FRED ZAUGG

FOLTER UND LIEBE — LOS OJOS VENDADOS

ESSAY

Es gibt Filme, die sich mit einmaligem Sehen bewältigen lassen, und es gibt jene andern, die sich zwar in einer ersten Vision dem Zuschauer öffnen und als bewegtes Bild haften bleiben, aber dennoch das Bedürfnis nach einer zweiten und dritten Betrachtung wecken. Los ojos vendados von Carlos Saura gehört für mich zu diesen letzteren Werken, und schreibend erst erkenne ich, wie viel ich noch einmal sehen möchte, wie wichtig mir eine zweite Begegnung wäre.

Carlos Saura versetzt mit Los ojos vendados den Zuschauer in eine ähnliche Situation wie den männlichen Hauptdarsteller José Luis Gomez, der den Schauspiellehrer Luis zu verkörpern hat: Eine Erinnerung lässt ihn nicht mehr los. Eine mit dunkler Brille und Kopftuch getarnte Argentinierin hat vor einer als «eine Art Russell-Tribunal» bezeichneten Versammlung Zeugnis von erlittener Folter abgelegt. Die Erinnerung an diese Frau wird für Luis zum schöpferischen Auftrag zu einer Mission und gleichzeitig zu einer Passion, die ihn als Künstler und als Mensch beansprucht, gefangen nimmt.

Unnötig zu sagen, dass Carlos Saura selbst im Mai 1977 an jenem Symposium in Madrid den Aussagen der Zeugin lauschte, dass er selbst durch sie in die Lage von Luis versetzt wurde und diesen Film als Antwort auf seine Erinnerungen gestalten musste. Als Erinnerungen an Erinnerungen wäre demnach das Werk zu bezeichnen, und Erinnerungen an Erinnerungen wiederzugeben, ist auch das Ziel dieser Besprechung. Wenn damit eine Kettenreaktion als Wirkung von Los ojos vendados angedeutet werden kann, so mag dies jene für mich gewichtigste Komponente des Films spiegeln, die Einheit von Sinnlichkeit und Wissen, von Emotion und Philosophie als Antwort auf die Gewalttätigkeit in dieser Welt.

Damit ist noch nichts über die Liebe gesagt. Für Carlos Saura steht sie im Zentrum: «Los Ojos vendados ist eine Liebesgeschichte, die parallel zu einem kreativen Prozess verläuft, in welchem Gewalttätigkeit und Folter enthalten sind». So fasst der Regisseur seine Absichten zusammen. Die Befreiung der Zeugin Emilia (Geraldine Chaplin) aus den Bildern erlittener Folter wird nur durch die Liebe möglich, die sie bei Luis findet. Andrerseits wird ihre Ehe mit Manuel (Xavier Elorriaga) zu einer ebenso unerträglichen, die persönliche Freiheit und das Individuum bedrohenden Folter, wie die von grausamen Dienern einer Ideologie ihr zugefügten Qualen.

Erinnerungsbilder, Visionen und andrerseits Arbeitsprozesse und intime Begegnungen werden aneinandergefügt. Nicht eine lineare Erzählung wird damit angestrebt, sondern eine Verbildlichung von Empfindungen und Gedanken, eine Möglichkeit des Nachvollzugs von Folter und Liebe für den Zuschauer. Der Film besteht aus aufeinanderprallenden Gegensätzen: Gefühl und Berechnung, Schmerz und Glück, Angst und Mut, Traum und Wirklichkeit ergeben ein feines Gewebe menschlicher Existenz in einer Welt des Terrors. Das Suchen nach freiem Ausdruck in der Schauspielschule, dieses Tasten nach der Einheit von Körper und Seele lässt sich etwa der immer wiederkehrenden Strasse durch die Hochebene gegenüberstellen, einem Ort der Begegnung und der Einsamkeit, der Vereinigung und des Verlassenseins. Je grösser die kreative Kraft von Luis und Emilia wird, je mehr das Theaterstück über die Folter, die Darstellung des eingangs erwähnten Tribunals Gestalt annimmt, desto ernsthafter wird die Bedrohung durch die Umwelt. «Freiheit des Ausdrucks» steht als Forderung auf einem Kleber an der Wand, und es ist diese Freiheit, die in der Schlussvision durch Terroristen vor versammeltem Publikum mit einem Maschinengewehrfeuer gegen die Spieler auf der offenen Bühne bestraft, ja vernichtet wird.

Damit lässt Carlos Saura seine «Liebesgeschichte» in einem Blutbad enden. Das Zueinanderwachsen zweier Menschen in einer den andern respektierenden Liebe, ihr Widerstand gegen die sie umgebende Gewalt und ihre bewusstwerdende Verantwortung als Glieder einer Gemeinschaft gegenüber den Individuen, die diese Gemeinschaft bilden, diese Stufen der Hoffnung brechen in seinem Film von prophetischer Kraft in einer einseitig geführten Schlacht in sich zusammen. Hoffnungslosigkeit aus einem von der Diktatur befreiten Spanien? Was in diesem Spiel von Liebe vorerst als Resignation gegenüber der Gewalttätigkeit interpretiert werden könnte, wird zu einem Erkennen der heutigen Situation, zu einem Bewusstwerden der vom Einzelnen oft verdrängten oder ignorierten Beschränkung seine Freiheit durch bekannte und unbekannte, offensichtlich und im Untergrund agierende Mächte. Verantwortung fordert Saura, Widerstand gegen alles, was die Freiheit des Ausdrucks bedroht: Damit ist der spanische Regisseur ausgebrochen aus bloss politischen Zielen und — wie er das immer vehementer tut — zu den fundamentalsten Bedürfnissen des Menschen vorgedrungen.

Dass er für diese missionarische Aufgabe eine neue Form des Filmens sucht, deutet auf die für ihn unabdingbare Einheit von Form und Gehalt hin. Die neuen freieren Produktionsbedingungen, die ihm vom Material her gesehen weniger einschränkende Sparmassnahmen auferlegen, gestatten eine intensivere Zusammenarbeit mit den Schauspielern. Saura räumt Geraldine Chaplin und José Luis Gomez, aber auch den Darstellern der anderen Rollen ein unmittelbares Mitgestaltungsrecht ein. Er lässt das Werk aus einer Gemeinschaft hervorwachsen, die gerade durch den spürbaren Arbeitsprozess Freiheit des Ausdrucks demonstriert. «Eine progressive Konstruktion der einzelnen Szenen» strebt Saura an, und er zählt dabei auf die Einfühlungskraft der Schauspieler. Die gleiche Einfühlungsbereitschaft fordert er von seinem Publikum. Darum müsste man Los ojos vendados mehrmals sehen.

Fred Zaugg
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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