CORINNE SCHEIBEN

VON EINEM, DER AUSZOG, DIE URSACHEN ZU ERGRÜNDEN — EINE SPRUNGHAFTE REISE DURCH STEFF GRUBERS FILM MOON IN TAURUS

CH-FENSTER

Die sogenannte Wirklichkeit

ist das Ergebnis von Kommunikation.

Paul Watzlawick

Die Wirklichkeit: Ein junger Schweizer (Filmemacher) kehrt nach fünf Jahren in eine amerikanische Kleinstadt (Athens im Bundesstaat Georgia) zurück, die er damals wegen einer abrupt und für ihn unglücklich endenden Liebesgeschichte verlassen hat. Mit seiner Filmequipe sucht er «die Ursachen zu ergründen, die diese Beziehung scheitern Hessen». Er kommt zurück in die Schweiz mit fünfzehn Stunden Filmmaterial. Während zweier Jahre «verdichtete er es auf knapp hundert Minuten.

An seinen Kameramann schreibt er vor Drehbeginn: «Subjektiv: Bitte denk immer daran; und schön: Nur, was du für interessant hältst, z.B. interessieren dich Hände, mach es stundenlang. Der Film wird zu siebzig Prozent am Schneidetisch entstehen.»

«Ton: Amerikanisch ist eine schöne Sprache. Es spielt keine Rolle, was die Leute sagen, sondern wie sie es sagen - vielleicht modulierend, singend, stammelnd - kurz, der Rhythmus muss aufgenommen werden.»

Die Vorstellung: Ein Schweizer (Filmemacher) will etwas anderes machen, etwas ganz Persönliches, will bei sich beginnen. Vielleicht will er auch nur nach Amerika, und Freunde dort sind die beste Gelegenheit, einen billigen Film zu machen. Es kann auch sein, dass er keine Geschichte gefunden hat, oder dass ihm seine eigene, gefundene immer noch besser erschien als alle erfundenen. Vielleicht hat er bloss aus der Not eine Tugend gemacht, die er dann zu besonderer Aufrichtigkeit umfunktionierte.

Es ist die Geschichte einer Beziehung, und weil es eine wahrhaftige ist, stellt sich die Frage nach ihrer Banalität nicht. Steff Gruber hatte mit Wanda Wester (auch die Namen sind unverändert) einige Zeit in Zürich zusammengelebt. Sie waren glücklich, wenigstens er. Sie verliess ihn überraschend, er reiste hinter ihr her. Aber in Athens, Georgia, ging die Beziehung ganz in Brüche. Er wollte, bevor er nach Los Angeles weiterreiste, noch einmal mit ihr reden, nur eine halbe Stunde. Sie aber wies dies zurück, es gab nichts mehr zu reden. Das hat er nie verwunden - im Film kommt er darauf zurück, auf die Tatsache, dass sie ihm nicht einmal die halbe Stunde gönnen wollte, die für ihn so wichtig gewesen wäre. Vielleicht, dass er mit einem zweistündigen Gesprächsfilm meinte, diese Wunde endgültig zu heilen zu können.

Die Vorstellung: Ein merkwürdiges Gefühl, irgendwo anzukommen, um Gespräche mit Freunden auf Film und Band festzuhalten. Es sind spontane Gespräche, deren Richtung die «Handlung» erst bestimmen, also muss möglichst viel aufgenommen werden. Ob gut oder schlecht, ob relevant oder irrelevant, wird später am Schneidetisch entschieden. Ist es nun ein Spielfilm oder ein Dokumentarfilm, cinéma direct, cinéma vérité? (Von Realzeit kann man nicht reden, aber es gibt immerhin «vollständige» Gespräche, die ganz nah an der Realität sind.)

Ein Film über die Sprache

Alexander Kluge sagt, dass der Film im Kopf des Zuschauers entsteht. Moon in Taurus ist jenseits von Gut und Böse. Er ist so gut wie das, was er im Zuschauer auslöst. Mehr als alles andere ist Moon in Taurus ein soziokulturelles Dokument, wenn auch ein unfreiwilliges. Die Tatsache, dass nicht das entstanden ist, was der Autor wollte, heisst noch lange nicht, dass nicht etwas Wichtiges entstanden ist. Die subjektive Befindlichkeit der Agierenden, ihre Gedanken zu den zentralen Themen Liebe, Eifersucht, Ausschliesslichkeit einer Beziehung, Vergänglichkeit, Veränderung spielt (fast) keine Rolle mehr. Es ist das Wie und nicht das Was. In fünfzig Jahren wird es einmal ein Symposium über Kommunikation geben und dann wird Moon in Taurus eine Illustration der verrückten Zeit sein, als man redend Gefühlen beizukommen suchte, als man versuchte, die Liebe zu erklären, zu messen, zu bewerten, zu quantifizieren.

