SIMONE GRÜNINGER

SAREBBE STATU (ELLA ROCCA)

Ella Rocca stellt sich in Sarebbe Statu die Frage, wie das eigene Leben aussehen würde, wenn es sich im Süden Italiens statt in der Schweiz abgewickelt hätte. Leicht körnige Bilder erwägen zusammen mit der Tonspur eine Vergangenheit, die nicht so und nicht da stattgefunden hat. Zentraler Schauplatz des Filmes ist die unfertige Wohnung oberhalb des Zuhauses von Ella Roccas Grosseltern. Der Strahl einer Taschenlampe tastet die unverputzten Wände dieser Wohnung ab. In schweizerdeutscher Mundart regt Ella Rocca aus dem Off die Imagination darüber an, wie der Raum hätte eingerichtet sein können – hier ein Bett, da ein Schreibtisch, dort ein Regal mit Pfirsichsäften. Das Voiceover belebt die Einbildungskraft weiter, stellt einen metaphorischen Zusammenhang zwischen dem angefangenen Raum und dem menschlichen Körper her. «Von aussen sehen wir fertig aus.» Der Film thematisiert das Vermissen einer alternativen Lebensrealität.
 
Ella Rocca artikuliert sich vor allem über das Voiceover in deutscher und schweizerdeutscher Sprache zu Fotos der Familie, Sinnbildern von Sand berieselter Haut und Bildern des Stilllebens von nicht fertiggestellten Bauten. Ella Rocca tritt aber auch vor die Kamera und unterhält sich mit Verwandten auf Italienisch oder versucht sich in kalabresischem Dialekt. «Meine Verwandten sprechen unseren Dialekt und ich verstehe sie nicht. Klammerbemerkung: Ich bin fremd.» Diese Interaktionen zwischen der Regieperson und Familie sowie eben solche Klammerbemerkungen, die diese sehr persönlichen, sehr intimen Erfahrungen ergänzen, schaffen es, Fremdheit durch Intimität auszudrücken und Nichtausgesprochenes auszusprechen: «Manchmal werde ich Enkeltochter genannt. Klammerbemerkung: Ich bin ein Enkelkind.»
 
Diesen intimen Ausdruck in der Filmsprache hat Ella Rocca schon in Crushed (CH, 2022) unter Beweis gestellt. Der Desktop-Essay wendet intimste Zustände des hoffnungslosen und unerwiderten Verliebtseins nach aussen. Die eigene Verletzlichkeit selbstironisch und in teils mitreissendem Tempo inszeniert. Ruhiger und ebenso nachdenklich geht Ella Rocca in Sarebbe Statu nun der Frage nach Identität nach. Wie hätte das Leben ausgesehen, wenn Ella Rocca in Süditalien aufgewachsen wäre und sich mit den Verwandten dort auf Mundart unterhalten könnte? ‹Sarebbe Statu› – auf deutsch: ‹wäre gewesen›. Ein Film im Konjunktiv über Identität, über Fremdheit und Intimität. Sehr poetisch, sehr persönlich.
Simone Grüninger
*1999, Bachelorstudium in Filmwissenschaft und Archäologien an der Universität Zürich. Studiert derzeit im Master des NETZWERK CINEMA CH in Zürich und Lausanne.
(Stand: 2022)
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