FLORIAN KELLER

DAS HERZ IN DER HOSE – KLEINE NACHLESE ZUM SCHISSFILM

«Die Frage sei erlaubt, ob mit diesem Journalisten die richtige Person gefunden wurde, um für den Tages-Anzeiger über Schweizer Filme zu schreiben. Seine Voreingenommenheit spottet jeglicher journalistischen Seriosität und Fairness.» Absender dieses Schreibens war der Verband Filmregie und Drehbuch Schweiz, unterzeichnet hatten der Präsident und die Geschäftsleiterin. Adressiert war der Brief vom 9. November 2011 an den damaligen Chefredaktor des Tages-Anzeigers, und mit «diesem Journalisten» war ich gemeint.

Der Stein des Anstosses? Eine tagesaktuelle kleine Glosse darüber, welcher Film die Schweiz bei den Oscars vertreten sollte. Nicht mal eine halbe Spalte, einiges kürzer auch als dann der Protestbrief auf offiziellem Verbandsbriefpapier. Voilà, 152 Wörter nur:

«Delémont-Hollywood» heisst die Veranstaltung im Jura, bei der jeweils im Herbst eine Jury bestimmt, welcher Film die Schweiz bei den Oscars vertreten soll. Klingt wie ein Ticket für die Traumfabrik, ohne Rückfahrt? Reines Wunschdenken! Die offizielle Einreichung für den Oscar ist eine Reise der Hoffnung, die für die Schweizer Filme zuverlässig auf halber Strecke endet. Das dürfte unserem diesjährigen Hoffnungsträger, dem Film «Summer Games» von Rolando Colla, nicht anders ergehen: eine schwebende Kamera, in der Hauptrolle ein trotziger Bub, aber sonst psychologische Schwerfälligkeit. Klar, «Summer Games» lief schon in Venedig und Toronto, aber ist dieser Problemfilm aus einem italienischen Campingplatz wirklich die beste Visitenkarte, die das Schweizer Kino nach Hollywood schicken will? Wenn wir bei den Oscars schon keine Chance haben, dann hätten wir sie wenigstens mit den «Stationspiraten» nutzen sollen. Auch kein grossartiger Film, aber einer, der wie gemacht ist für die Oscars: Junge Menschen, schwere Krankheit, weichgespült mit Popmusik. 1

Ich bin nicht stolz auf diese böse kleine Glosse unter dem Titel «Reise der Hoffnung». Und war ganz froh damals, dass der Chefredaktor, ein fleissiger Kinogänger übrigens, so souverän reagierte auf die Beschwerde des Regieverbands. (Im Züritipp war besagter Film von Rolando Colla damals überaus positiv besprochen worden.) Interessant war aber, was rund zwei Monate später geschah, als ich im Magazin zum grossen Rundumschlag gegen den Schweizer Film ausholte: «Wenn nächste Woche die Solothurner Filmtage starten», so hiess es in der Unterzeile, «wird man sich wieder fragen, warum das Schweizer Kino das Herz in der Hose trägt.» 2 Über mehrere Seiten durfte ich mich über das spezifisch schweizerische Genre des ‹Schissfilms› ausbreiten.

Angelehnt war dieser Kalauer an einen Begriff, der rund dreizehn Jahre davor die Runde gemacht hatte, nachdem im Magazin eine Polemik gegen den sogenannten ‹Scheissfilm› erschienen war.3 Der Verfasser sitzt heute für die SVP im Nationalrat, mit seiner Typologie des Scheissfilms traf er damals schon ein paar weiche Ziele – aber sie war eben auch borniert und latent kulturfeindlich. Mit der Erfindung des ‹Schissfilms› hoffte ich, den blöden Begriff ‹Scheissfilm› in den Schatten zu stellen, wo er hingehörte.

Meine Diagnose zum einheimischen Kino damals: Der Deutschschweizer Spielfilm – die Romands waren nicht mitgemeint – habe sich in der eigenen Mutlosigkeit eingerichtet. In gutschweizerischer Angst schrecke er vor jedem künstlerischen Risiko zurück, aus Sorge, er könnte damit sein Publikum überfordern oder gar verunsichern. Kurz und gut, die Schweiz sei ein «Land von Schissfilmern», und als Kronzeuge diente mir das pasteurisierte Krebsdrama, das ich in der beanstandeten Glosse noch ironisch als den besseren Anwärter für die Oscars ins Feld geführt hatte. Der Befund zum Schissfilm war pauschalisierend, er war – abgesehen vom Namen – nicht neu und auch nicht besonders originell. Und am Ende brachte ich als Gegenentwurf zum helvetischen Schissfilm allen Ernstes Christopher Nolans Inception (US/UK 2010) in Stellung. Echt jetzt?

