JÖRG HUBER

FILMISCHE LEKTÜRE — RICHARD DINDOS MAX FRISCH - JOURNAL I-III

CH-FENSTER

Richard Dindos Film Max Frisch - Journal I-III wird im Untertitel «eine filmische Lektüre der Erzählung ‹Montauk›» («unter Anlehnung an die Tagebücher 1946-49 und 1966-71») genannt. Der Begriff «filmische Lektüre» bestimmt zwei spezifische Momente dieses Films: Einerseits geht die Filmarbeit stilistisch vom Vorgang des Lesens von Texten aus, anderseits liegen dem Film inhaltlich, als Stoff, nicht unmittelbar Personen und Handlungen zu Grunde, sondern literarische Texte. Dindo las die Texte von Max Frisch - Montauk und die Tagebücher - und begann dann, nach Absprache mit dem Autor, sie nochmals zu lesen - diesmal mit der Kamera. Der Film versucht der Realität, die in die Texte einging, konkret nachzugehen und sie in Bildern festzuhalten: Erlebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen und Vorstellungen; konkrete Orte, Menschen, Begegnungen, Berührungen und Worte.

Eine Lektüre kann von zwei verschiedenen Positionen ausgehen (oder diese auch verbinden): sie kann bestimmt und getragen sein durch den subjektiven Erfahrungszusammenhang des Lesenden oder durch den Versuch, die persönlichen Erfahrungen des Schreibenden, die den Text begründen, möglichst authentisch nachzuzeichnen. Dindo schreibt zum Film: «Es ist eine Darstellung von ‹innen heraus›, indem die Texte des Autors wie ein ‹innerer Monolog› funktionieren, der sozusagen zu den Filmbildern spricht, während diese umgekehrt wie ‹unter seinen Augen› gefilmt sind.» Die beiden (von mir) hervorgehobenen Wendungen weisen darauf hin, worum es Dindo letztlich geht. Im Zentrum des Films steht das Erleben des schreibenden Autors Frisch. Die Erfahrungen des filmenden Lesers Dindo dagegentreten, was die Bildinhalte und die Filmtexte anbelangen, zurück - sie fliessen einzig da in den Film ein, wo dieser seinen Rhythmus, seine Sprache erhält: in der Auswahl des Materials, in Schnitt und Montage. Hier tritt bestimmend seine Funktion an, was während der Lektüre bei Dindo in Bewegung gesetzt wurde.

Dieser Frisch-Film ist keine konventionelle Literatur-Verfilmung. Wichtig für Dindo ist Max Frisch als Mensch und Autor. Ein erneuter Versuch also, einem Künstler und seinem Werk zu begegnen, wie dies Dindo schon in früheren Filmen zu Raimón, Clément Moreau und Hans Staub unternahm -und doch sehr verschieden: Der vorliegende Film ist Dindos Annäherungsversuch in Bildern an einen Autor, an Frisch, an dessen Innen-und Aussenwelt, über die Lektüre von Texten: eine filmische Lektüre.

Die Erlebnis- und Erfahrungswelt Frischs wird von Dindo auf verschiedene Weise wiedergegeben. Neben Frisch selbst treten Menschen auf, mit denen dieser mehr oder weniger intensiv und umfassend in Berührung kam: Marianne, Ingeborg, Käte, Lynn, seine Mutter, seine Kinder, Helen Wolff, Brecht, ein Hotelportier u. a. Die Vergegenwärtigung dieser Personen geschieht in Wort und Bild auf mehreren Ebenen. So im Bild z. B.: von Dindo direkt gefilmt, in Dokumentarmaterial aus Fernseh-Reportagen, auf Fotos oder in Ausschnitten aus S-8-Filmen, die teilweise Frisch selbst gedreht hat. Im Wort z.B. (Direktton oder auf verschiedene Weise off eingesetzt): aus Interviews mit Dindo, in Zitaten aus TV-Interviews und -Reportagen, Zitate aus Frischs Reden und Texte. Neben den Personen und Texten sind für Dindo natürlich die «Schauplätze» von Bedeutung - Örtlichkeiten also, die Frisch besuchte, belebte und belebt und von denen er z. T. in seinen literarischen Texten spricht. Auch die Örtlichkeiten erscheinen im Film von Frisch damals und Dindo heute gefilmt, auf Fotos und in Fernseh-Dokumenten.

