MARTIN SCHAU

PADRE PADRONE — ZU JACQUELINE VEUVES LA MORT DU GRAND-PÈRE OU LE SOMMEIL DU JUSTE

CH-FENSTER

Die unsichtbaren Helden des Schweizer Films haben Zuzug bekommen: Zum Landesverräter Ernst S. und zu Viktor hat sich jetzt Monsieur Reymond gesellt, der Grossvater der Filmemacherin Jacqueline Veuve. Er dürfte nicht nur seinen Verwandten in Erinnerung sein, sondern ziemlich vielen im waadtländischen Lucens. Was man so eine «historische Figur» nennt, war er nicht. Trotzdem haben er und das was er verkörperte, ein Denkmal bekommen, das ich gerne mit einem Bindestrich — Denk-Mal — schreiben möchte, weil es nicht nur eine in Verehrung und Liebe gezeichnete Skizze, ein Albumblatt, ist, sondern die Klarzeichnung eines Modellfalls, ja beinahe das Robotporträt eines protestantischen westschweizerischen Unternehmers der ersten Jahrhunderthälfte.

Die Quellenlage präsentierte sich für Jacqueline Veuve anders, viel günstiger, als sie sich dem «Archäologen der Dinge» Dindo — der Ausdruck stammt von ihm — und der Spurenleserin June Kovach darbot. Es gehört zum Geist der protestantischen Familie Reymond, alles, was mit dem Patriarchen und pater familias zusammenhing, pietätvoll zu bewahren und zu pflegen. Das Sterbezimmer musste nicht rekonstruiert werden; der Tod des Gro9svaters ist gegenwärtig. «Er wusste zu leben, aber er wusste auch zu sterben», sagt eine seiner fünf Töchter, alle über 70 Jahre alt, die die Vergangenheit vergegenwärtigen; sein Tod sei ein Fest gewesen. Dieser Tod ist der eigentliche Angelpunkt des Films, der immer wieder — auch wegen der Hauptzeugen — darauf zurückkommt.

Was die Zeugenaussagen der Töchter, die Erinnerungen eines langgedienten Mitarbeiters («fidèle serviteur» wird er vom heutigen Patron anlässlich einer Belegschaftsfeier genannt) und der Enkelin Jacqueline Veuve zutage fördern, gäbe sehr wohl Munition für einen klassenkämpferischen Film. Aus biographischen und aus politischen Gründen ist ein solcher von der Filmemacherin nicht zu erwarten gewesen. Weil sie sich aber vor der Verherrlichung des Grossvaters hütet — sie findet den Zugang zu ihm über ihre Tanten —, rückt er in eine Distanz, die man schon sachlich nennen kann.

Die Rede ist von einem Leben und von einem Tod; das ist das, was man altertümelnd «eine Vita» nennt: Lehre, Gesellenprüfung, Heirat, erste kleine eigene Werkstatt in der Vallée de Joux, Fabrik in Lucens, die jetzt als Mietshaus genützt wird; Wachstum, Fleiss, Genügsamkeit, Erfindergeist, Geiz, «Auszahlung» der Töchter, Übergabe des Betriebs an den Sohn, Weiterarbeit im eigenen Werk, fast bis zum Tod, schliesslich das friedliche, gottgefällige Sterben. Das hört sich an wie ein Paradefall zu Max Webers Aufsatz «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus», ein Kapitel aus der Religionssoziologie dieses Autors. Die Thesen Webers sind heute nicht mehr unumstritten, zu Recht, denn Weber leitet zu viel aus dem Begriff der «innerweltlichen Askese», dem weltlichen Mönchstum des Calvinismus, ab und vernachlässigt die Tatsache, dass die Calvinisten — wie die Juden auch — vor allem in der Diaspora wirtschaftlich stark wurden, genau an jenen Orten, wo ihnen der Zugang zum Staatsdienst nicht gestattet war. Wie dem auch sei: «Monsieur Reymond», der ein Leben lang arbeitet, seine Familie zum Arbeiten im eigenen Betrieb anhält und vor allem die Töchter ausbeutet, ist der schweizerische Bilderbuch-Unternehmer, ein Patron, der sich das Aufbegehren der Arbeiter (und der arbeitenden Familienmitglieder) durch seine Findigkeit, seine Hingabe, seinen Fleiss und seine «Gerechtigkeit» vom Leibe hält. Dieser Mann durfte in der Werkstatt die Lehrlinge und Arbeiter abkanzeln, weil er noch jedem etwas vormachen konnte. Und dem Neid begegnete er mit dem, was Max Weber die «innerweltliche Askese» genannt hat; sein ehemaliger Lehrling, der jetzige Arbeitsjubilar Badoux erzählt, dass der Patron seine Schuhe selber geflickt habe, weil der Schuhmacher «viel zu teuer» war; die Mutter von Jacqueline Veuve, die — wie ihre Schwester Irene, die Malerin geworden ist — nicht vor Ehrfurcht vergeht bei der Erinnerung, betont, wie ärmlich die Kleidung ihres Vaters gewesen ist. Und sie ist es, die den Tod des Patriarchen am wenigsten verherrlicht; sie ist noch vor den Dreharbeiten gestorben, erscheint nur in (sehr schönen) Diapositiven (von Monique Jaquot). Auch da scheint etwas wie geschenkt in diesem Film.