Es ist auch ein Film über die Sprache als Kommunikationsmittel. Über Sprache allgemein. Auf der ersten Ebene: Das (nicht so zufällige) Phänomen, dass ein Schweizer einen Film ganz in englischer Sprache macht, mit deutschen Untertiteln (in die sich ihrerseits, von einer dritten Instanz, wieder Fehler einschleichen). Auf einer zweiten, konkreteren Ebene: Er, der Schweizer Steff Gruber, spricht sehr gut Englisch, aber nicht perfekt. Weil er die Sprache nicht vollständig beherrscht, verfügt er auch nicht über deren Automatismen und nichtssagende Wendungen. Es fehlt ihm der Jargon der Eigentlichkeit, der den ungeheuerlichen Graben zwischen Postuliertem und Tatsächlichem erst zum Bewusstsein bringt. Und schliesslich, auf einer dritten Ebene, die Sprache als Indikator, als verräterisches Element: Wanda hat einen Südstaaten-Akzent; wenn sie etwas Abstraktes, etwas Intellektuelles sagt, verliert sie ihn vorübergehend. Jack, ihr Ehemann und dritte Hauptperson des Films, ist ein Meister der Leerformeln, ein richtiges Kind der 60er Jahre. Sobald er von der (seiner) Liebe redet, wird sein Wortschatz pompös. Für «Ebene» braucht er dann das Wort «plateau» anstatt des gebräuchlichen «level». Er spricht feierlich vom «heiligen Bündnis» der Ehe, er sagt «sacred covenant», ein Ausdruck, der sich nur noch in Schulbüchern findet. Er spricht viel vom Ego, vom «innersten Gefühl», aber immer dann, wenn er am wenigsten sich selber meint.

Obgleich dauernd davon die Rede ist, ist Moon in Taurus kein Film über die Liebe. Die Liebe ist inexistent, sogar als Erinnerung. Die Sprache drängt sich zwischen die Gefühle. Die Akteure berühren sich nicht; die Trauer, dass keine Berührung stattfindet, kommt manchmal in der vagen Verstimmtheit der Redenden zum Ausdruck. Nur einmal gibt es eine Berührung: Während des grossen Dreiergesprächs am Ende mit Wanda, Jack und Steff. Wanda und Jack sind an dem toten Punkt angelangt, wo man sich gegenseitig das Wort im Mund verdreht, wo sich die Logik der Argumentation so verselbständigt, dass nur noch Worte, nicht mehr Tatsachen zählen. Beschwörend ergreift Wanda den kleinen Finger Jacks, dessen Arm ausgestreckt auf der Banklehne liegt. Der Kameramann hat es gesehen, zeigt es in Grossaufnahme. («Nur, was du für interessant hältst, z. B. Hände ...»)

Jack ist einer jener jeden Dialogpartner zur Verzweiflung treibenden Pseudo-Intellektuellen, die undichte Stellen ihrer Argumentationsführung mit immer weiteren Floskeln kitten. Steff, der sich nur selten ins Gespräch einschaltet (dieses Ehegespräch läuft auch ohne ihn!), ist verwirrt. Er sagt: «Ich habe nur etwa zehn Prozent verstanden, teils wegen des Verkehrslärms, teils wegen der Sprache.» Aber es ist nicht die Sprache, die ihm Mühe bereitet, sondern deren schwindelerregende Manipulation.

Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass Moon in Taurus kein Film der starken Bilder sei. Es gibt sogar autonome Bilder - eine Südstaaten-Landschaft bei Sonnenuntergang, ein Südstaaten-Fluss, eine Baustelle, ein geräuschloses Autoballett vor dem Einkaufszentrum Winn Dixie. Amerika-Bilder, die nicht blosse Ablenkung oder Ausschmückung eines Gesprächsfilms sind, sondern visuelle Akzente setzen. Da gibt es auch den Motorradfahrer, der zu Anfang des Dreiergesprächs auf der im Bildhintergrund sichtbaren Strasse abfährt und zu Ende wieder dorthin zurückkehrt: Er ist die Uhr des Geschehens, er vermittelt das Zeitgefühl; er ist ein Indikator der Vergänglichkeit.

Aber weil die Kamera hauptsächlich als Detektiv fungiert, kann und soll man sich nicht in die Bilder versenken, denn sie sind Beweisstücke. Beweisstücke für das, was zwischen den Sätzen liegt. Die Kamera ist der Geigerzähler, der die feinen Schwingungen von Wahrhaftigkeit inmitten verbaler Unwahrhaftigkeit registriert.