Weitere Formen der Vergegenwärtigung bilden der Kommentar, der faktisch über die historischen und personellen Zusammenhänge informiert und der Versuch, mittels der Figur von Alexandra, einer amerikanischen Deutschstudentin, die Person von Lynn zu «rekonstruieren», zu erschliessen. Diese verschiedenen Wirklichkeitsausschnitte bilden das Material, das Dindo während der Lektüre der Texte und den Begegnungen mit Frisch ausgewählt hat. Darin zeigt sich, wo Dindo die Akzente setzt, wie er Frisch sieht und ihn und sein Werk interpretiert - eine Interpretation, die noch an Deutlichkeit gewinnt durch die Montage: in der Komposition des Films.

Die Struktur...

Der Film ist in drei Kapitel aufgeteilt. Kapitel I heisst «Warum reisen wir?», und Frisch gibt darauf gleich eingangs u. a. die Antwort: «Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns kennen ein für alle Mal, damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei...» Dindo: «Das erste Kapitel ist hauptsächlich eine Exposition der Materialien, mit denen der Film im zweiten und dritten Teil durch Wiederholen und Weiterentwickeln arbeiten wird.»Dem Zuschauer werden in diesem Kapitel verschiedene Orte gezeigt, die Frisch 1974 aufsuchte, Stationen aus Montauk, und es erscheinen die wichtigen Figuren - Lynn, Ingeborg, Brecht.

Das zweite Kapitel wird mit der Frage überschrieben: «Wieviel Heimat brauchen Sie?» Es bringt erste konkretere Annäherungen an Frisch. Verleihung des Zürcher Literatur-Preises: Frisch spricht über Heimat. Verleihung des Deutschen Friedenspreises: Frisch spricht über den Frieden. Volkshaus Zürich, Veranstaltung anlässlich der Ständerats-Kandidatur von Adolf Muschg: Frisch spricht über Schriftsteller und Macht. Die Fragen nach dem Begriff der Heimat und nach der Funktion der Sprache bekommen in Dindos Interpretation einen zentralen Stellenwert. Dindo: «Ich gehe von der Heimatlosigkeit aus und glaube an die Möglichkeit einer Wiedergeburt in der Sprache.» Dazwischen versucht der Film dem nachzugehen, was auch hinter der Sprache steht und was auch Heimat ausmacht: den menschlichen Beziehungen. Fragen über das Scheitern von Beziehungen: «Das Ende haben wir nicht gut bestanden. Beide nicht.» (Frisch) Und: «Was machen wir zusammen falsch?» Erwähnt werden ebenfalls die Mutter und die Kinder Frischs und der Tod von Ingeborg (Bachmann) und Brecht. Folgerichtig drängen sich in diesem Zusammenhang Fragen nach der Zeit auf, d. h. den Erfahrungen mit und in der Zeit. «Er ist dankbar für dieses Wochenende, das noch nicht vergangen ist.» «Er möchte bloss Gegenwart.» «Es genügt die Tatsache, dass man überlebt von Alltag zu Alltag.» «Literatur hebt den Augenblick auf, dazu gibt es sie. Die Literatur hat die andere Zeit...» Mit dem Thema der Zeit ist ebenso angesprochen die produktive Kraft und existentielle Bedeutung der Erinnerung.

Nach der Exposition in Kapitel I, die die Zusammenhänge punktuell ausweist, werden im zweiten Teil die Figuren konkreter, in ihren Aussagen persönlicher - immer aber auf Frisch bezogen! Die Örtlichkeiten erhalten Kontur und Bedeutung: in ihnen wird Frisch x-fach gespiegelt. Die Montage beginnt das Material in Bezug zu setzen, zu wiederholen, zu variieren. Beharrlich, fast insistierend, bleibt Dindo an den bestimmenden Fragestellungen und entwickelt sie auf intellektueller Ebene aus den verschiedenen Frisch-Texten. Die Absicht, die von Frisch gestellte Problematik einzusehen und nachzuweisen, ergibt den thematisch linearen Ablauf, der formal aber auf unlineare Weise ins Bild gesetzt wird durch die Montage von verschiedenartigem Bildmaterial und die assoziative Verknüpfung unterschiedlicher Erfahrungsebenen. Diese Filmsprache beweist, dass hier nicht fertige Einsichten addiert werden, sondern versucht wird, durch ein umkreisendes Vortasten der Wirklichkeit subjektiv erlebter Realität sich anzunähern.

