spontanität, tendenziöse Subjektivität, oder wie die Auswahlkommission von Solothurn für «Kreativität, Anarchie, Unbekümmertheit und Unverfrorenheit gegenüber etablierten Normen». Diese Zweiteilung mag zwar im Dokumentarfilmbereich weniger ausgeprägt sein, und doch hat zum Beispiel die Aufnahme von Bruno Molls Samba Lento genau diese Ambivalenz wiedergegeben.

Eine ähnliche Ambivalenz bestimmt auch mein Verhältnis zu den neuesten Arbeiten des Filmkollektivs. Da sind bei mir auf der einen Seite Bilder und Töne hängengeblieben, lassen sich nicht mehr verdrängen, und andererseits habe ich Mühe, einen Zugang zu den beiden Filmen zu finden, so geschliffen, abgerundet, offenbar bereits nummeriert und archiviert habe ich das Gesamte in Erinnerung.

Doch kommen wir endlich zum Thema. Um Freiheit und Unfreiheit, um Legalität und Illegalität oder was wir darunter verstehen, wie wir mit diesen Begriffen jonglieren, geht es in beiden Filmen. Antifaschisten in der Schweiz 1933-1945, ihr geheimes, damals illegales, im Rückblick für viele heroisch legalisiertes Wirken während der Hitlerzeit, untersucht Mathias Knauer in Die unterbrochene Spur. Ein Gefängniswärter und ein Gefangener, die Freiheiten und Unfreiheiten, die unser Strafvollzugssystem für heutige Illegalitäten vorsieht, stehen in Wege und Mauern im Mittelpunkt.

«Gegenstand des Films», schreibt Mathias Knauer in der Dokumentation zu Die unterbrochene Spur, «wenn man schon einen solchen bestimmen will, ist nicht eigentlich die Emigration und der Widerstand, sondern die Spur. Es ging mir nicht darum, in irgendeiner Hinsicht ein vollständiges Bild auch nur eines Aspekts der Epoche zu zeichnen.» Ein fragmentarisches Bild also über Antifaschisten, vom Faschismus Bedrohte, die während der Hitlerzeit in die Schweiz flüchteten, über Schweizer, die den Antifaschisten bei ihren illegalen Grenzüberschreitungen, bei ihrer politischen Tätigkeit geholfen haben, über die Schweiz, wie sie auf diese Aktivitäten reagierte. «In fast schon monomanischer Recherchenmethode» hat Mathias Knauer dazu «über 150 Personen persönlich aufgesucht, über 100 Bücher durchgearbeitet, eine Kartei von wohl 3000 Personen — Emigranten und Schweizer — angelegt». Er hat «die Spuren vieler Verschollener verfolgt, in der Hoffnung, ein Motiv für den Film zu gewinnen», und hat «Beziehungen rekonstruiert zwischen Personen, die einander aus konspirativen Gründen nicht gekannt haben». Verarbeitet hat er das Material schliesslich in 28 Sequenzen und einem Prolog. Er zeigt die Gegenden, Strassen, Wohnungen, wo die Emigranten und ihre Schweizer Helfer gehaust und gewirkt haben. Er besucht damals aktive Antifaschisten oder ihre Angehörigen und lässt sie vor der Kamera erzählen, ihr Wirken rekonstruieren. Auch Akten, Broschüren, Zeitungen, Bücher, Filmausschnitte finden Eingang in verschiedene Sequenzen, als handfestes Beweismaterial, als Ergänzung zu persönlich gefärbten Erinnerungen. Ganz am Rande lässt sich der Autor selbst zu Wort kommen. Etwa im Prolog, wenn er die unberührte Gegend in Büren an der Aare zeigt, wo er sich als Kind oft aufgehalten hat, ahnungslos, dass sich hier während dem Zweiten Weltkrieg ein Arbeitslager befand, eine Barackenstadt mit 186 Bauten, die zeitweise 5000 zivil und militärisch Internierte beherbergte. Oder in der Schlusssequenz, wenn er ein Haus am Untersee zeigt, wo er als Kund Grenzwächter gespielt hat, nichts von schweizerischer Asylpolitik wissend, und ahnungslos, dass am gegenüberliegenden Ufer ein jüdischer Friedhof steht. Mathias Knauer kann sich noch genau erinnern, dass bei diesen Spielen die Grenzwächter die Guten waren, die die bösen illegal Eingereisten natürlich mit Stolz erwischten. Auch wenn Knauer diese persönlichen Stellungnahmen für mich schulmeisterlich, zu sehr mit dem Zeigefinger im Stil von «auch ich habe als kleiner Bub von diesen schlimmen Dingen nichts gewusst», eingebracht hat, schätze ich sie doch viel mehr, als die eher trockene, intellektuelle Art, mit der er sich sonst mit seinem Stoff auseinandersetzt. Da fehlen mir oft die Bilder, das Filmische zu den entsprechenden Informationen, und mein Verdacht steigt, dass der Autor dieses Manko mit einem wohlformulierten theoretischen Konzept zu überdecken versuchte.