Liebes-Theoretiker

Der Film handelt von authentischen Personen, und ich kann nicht darüberschreiben, ohne Partei zu ergreifen, ohne -nun komme auch ich auf ein heikles Gebiet - subjektiv zu sein. Ich habe Steff Gruber im Film ins Herz geschlossen, ich liebe sein Insistieren, die entwaffnende Offenheit, mit der er seine «Beziehungs-Hangups» formuliert, sein buchhalterisches Verharren auf Details. Was heisst das etwa, Wanda hat eine «offene» Beziehung mit den zwei Männern, mit denen sie im Zelt zusammenlebt? Da gibt es doch ein Einer- und Zweierbett. Er will es genau wissen, er traut dem ausweichenden amerikanischen Hippie-Blabla nicht. «Sag nur nicht, dass ihr abwechselt». Ich liebe auch Steff Gruber, den Liebes-Theoretiker, mit seinen unverrückbaren Vorstellungen von einer Zweierbeziehung. Auch die Sicherheit, mit der er etwas postuliert, nur um dann zwei Schritte zurückzuweichen. «Ach, ich weiss nicht, vielleicht auch nicht... oder doch...» Er kommt mir manchmal vor wie der nüchterne Schweizer Bankbeamte im Land der Euphemismen und ideologisch verbrämten, aber ganz pragmatischen Bedürfnispolitik.

Mehr Mühe hatte ich mit Wanda, die inmitten dieser Liebes-Theoretiker und Zweierbeziehungs-Advokaten wie ein Freigeist wirkt, ein Wesen, das nur für den Augenblick lebt. Verpflichtungen haben in einer Beziehung für sie nur solange Gültigkeit, als Zuneigung besteht. Es wäre nicht schwer, sie auf ihre Widersprüche festzunageln, ihre Spontaneität als reine Ichsucht zu entlarven. Der Film als feministisches Dokument: Wie immer vage und aus zweiter Hand ihre Lebensphilosophie in den anfänglichen Gesprächen mit Steff erscheint, in der Auseinandersetzung mit Jack wird sie endlich konkret, da hat sie ihre grossen Augenblicke. Mit praktischer Intelligenz entlarvt sie sein Gefasel, dass nicht ihre Untreue an sich, sondern ihre Lügen darüber ihn verletzt haben, als schlecht kaschierte Eifersucht.

Und da ist schliesslich Jack, eine Figur, die alles zusammenfasse was an der 60er-Jahre-Kultur schief war. Er ist der lebende Beweis dafür, was passiert, wenn ein Konservativer zur Progressivität, zu einem lockeren Lebensstil gezwungen wird. Jack, der Puritaner aus Amerika, der sich mit verbalen Verrenkungen aus seinen Widersprüchen von Sexualität und Liebe herausstrampelt.

Moon in Taurus ist der Film eines Schweizers, der auszog, in Amerika Antworten auf alte Fragen zu finden. Im Grunde fragt er: Warum liebt man, warum nicht, warum nicht mehr? Er hatte Wanda geliebt, und so sehr er über seine unglückliche Liebe damals trauerte, so sehr muss er jetzt auch getrauert haben, als ihm die eigene Entfernung aus der Liebe in der Konfrontation bewusstwurde. Vielleicht war das Unglück einer unglücklichen Liebe schöner als das Glück der Befreiung von einer unglücklichen Liebe. Vielleicht hat er mit seiner filmischen Enquete die Erklärung für ein Phänomen gefunden. Aber - dies zeigt der Film - die sogenannte Erklärung eines Phänomens ist wiederum nur die Beschreibung eben dieses Ereignisses mit anderen Worten (Wittgenstein).

Steff Gruber ist in Sachen Liebe der Letzte der Gerechten. Er wollte etwas wissen, worüber andere Leute schon lange aufgehört haben, sich den Kopf zu zerbrechen (aus Feigheit, aus Resignation). Er wollte einem Gefühl und dessen Termination auf den Grund gehen und ist - unbewusst - der Psychopathologie der alltäglichen Verhaltensweisen auf den Grund gegangen.

Vielleicht wird man Steff Gruber - der Wissenschaft von der menschlichen Kommunikation zuliebe - einmal bitten, mit den restlichen dreizehn Stunden Material auch noch herauszurücken.

Moon in Taurus. P: Steff Gruber Filmproduktion, Zürich; Konzeption/B: Steff Gruber u. a. R: Steff Gruber; K: Andy Humphreys, Steff Gruber; T: Jim Hawkins, Steff Gruber; Musik: Ruedi Burkhalter; D: Wanda Linn Wester, Jack Wright, Bonnie F., Steff Gruber.

16/35 mm, Farbe, 96 Minuten

Corinne Scheiben
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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