Am Ende des Kapitels - als eine Art symphonischer Schlussakkord - formuliert Ingeborg ihren Glauben an die Utopie einer besseren Zukunft: «Ich glaube wirklich an etwas und das nenn’ ich: ein Tag wird kommen - und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört, und trotzdem glaube ich daran, denn wenn ich nicht daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.»

Der dritte und letzte Teil des Films mit dem Titel Wir leben mit Toten bringt das Ausloten der Erinnerungen und Erfahrungen noch intensiver. Schonungslos wird dem Scheitern der Beziehungen nachgefragt, und wiederholt wird die bohrende Frage: «Was machen wir zusammen falsch?» Wiederholt werden auch die Bemerkungen zum Tode von Ingeborg und Brecht.

Am Ende des Films versucht Dindo mittels der Figur Alexandras näher an Lynn und Frisch heranzutreten, um gleichzeitig auch Distanz zu gewinnen, denn für Dindos Film-Lektüre gilt uneingeschränkt das Bedenken, das Frisch seiner eigenen Arbeit gegenüber formuliert: «Woher nehme ich das Recht, die andern auszuplaudern?»

... und ihre Funktion

Montauk und die Tagebücher sind aus dem Bemühen Frischs entstanden, sich zu erinnern: das Erleben dem Vergessen, der Vergänglichkeit abzutrotzen, indem es durch die Erinnerung zur Erfahrung sich verdichtet und Konturen erhält. Literatur als produktive Erinnerung lässt Erlebnisse und Ereignisse in verschiedenen Verbindungen und Verknüpfungen, in neuen Konstellationen, vor dem innern Auge auftreten, so wie es der Augenblick aktueller Erfahrungen verlangt. In der gegenseitigen Spiegelung und Brechung der Splitter persönlicher Vergangenheit wird Verborgenes freigelegt, Verschüttetes geborgen. In der Begegnung mit den Spuren, die sich dadurch abzeichnen, und damit der Begegnung mit sich selbst, konstituiert sich persönliche Geschichte, d. h. auch die Voraussetzung zur Realisierung der konkreten Utopie einer besseren Zukunft. Es ist dieser Vorgang, der Dindo über die Problematik von Sprache und Heimat interessiert und dem er in seiner «filmischen Lektüre» nachgeht: «Mein Film wiederholt als Lektüre die Konstruktionsweise des Buchs, reproduziert den inneren Mechanismus.» Der Film folgt Frischs Texten, das heisst: der Film ist «eine Lektüre, keine Erzählung, denn der Autor selber ist ja der Erzähler, und sonst niemand». Keine Erzählung also, keine Fiktion. Und doch handelt es sich hier nicht um einen Dokumentarfilm, der die Erscheinung der Wirklichkeit massstabgerecht reproduziert: «Lesen heisst den Gegenstand rekonstruieren.» In der Betonung der Konstruktion liegt die zentrale Problematik des Films verborgen, die Frage nämlich nach der Funktion des Film-Autors Dindo.

Dindo hatte, wie er berichtet, Material, das vermehrt seine persönlichen Begegnungen und Erfahrungen während den Schauplatzbegehungen thematisiert und dementsprechend auch deutlicher die Film-Arbeit dokumentiert. Um das Organische des Films zu bewahren, dem Prinzip der Lektüre treu zu bleiben und die Nähe zu Frisch nicht zu verlieren, wurde dieses unmittelbar subjektive Material weggelassen. Dindos Interpretation von Montauk findet ihren Ausdruck in der Form des Films: in der Auswahl des Materials, in der Gewichtung, in der Absicht «manifest (zu machen), was im Text vielfach nur latent ist». Die Verlagerung der Subjektivität des Filmemachers auf die Art und Weise der Anordnung der Bilder zieht die Frage nach der Qualität - dem Wirklichkeitsgehalt etwa - und der Funktion des Bild-Materials nach sich.