Mit musikalischen Elementen sucht der langjährige Musikkritiker sein Material zu gestalten. «Es ist ein Film aus einer Reihe von Fragmenten, die nur unterirdisch kommunizieren, wie Sätze eines Musikstücks», schreibt er. Das Ganze steht unter dem Stichwort der «Parataxe», wobei jetzt «ein Resultat der Kürzungsarbeit, eher ein rhapsodisches Wesen regiert». Abgesehen davon, dass ich diese und weitere Sätze aus Knauers Erläuterungen nur mit dem Fremdwörterlexikon lesen kann, lässt sich mein Verdacht nicht besänftigen, dass der Autor die Übersicht über die immense Materialfülle verloren hat. Um das zu überdecken, um im Film etwas Abgeschlossenes zu erhalten, erhebt er das Fragmentarische zum Stilmittel, zwängt die Informationen in ein theoretisches Konzept, das für mich zumindest nicht überall einleuchtend war. Doch zum Glück gibt es auch Sequenzen mit Widerhaken, Bilder die sich einbrennen und ihre Wirkung nicht verlieren. Ich denke etwa an den holprigen Amateurfilm von 1940 über das Arbeitslager in Büren an der Aare, an die beschönigenden Wochenschauaufnahmen über Kinderhilfsaktionen, an einzelne Gesichter der sich erinnernden Antifaschisten, an Reclamhefte, deren «konspirativer» Inhalt sich erst mit der Lupe entziffern lässt.

Der Informationswert des Films ist damit auch für mich unbestritten. Dass Mathias Knauer, wie der Zürcher Regierungsrat bei der Ablehnung des Gesuchs um einen Drehbuchbeitrag schreibt: «Die Flüchtlingspolitik der Schweiz während dem Zweiten Weltkrieg in ein schlechtes Licht rücken will» und eine polemische Art der Darstellung, die viele Aspekte völlig verschweige, gewählt hat, glaube ich nicht. Inwiefern er allerdings sein Ziel—«im Herausarbeiten des Widersprüchlichen sehe ich meine Aufgabe, wenn ich heute jene Epoche der Geschichte unseres Landes meiner eigenen Generation und den noch jüngeren zur Diskussion vorschlage» — erreicht hat, kann ich als «noch jüngerer» zu wenig beurteilen. Ich gehe aber mit Knauer einig, dass es sich lohnt, «mit Gegenwärtigem, Sichtbarem, Zeigbarem auf das Unsichtbare, Abwesende, Vergangene, Verschollene, Vergessene zu verweisen» und nicht, «wie Kostümfilme über die Nazizeit es versuchen, gemachter Schein einer Abbildung der damaligen Ereignisse zu sein, sondern ein Produkt der Gegenwart und eigener Dignität».

(Faschismus, Antifaschismus der Gegenwart heisst für mich — hier in Wien, wo ich zurzeit lebe — aber auch, dass sogar 1982 ein hoher bürgerlicher Politiker veranlassen kann, dass in seinem Stammlokal ein Koch mit einem Davidsstern um den Hals seinen Job verliert, und dass ein Professor unbehelligt mit einem Hitlerschnäuzchen an einem Faschingsfest erscheint und seine Informationen u. a. in Büchern der SS und SA sucht. Ein Film darüber würde aber eher «Die ungebrochene Spur» heissen und wäre so brisant, dass er erst in 37 Jahren realisiert werden könnte.)

Mit Ausnahme von Die unterbrochene Spur haben sich alle vom Filmkollektiv Zürich produzierten und realisierten Filme direkt mit Aspekten der Gegenwart auseinandergesetzt und nach Ansätzen zu Veränderungen gesucht. Wege und Mauern von Urs Graf setzt diese Tradition fort. In den Materialien zum Film heisst es beispielsweise:

Unser Film soll Fragen stellen zum Gefängnis, also zur Gesellschaft, in der es Gefängnisse gibt, also an uns, die strafen und ausschliessen, die bestraft und ausgeschlossen werden, die mit Strafe und Ausschluss drohen, die von Strafe und Ausschluss bedroht sind. Nicht nur durch Gefängnisse.