Dass dieser beste Film der Autorin nicht nur geschenkt wurde, wird sofort evident. La mort du Grand-Pere ou le sommeil du juste hat nichts mit ready made zu tun. Jacqueline Veuve zeigt die Welt des Grossvaters und die Welten seiner Töchter in ruhigen Kameraeinstellungen, oft unbeweglichen, und dann wieder sanft bewegten, fast «melodischen». Sie inszeniert die Kamera in der Welt des Vaters und inszeniert vor der Kamera die Welten der Töchter; ganz hervorragend sind die Porträtaufnahmen der alten Frauen; keine «talking heads», man könnte fast meinen, Jacqueline Veuve habe vor den Aufnahmen Pascal Bonitzers Aufsatz über die «Décadrages» (in Cahiers du Ciéema, No. 284) gelesen. Es sind intime Bilder, nicht zu umständlich, nicht zu hautnah; da wurde die Vertrautheit mit den «Darstellern» nicht ausgebeutet.

Von einer Familienfeier existiert noch ein kurzer Familien-Schmalfilm. Zweimal fliesst er in den Film ein, ganz zu Beginn zum Stichwort «Kindheitserinnerungen» — Puppen, Gartentor, der Grand Bonhomme bei der Familienfeier, darauf das Totenbett —, später, gegen Ende des Films, bevor die Erzählung wieder an ihren Anfang, das Ende von «Monsieur Reymond», zurückkehrt. Dieses Dokument ist offenbar von 16 Bildern pro Sekunde auf 32 Bilder umkopiert worden; der Patriarch schwebt in eigenartiger falscher Zeitlupe durch die Statisten seines Festes. Kurz darauf wird erzählt von seinen letzten Tagen und Stunden; wenn er die um sein Totenbett versammelten fünf Töchter und den Sohn abzählt und noch eine siebente Person sieht, die «auf ihn wartet». In das sachliche Leben des Patriarchen und den sachlichen Film fliesst jetzt das Geheimnis ein, das, was «Monsieur Reymond» ein Leben lang ausgeschlossen hat. Auf diese rätselhafte Passage folgt die Belegschaftsversammlung mit ihren falschen Tönen von oben und von unten, dann noch einmal die Mutter von Jacqueline Veuve, der Bericht ihres Todes.

Und ganz am Schluss ein Satz der Autorin, der alles klarstellt, der den Moment der Emanzipation genau bezeichnet: «Je ne suis plus l’enfant de personne». In diesem Augenblick spätestens weiss der Zuschauer, dass La Mort du Grand-Père eine leidenschaftslose, unsentimentale Selbstdarstellung der Autorin ist, eine Gewissenserforschung ausserhalb der Moden, denen Jacqueline Veuve in früheren Filmen gerne gefolgt ist.

L’ESSENCE CARNIVORE DU CONFORMISME...

Jacqueline Veuve poursuit, tenace, depuis bientôt vingt ans sa recherche: témoigner par le cinéma de son enracinement, avec ce même souci de perfection qui la fascine, qui la rebute et qui l’effraye chez son grand-père, patron horloger, dont eile raconte la mort gräce aux recits — discrètement mal accordés — de ses quatre tantes.

Ainsi ä travers des «victimes» (héritiers d’un solide confort matériel acquis ou pris au vol de leur liberté au nom de la mystique calviniste), se fait entendre non seulement la parole du vertueux patriarche, mais aussi, entre autres, la voix de celle qui, la première, a incarné la rupture de l’image familiale: la fille artiste, en «suisse»: celle qui ne fait rien. Dans cette famille engluee dans des traditions mais qui rejette chacun à sa soli-tude, des fêlures devoilent insidieusement l’essence camivore du conformisme et des vertus laborieuses: ce sont ces fenêtres que la fille peintre et la petite-fille cinéaste ouvrent sur l’univers, faisant chavirer celui, ascetique, de l’homme ombrageux qui pensait les tenir captives.

Et la fiction envahit le documentaire par bouffees, rouges comme ces flots de rubis qu’on s’usait la vie à polir. L’absence de distance critique, la minutie innocente dans l’observation, en disent plus qua les discours pipes des ideologies en place. Ainsi se retrouve posee la question du mythe fundamental de l’Helvétie celui de Guillaume Teil: par quelle acrobatie balistique faut-il en passer pour qu’un père ne tue pas ses enfants?

Patricia Moraz

«Le Monde», 18 août 1978

LA MORT DU GRAND-PERE OU LE SOMMEIL DU JUSTE.

P: Jacqueline Veuve und Institut National d’Audio-Visuel; R. und B: Jacqueline Veuve; K: Willy Robrbasser, Jean Mayerat; Ton: Pierre-Andre Luthy; Schnitt: Edwige Ochsenbein; Supervision: Georg Jannett. 16 mm, Farbe, 87 Minuten.

Martin Schau
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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