CORINNE GEERING

HOTEL JUGOSLAVIJA (NICOLAS WAGNIÈRES)

SELECTION CINEMA

Durch lange, dunkle Gänge, über elegant geschwungene Treppen und verwachsene Dachterrassen fährt die Kamera in Hotel Jugoslavija. Der in Lausanne geborene Regisseur Nicolas Wagnières nimmt mit auf eine Spurensuche zu einem Land, das es heute nicht mehr gibt und das er nur aus den Ferienerinnerungen seiner Kindheit kennt. Sein Erstling in Spielfilmlänge verbindet dabei in Manier eines Essayfilms die Gedanken des Regisseurs zu politischen Idealen und der eigenen Identität, kunstvoll eingebettet in Aufnahmen der weitläufigen Hotelarchitektur, mit Ausschnitten aus Spielfilmen und Nachrichtensendungen und den Erzählungen von fünf Zeitzeugen.

Über zehn Jahre besuchte Wagnières regelmässig das Hotel Jugoslavija im Stadtteil Novi Beograd im Westen Belgrads und verarbeitete seine Eindrücke bereits 2007 in einem Kurzfilm mit demselben Namen. Das 1969 eröffnete Luxushotel war ein Prestigeobjekt des sozialistischen Jugoslawiens und der Film folgt anhand des Hotels der Geschichte dieses Landes: vom Aufbau Belgrads nach dem Zweiten Weltkrieg über die Treffen Titos mit politischen Vertretern anderer Länder bis hin zu den Bombardierungen in den 1990er-Jahren und der postsozialistischen Korruption. Zu Beginn des Films lässt Wagnières seine Mutter, die in den 1960er-Jahren in die Schweiz emigrierte, vom damaligen Glauben an eine bessere Zukunft im Sozialismus erzählen. Die darauffolgenden Aufnahmen von politischen Reden, verschütteten Räumen und Gesprächen mit ehemaligen Hotelmitarbeitern werden gerahmt von Sequenzen, in denen der Regisseur durch das teilverfallene Hotel schreitet.

Die Filmsprache ist geprägt vom Gefühl des Verlusts und der Faszination für den Zerfall. In minutenlangen Sequenzen inszeniert der Film postsozialistische Ruinen, wie man sie aus zahlreichen Bildbänden kennt, die in den letzten Jahren erschienen sind. Das Hotel Jugoslavija wird damit in erster Linie zur Projektionsfläche von Wagnières’ Gefühl der Sinnentleerung und weniger der kollektiven Erinnerungen, auf die er zu Beginn des Films gleichermassen verweist. So ergeben die Passagen, in denen seine Gedanken über Aufnahmen der Hotelarchitektur gelegt sind, nicht wirklich eine Einheit mit den Nachrichtensendungen und Zeitzeugenerzählungen, die historische Authentizität beanspruchen. Das kann man durchaus als spannungserzeugende filmische Umsetzung eines Konflikts mit der eigenen Identität lesen. Die Widersprüche der kollektiven Erinnerungen in der Gegenwart werden dabei jedoch nicht erfahrbar.

Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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