Idealismus und konkrete Aufgaben Ein Besuch des diesjährigen Filmfestivals von San Sebastian zeigte deutlich: die Situation des spanischen Films ist verworrener denn je. Sicher: Franco ist tot, und 40 Jahre politischer Unterdrückung, zensurierter Medienöffentlichkeit und Schweigen des Volkes sind vorbei. Doch das plötzliche Erwachen, das zwar im Untergrund und Ausland vorbereitet wurde, brachte Verwirrung, Fraktionskämpfe, Strategiediskussionen und auch ein wildes Auswuchern lang verdrängter Bedürfnisse — sowohl in der Kultur wie in der Politik. Im «grossen» spanischen Kinofilm tut sich eine auffallend starke Richtung hervor. Spezifische Merkmale dieser Filme sind die symbolische Sprache und die psychologisierende, moralisierende Tendenz; das Kulturbewusstsein der meist bürgerlichen und intellektuellen Autoren, das sich durch keine politischen Dogmen oder Ideologien verpflichten lässt; der liberale Humanismus, der mit den Kategorien «Mensch» und «Welt» deutlich das Erbe des philosophischen Idealismus aufnimmt; der Wille mit schonungsloser Offenheit dem Seelenleben, der Biografie und den zwischenmenschlichen Beziehungen des Individuums nachzugehen. In der Ideologie und dem Kulturverständnis der Regisseure wie Manuel Guitierrez Aragon1, Francisco Rodriguez2, Pedro Olea3, etc. leben Hegel und Freud wieder auf — aber auch die Tradition einer spezifisch spanischen Mythologie. Wobei es in der Funktions-bestimmung Veränderungen gab: So verkommt etwa die poliisch agitatorische Phantasie der Surrealismus heute zum Irrationalismus spekulativer Weltenwürfe. Diese Filmautoren verstehen ihre Aufgabe darin, nach 40-jähriger Knechtschaft die Würde des Menschen jenseits aller Klassengegensätze wiederherzustellen. Die Menschheitsdramen setzen wohl bei konkreten Ereignissen an, etwa beim Prozess von Burgos oder bei den Anarchistenprozessen der 20er Jahre, doch das existentialistische Pathos enthebt die Thematik dann wieder den konkreten historischen Bedingungen. Man vergleiche etwa die Funktion von ‘la memoria’ in Sauras Los ojos vendados und Caminos La vieja memoria! Bei diesen Filmen, die sehr intellektuell gehalten sind, spielt natürlich das Drehbuch eine ausschlagende Rolle. Mehr auf die Aussagekraft des Dokuments, als auf die Fiktion, vertraut in seinem letzten Film Jaime Camino, und er schuf mit La vieja memoria eines der wichtigsten aktuellen spanischen Werke. Aus einem reichen Interview-Material montiert Camino lebendige Erinnerungen und Erfahrungen aus dem spanischen Bürgerkrieg von Politikern aller Schattierungen zu einem dynamischen Dialog, der sich dialektisch immer tiefer in die Materie schraubt: Das Zeugnis wird zum Instrument der Analyse. Die Interviewten — oder besser: die Gesprächspartner — sprechen aus der persönlichen und kollektiven Betroffenheit, über die historische Zeit, die Camino mittels Dokumentaraufnahmen in den Film einbringt. Camino will mit La vieja memoria die spanische Vergangenheit aufarbeiten, sie überhaupt wieder bekannt machen. Er will ein gesellschaftliches, historisches Gedächtnis herstellen und damit in der Bergung verschütteter, revolutionärer Ansätze, eine Traditionsanleihe stiften, die notwendig ist, um überhaupt Zukunft zu gestalten. Camino öffnet mit seinem Film nicht nur für den Dokumentarfilm neue Wege, sondern unterbricht auch eine filmische Tradition, der der Bürgerkrieg nur ein Nährboden war für psychologische und dramatische Konflikte. Die Möglichkeit sprechen zu dürfen und sich nicht mehr in eine symbolische Verkleidung verbergen zu müssen, inauguriert durch La vieja memoria einen nationalen Dialog über die spanische Geschichte: Caminos Film wird sowohl für den politischen Demokratisierungsprozess, wie auch als ästhetisches Modell für die jungen spanischen Regisseure, von Bedeutung sein. Denn auffallend ist, dass viele junge Filmemacher, im Kampf um ein breites Publikum, in ihren Arbeiten gängige Spielfilmschemen reproduzieren oder versuchen, bekannte Schauspieler als Zugpferde einzusetzen. In der Aussage bleibt man meist sehr allgemein. Man reflektiert über Ängste und Hoffnungen der Jugend und philosophiert über den Sinn der Geschichte an sich, man zieht in parabolischer Form Bilanz über den aktuellen Stand der spanischen Ereignisse... Man reagiert sensibel auf generelle Zeitfragen, und in der filmischen Verarbeitung sucht man zu einer Form zu