In der Wirkung, die der Film auf mich hatte, war der Text, der «innere Monolog» bestimmend, und die Funktion, die ihm Dindo zumisst, «zu den Bildern zu sprechen», konnte sich nur punktuell durchsetzen. Vereinzelt nur wurden die Bilder zum Leben erweckt und «erfüllte - oft blieben sie leer und wirkten höchstens illustrativ, bestenfalls als Belege oder als zusätzliche Zitate. Das Erscheinen der Personen im Bild z.B. brachte oft nicht mehr als die vordergründige Befriedigung äusserlicher Identifikation. Und die Befragung der Örtlichkeiten blieb wiederholt im leeren Abbild stecken. Die Bilder erhielten keine eigene, sinnlich anschauliche Wirklichkeit und konnten ebenso wenig der Wirklichkeit, die der Text während der Lektüre des Buchs in mir damals erhielt, etwas hinzufügen. Frisch selbst formuliert dieses Problem in einem Brief an Dindo vom 29. Juni 1978:

Als Sie mir neulich in Paris die Fotos von Montauk gezeigt haben, habe ich (ohne das sofort aussprechen zu können) bemerkt, was auch bei andern Objekten genau so problematisch sein wird: Wozu muss man das sehen, was im Wort eine andere und eigentliche Wirklichkeit gewonnen hat durch die Imagination des Lesers. Dabei handelt es sich erst um Objekte, noch nicht um Personen. Steuern wir da nicht auf einen Irrweg?

Dindo: «Die Bilder (...) bekommen ihren Sinn erst später als Elemente einer Struktur.» Der intellektuelle, spröde Grundton des Films ergibt sich aus der Tatsache, dass Dindo Frisch als oberste Instanz in der Funktion des Erzählers belässt und sich selbst, die eigenen Erfahrungen und die persönliche, gegenwärtige Befindlichkeit einzig in der Form durchschimmern lässt. Die filmische Lektüre stellt eine werkimmanente Interpretation dar, die den Gegenstand nicht primär von einer subjektiven Position aus befragt und den Weg und die Bedingungen der Befragung mit ins Bild einbringt, sondern den Gegenstand «werktreu» zu rekonstruieren versucht. Der Tatsache, dass Dindo nicht primär von seiner persönlichen Erfahrung in der Lektüre ausgeht, d. h. Frisch nicht kritisch befragt und ihm ein Gegenüber stellt, entspricht die Gefahr, dass Dindos Bilder den Vorstellungs- und Wirklichkeitsraum, den der Text im Leser oder Zuschauer öffnet, eher wieder zu verkürzen oder gar zu verschliessen drohen. Hier liegt denn auch der Unterschied zu dem Film Fluchtweg nach Marseille von Ingemo Engström und Gerhard Theuring, einem Film, der Dindo offensichtlich wesentlich inspiriert hat. Dieser Film ist den Landschaften der Resistance gewidmet, seine Methode ist die des Arbeitsjournals, seine Vision ist «Transit»: Anna Seghers bleibt für die Filmautoren nicht im gleichen Mass bestimmend, wie Frisch für Dindo. Engströms/Theurings Lektüre geht explizit von einer aktuellen Situation aus und ist bis ins einzelne Bild geprägt von den Erfahrungen der Filmemacher und teilweise der Darsteller auf ihrer Spurensuche. Der produktive Vorgang der Erinnerung geht hier unmittelbar in die filmische Methode ein und schafft eine eigene, neue Wirklichkeit - durchs Bild! Dieser Film visualisiert eine menschliche Topografie, Dindos Film dagegen illustriert Gedanken.

Max Frisch - Journal I-III. P: Saga Film; B, R: Richard Dindo; K: R. Berta, H. Ryffel, R. Boner, R. Trinkler; T: Alain Klarer; Musik: Arié Dzerlatka; Schnitt: Jürg Hassler, Georg Janett, F. M. Murer, R. Trinkler. 16mm, Farbe, 120 Minuten

Jörg Huber
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(Stand: 2020)
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