KAJA SCHELKER

I GIACOMETTI (SUSANNA FANZUN)

Vordergründig ist I Giacometti die meisterhaft erzählte Dokumentation Susanna Fanzuns über die Künstler_innendynastie der Giacomettis – und sie ist viel mehr als das. En passant kreiert die Regisseurin in ihrer an Archivmaterial reichen Dokumentation mit Leichtigkeit eine poetische wie nüchterne Hommage an die unbändige Kraft der Liebe in ihren unterschiedlichsten Facetten. An den Anfang ihrer Erzählung setzt sie die romantische Liebe zwischen Annetta und Giovanni, die in ihrer bedingungslosen Beständigkeit surreal scheint und doch so reale Früchte trägt wie die vier hochbegabten Kinder. Diese wiederum knüpfen eine durch ihre Kindheit im Bergell enge Geschwisterbande, die Susanna Fanzun in all ihrer Komplexität und auch Wandlung meisterhaft abbildet. Da wäre die zärtliche Zuneigung zwischen Ottilia und Alberto; die lebens-lange, fürsorgliche Bruderliebe, mit der Diego Alberto umsorgt, und schließlich die pragmatische, zurückhaltende Liebe Brunos, des Jüngsten, zu seinen genialen Brüdern, deren Nachlass er, selbst begnadeter Architekt, später voller Hingabe und Bescheidenheit verwalten wird. Anhand vermeintlich nüchterner Dokumente wirft Fanzun mittels verschiedener Liebesstränge ein immer feiner gesponnenes Netz aus, in dem sich letztlich die Liebe aller Familienmitglieder zur Kunst verfängt.
 
Ebenso beeindruckend ist die Ästhetik der Dokumentation, die um die minimalistische Schönheit des Soundtracks von Hania Rani erweitert Grenzen des Genres auslotet, was besonders in den Landschaftsaufnahmen zum Tragen kommt. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die schroffe Bergwelt des Bergells als eine weitere Protagonistin der Familiensaga verstanden werden kann. Denn es ist unter anderem die hochalpine Welt des Bergells, von der sich weder Alberto noch Giovanni zu lösen vermögen und es ist die Kindheitserfahrung des Schneehöhlenbauens, die Bruno mit seiner Berufswahl assoziiert. Die Rolle der Landschaft zwischen passiver Kulisse einer Familiensaga und aktivem Element, das maßgeblich die Sinneserfahrung der Kinder prägt, spiegelt sich in den gekonnt inszenierten Landschaftsaufnahmen wieder: Manchmal bemerkt man erst bei genauer Betrachtung, dass es sich nicht um sekundenlange Standbilder mächtiger Kulissen, sondern um bewegte Landschaftsaufnahmen handelt. Aus der Überlagerung der durch ihre Skalierung nicht selten abstrakt anmutenden Bilder Pierre Mennels mit dem Soundtrack Hania Ranis entstehen zudem landschaftliche Klangräume, die an die Kurzfilme des Kriegsfotografen Seamus Murphy für PJ Harveys Album «Let England Shake» erinnern: Murphys Aufnahmen zeitgenössischer englischer Landschaften voller Ruhe und Frieden konterkarieren PJ Harveys textliche und musikalische Verweise auf die zerstörerische Kraft von Kriegen; bei Fanzun wiederum kommuniziert der Soundtrack mit den Landschaftsaufnahmen und bildet eine Art künstlerischen Erzählstrang der Dokumentation. In beiden Fällen werden innerhalb der jeweiligen Formate auf stilistische Weise Genregrenzen geweitet, wodurch mehrdimensionale Aushandlungen von Heimat, Krieg und Landschaft als Subtexte des Haupterzählstrangs gelesen werden können.
 
Kaja Schelker
*1983, Dipl.-Ing. Arch., studierte Architektur in Stuttgart und Porto. Sie promoviert in Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und arbeitet am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig.
(Stand: 2024)
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