gelangen, die konsumierbar ist. Sicher, das Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten ist weit, doch für Experimente im konsequenten Sinn ist kein Raum. Einerseits stellt die konventionelle Art zu filmen auch die Jungen unter die Bedingungen des wirtschaftlichen Kalküls, und anderseits will man endlich einmal einfach sich äussern, mit Bildern sprechen. Dementsprechend sind auch viele Filme politisch schwer festzulegen. Einen eigenen Weg geht Paulino Viota, doch auch in seinem Versuch manifestieren sich symptomatische Widersprüche für die Lage der ‘nuevos creadores’. Sein Agitationsfilm Con uñas y dientes handelt von einem jungen Arbeiter, der einen Streik organisiert. Die Unternehmensleitung setzt einen Schlägertrupp ein, der mit brutalen Anschlägen die Opposition zu ersticken trachtet. Der Film endet mit der Aufforderung an die Arbeiterschaft, die Entscheidung in die eigene Hand zu nehmen. Der 30jährige Katalane wollte ein aktuelles gesellschaftspolitisches Problem über die kommerziellen Kinos an die breite Masse bringen. Diese Absicht verlangt Konzessionen: Im Vordergrund stehen nicht Arbeitsplatz- und Strategieprobleme, sondern eine emotional aufpeitschend inszenierte Polarisierung von faschistischen Banden und der Arbeiterschaft. Brutalität und Sexualität sind primär. Wüste Schlägereien, Vergewaltigung, Liebesakte wiederholen sich durch den ganzen Film. Einerseits will Viota durch diese extensiven Gewalt- und Sex-Partien (Nachhol)bedürfnissen des Publikums entsprechen und anderseits Gefühle mobilisieren. Viota hofft, indem er ein Massenbedürfnis annimmt und diesem nachzukommen sucht, möglichst breit gehört zu werden. Die Frage ist, wie weit diese Ästhetik der Gewalt nicht in der Triebbefriedigung stecken bleibt. Viotas Schockästhetik steht in extremem Gegensatz zum symbolisch verschlüsselten Autorenfilm: Ästhetische und sittliche Verrohung gegen bourgeoisen Ästhetizismus und elitäre Abstraktion? Politisches Engagement gegen liberale Unverbindlichkeit? Die Filmer in den Provinzen dagegen müssen ihr persönliches politisches Engagement nicht krampfhaft lokalisieren. Die baskischen Regisseure etwa sind unmittelbar mit einer konkreten politischen Frage konfrontiert. Sie sehen sowohl die Notwendigkeit ihrer Arbeit ein und fühlen sich auch vom nötigen politischen Enthusiasmus der Öffentlichkeit getragen. Ihre Arbeiten sind tastende Versuche in verschiedenen Richtungen, die Alltagssituation einzufangen und mit dem Volk fürs Volk zu filmen. Sie drehen Dokumentarfilme über Kernkraftwerke und Stauseeprojekte und die Zerstörung der Umwelt, Experimentalfilme über die Polizeigewalt, ethnologische Studien über das eigene folkloristische Erbe etc. Was die Basken heute in der Tat brauchen, ist nicht so sehr der Kontakt mit dem spanischen Spielfilm, sondern mit dem Dokumentar- und Revolutionsfilm der Dritten Welt. Hier fehlen ihnen noch Kenntnisse und ein kontinuierlicher Erfahrungsaustausch. Für die politisch engagierten Filmemacher in den Provinzen ist der Jungfilmer Luis Cortes4 ein Dissident, wenn er feststellt, dass eine Filmkunst, die sich auf regionale Probleme konzentriert und eine konkrete politische Funktion übernimmt, eine unhaltbare Beschränkung einer ihrem Wesen nach universalen Kunst sei. Genau dieser Diskussionspunkt aber ist in seiner politischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Begründung von zentraler Bedeutung zum Verständnis der aktuellen Widersprüche im spanischen Film. Eine genauere Analyse der verschiedenen Tendenzen muss von der politischen Funktionsbestimmung des Films im spanischen Weg zur Demokratie ausgehen. Voraussetzung dazu ist eine kritische Betrachtung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Jörg Huber 1 Manuel Gutierrez Aragon: Drehbuchmitarbeit u.a. Corazon Solitario, 1972, Paco Betriu; Furtivos, 1975, José Luis Borau; Las largas vacaciones desl 36, 1976, Jaime Camino. Regie: Habla, mudita, 1973; Camada negra, 1977; Sonambulos, 1978. 2 Francisco Rodriguez: Regie: Jaque a la dama, 1978. 3 Pedro Olea: Filmkritiker bei Nuestro Cine. Autor verschiedener TV-Filme. Regie u.a.: Dias de viejo color, 1967; La casa sin fronteras, 1972; Tormento, 1974; Pim, pam, pum, fuego, 1975; La Corea, 1976; Un hombre llamado flor de otono, 1978. 4 Luis Cortes: Nach zwei Super-8-LangspieIfilmen Kinodebut mit Marian, 1977.

CINEMA #24/4
SPANIEN 1978