Um diese Fragen stellen zu können, hat Urs Graf sich seit dem Herbst 1979 intensiv vorbereitet und mit dem Thema beschäftigt. Während zwei Jahren half er zum Beispiel eine Diskussionsgruppe der Strafanstalt Lenzburg betreuen. Vorbereitet hat er den Film zusammen mit den beiden porträtierten Hauptpersonen Jo Betschard und Paul Seiler. Paul Seiler ist seit 19 Jahren Aufseher der Strafanstalt Lenzburg. Er bewarb sich für die Stelle, weil er etwas Richtung Sozialarbeit tun wollte und ist, obschon er sich wenig für die Betreuung der Gefangenen einsetzen kann und eher für Ruhe und Ordnung sorgen muss, hiergeblieben. Als Aufseher ist Paul Seiler ein Aussenseiter, dem es oft Mühe macht, seinen Auftrag im Sinne des Pflichtenheftes zu erfüllen, der sich oft «zu stark» auf die Seite der Insassen stellt. Er hat sich in einer typisch schweizerischen Kompromisshaltung eingependelt und denkt, dass es im relativ liberalen Lenzburg zwar nicht optimal sei, dass für ihn hier aber doch einiges möglich ist. Die andere Hauptperson ist der 24jährige Jo Betschard. Nach einer Jugend bei der Grossmutter, bei Pflegeeltern und im Kinderheim, nach einem Aufenthalt in der Arbeitserziehungsanstalt und zweieinhalb Jahren in der «Freiheit» wurde er wegen Einbruchdiebstahl, Brandstiftung und Beihilfe zu schwerer Körperverletzung in Lenzburg eingesperrt. Noch während der Dreharbeiten zu Wege und Mauern wird Jo Betschard bedingt entlassen, doch zwei Monate später erneut bei einem Einbruchdiebstahl erwischt. Mit diesem resignativen Schluss, mit einem Brief von Jo an Urs Graf hört Wege und Mauern auf und fasst so noch einmal deutlich zusammen, was während dem ganzen Film herausgearbeitet wurde: Dass ein solches Strafvollzugssystem kaum einen Menschen «zur Besserung» bringt, sondern nur seinen Hass steigert.

Formal setzt Urs Graf sein Thema so um, dass er Momentaufnahmen aus dem Leben der beiden Hauptpersonen miteinander konfrontiert, ohne die beiden direkt zu konfrontieren oder sie gegeneinander auszuspielen. Er schreibt: «Stilistisch sollen sich die Aufnahmen von Gefangenen und Aufseher in nichts unterscheiden», das heisst, dass sie «sich voll auf das subjektive Erleben einer Person einlassen und im gleichen Fall sich auch voll auf das subjektive Erleben einer anderen Person einlassen». Das ist dem Film so gut gelungen, dass mir die beiden Personen als Menschen wirklich nähergebracht wurden. Mir ging aber dabei der Blick aufs Ganze, etwa allgemein auf das Strafvollzugssystem verloren, ich identifizierte mich zu sehr mit dem Einzelschicksal und hatte etliche Mühe, mich davon zu lösen. Das hängt unter anderem mit der dramaturgischen Gestaltung zusammen. Gefangen von diesen beiden Einzelfällen, ihrem Leben und Empfinden, das mir erst noch auf eine Art süffig und spannend vordemonstriert wird, blieb mir wenig Raum zur Abstraktion, zur Weiterentwicklung der Gedankenanstösse.

Wieder diese eingangs geschilderte Ambivalenz, die Frage, wie äusserste Kontrolle und Beherrschung der filmischen Mittel, wie Professionalität zu werten ist. Auch hier Fakten, Momentaufnahmen, Beobachtungen, und nicht Agitation, Provokation und Polemik. Im liberalsten Gefängnis der Schweiz, mit einem liberalen Gefängniswärter und einem Gefangenen im Mittelpunkt, der zumindest während den Dreharbeiten sehr kooperativ zu sein scheint. Also Beschönigung? Oder gerade weil auch dieses Bild eines relativ liberalen Gefängnisses zeigt, dass unsere Form des Strafvollzugs eigentlich keine Lösung ist, eine umso heftigere Forderung zur Revolutionierung unseres Strafsystems?

Zu hoffen bleibt jedenfalls, dass es nicht bei der Diskussion bleibt, dass der Ansatz zur Veränderung nicht nur im Kino stattfindet. Das Filmkollektiv hat ja bis jetzt seine Arbeiten immer relativ geschickt und erfolgreich einsetzen können. Doch ein Vorteil der Professionalität?

PS. Ich hätte in diesem Artikel auch schreiben können, dass das Filmkollektiv Zürich mit zwei wichtigen Arbeiten den hohen Stand des schweizerischen Dokumentarfilmschaffens eindrücklich unter Beweis gestellt hat. Dass es den Zuschauer für mündig nimmt und ihm nicht Hammerschlagnarkosebilder vorsetzt, sondern ihn selber werten und Schlüsse ziehen lässt. Was ich nicht hätte schreiben wollen, wäre, dass Urs Graf seinen Film didaktisch lobenswert aufgebaut hat. Damit hätte ich ihn — laut Dokumentation — geärgert.

Die unterbrochene Spur. Konzeption, Recherchen, B, R, Sch: Mathias Knauer; P'l, K: Rob Gnant; T: Andreas Litmanowitsch; Sch: Hannelore Künzi; P: Filmkollektiv Zürich. 16 mm, Farbe, 144 Minuten.

Wege und Mauern. Konzept: Urs Graf, Walter Brehm, Claudio Raveane, Rob Gnant; P, R, Sch: Urs Graf; K: Rob Gnant; T: Andreas Litmanowitsch; Assistenz Walter Brehm; Aufnahmel.: Claudio Raveane; P: Filmkollektiv Zürich. 16 mm, Farbe, 113 Minuten.

Christof Schertenleib
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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