PETER SCHNEIDER

LES ALLES DU PAPILLON (MICHEL RODDE)

SELECTION CINEMA

Les alles du papillon ist Michel Roddes dritte “Conté Cruel” und soll den Abschluss dieser Reihe bilden. Der Film besticht durch den meisterhaften Einsatz und die Beherrschung der filmischen Mittel Kamera, Ton, Licht. Diese stehen bei Rodde nicht im Dienst der Reproduktion einer vorfilmisch vorhandenen Wirklichkeit, von der auch auf anderem Ausdrucksweg Bericht abgelegt werden könnte, sondern sie sind resolut eingesetzte erzählerische Mittel. Die Geschichte, die Michel Rodde zur Darstellung bringt, fangt durch das Mitreden von Bild, Ton und Licht in der Gestaltung erst zu existieren an - sie ist filmisch im konkretesten Sinn des Wortes.

Es erstaunt nicht, dass bei jemandem, der sich dermassen auf Film besinnt, der Dialog, das Wort, seine traditionelle Vorrangstellung verliert: “Die Literatur hat den Film kaputt gemacht.”

Les alles du papillon ist eine Variation der Freudschen Oedipusgeschichte. Ein Kind wird in einem (Irren-)haus durch zwei ältere Damen und einen den Ort beherrschenden Mann ins Leben eingeführt. Nach ausgiebigster Kopfwäsche durch die beiden Frauen und nach dem Tod des (Haus-)Vaters tanzt das Kind glücklich mit seinem Spiegelbild in Händen durch den Korridor, angetan jetzt mit den Kleidern des ermordeten Herrn. Das Kind verlässt den Ort der Initiation: Draussen rauscht das Meer, und es kreischen die Möwen - das Kind tritt in die Welt.

Michel Rodde hat sich bei seiner Erzählung ganz streng auf wenige Sujets beschränkt, welche auf unkonventionelle Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden und dergestalt ungewöhnliche, neue Bedeutungen erhalten. Les alles du papillon ist die Geschichte vom Austausch der Grammaphonnadeln und Kerzen, vom Wasser und der Musik, welche mit diesem zusammen ins Abflussrohr blubbert, von den Beziehungen, in welche Puste, Schaum und Rhythmus gebracht werden, von der rituell eingesetzten Sprache. Letztere wird von Rodde nicht als Trägerin von instrumental zu gebrauchenden, feststehenden lexikalischen Inhalten verwendet, sondern als Produktionsmittel immer neu zu schaffender Bedeutungen gezeigt: Der Herr des Hauses spricht, indem er zählt: “Un, deux, trois ...” Diese reine Rede wird technisch reproduziert und kommt auch nicht zu eindeutiger, denotativer Bedeutung, wenn sie ab Band lange repetiert wird.

Genauso wie Rodde aus dem gewöhnlichen französischen ABC eine Gegensprache schafft, arbeitet er im ganzen Film auf der Klaviatur der Herstellung von Bedeutung. So entsteht ein erst- und einmaliges Lexikon, eine sich selber artikulierende neue Welt.

Deren Eigenständigkeit wird nicht einfach durch wilde Beliebigkeit, sondern durch eine streng strukturierte Darstellungsarbeit behauptet. Roddes Gegenweltproduktion kann sich auf das Diesseits von Psychoanalyse und Linguistik berufen und braucht keine Zuflucht zum dunklen Jenseits von “Phantasie” und Willkür zu nehmen. Les ailes du papillon hat die Kraft einer vollkommenen, nicht auf Meinung und Sujet reduzierbaren Argumentation.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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