Umso erstaunlicher war dann das Echo, das der Artikel vor allem in der Filmbranche auslöste. In Solothurn erfasste mich eine Welle der Zustimmung, wie ich das nie zuvor erlebt hatte. Der Verbandspräsident, der zwei Monate davor noch beim Chefredaktor für meine Absetzung geweibelt hatte, weil ich angeblich pauschalisierend das Schweizer Filmschaffen diskreditieren würde, nahm sich jetzt die Zeit, mir für diesen Text zu gratulieren, der pauschalisierend das Schweizer Filmschaffen diskreditierte. Ein Regisseur, der gerade einen dieser unsäglich netten Sonntagabendfilme fürs Schweizer Fernsehen realisiert hatte, stellte den Essay freudig ins Netz. Plötzlich war ich umringt von Schulterklopfern.

Das ist einem Kritiker ja nie geheuer, wenn er von einhelliger Zustimmung erdrückt wird. Was zum Teufel hatte ich falsch gemacht? Oder sind unsere Filmschaffenden so masochistisch veranlagt, dass sie eifrig applaudieren, wenn man sie öffentlich als Schissfilmer verunglimpft?

Die Erklärung, die ich mir zwei Jahre später auf Einladung der Solothurner Filmtage zurechtlegte, war eine andere. Mein Fehler, wenn man so will: Bis auf diejenigen, die ich mit ihren Filmen namentlich erwähnt hatte, fühlte sich niemand mitgemeint. Fast alle hier würden ja noch so gerne kompromisslose, angstbefreite Filme machen – wenn man sie denn nur machen liesse. Aber wir wissen ja, die Verhältnisse in unserem kleinen Land hindern sie daran, als da wären: das Fernsehen, die Fördergremien, das ganze unheilige Geflecht unseres demokratischen, föderalistisch abgefederten Förderwesens. Die Angst, sie geht von den Kommissionen aus, die das mutige Kino vorzeitig aussortieren, bevor es überhaupt entstehen kann.

Sicher gibt es auch heute noch solche, die sich auf diese Weise in die eigene Tasche lügen: «Ich, das furchtlose Genie, das nur an den Sachzwängen der Förderpolitik zerschellt!» Anderseits hat sich gerade in den letzten Jahren eine neue Generation von Filmemacher_innen etabliert, die konsequent und unerschrocken ihren Weg gehen. Zwar hatte ich schon damals im Magazin ein paar Gegenbeispiele parat. Aber wenn ich jetzt an spätere Filme wie Aloys (Tobias Nölle, CH/FR 2016), Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern (Stina Werenfels, CH/DE 2015), Der Unschuldige (Simon Jaquemet, CH/DE 2018) oder Dene Wos Guet Geit (Cyril Schäublin, CH 2017) denke, sehe ich heute keinen Anlass für ein Sequel zum Schissfilm-Essay.

Wovon ich aber nach wie vor überzeugt bin: In einem Land, dessen Filmförderung zumindest auf Bundesebene immer noch auf einem Milizsystem fusst und wo gerade die Filmbranche selber darauf pocht, dass ihre eigenen Leute in den Förderkommissionen sitzen und über die Förderbeiträge entscheiden – in einem solchen Land brauchen wir uns auch weiterhin über Schissfilme nicht zu wundern. Es ist ein System der freiwilligen Selbstkontrolle, wie ich das an anderer Stelle genannt habe: Wieso will die Filmbranche unbedingt selber darüber wachen, wer gefördert wird und wer nicht? Aus einer solchen Kultur ist selten gute Kunst entstanden. Und schon gar keine mutige.

Florian Keller, «Reise der Hoffnung», in: Tages-Anzeiger vom 11. 8. 2009.

Florian Keller, «Ein Land von Schissfilmern», in: Das Magazin vom 14. 1. 2012.

Roger Köppel, «Zum Genre des Scheissfilms», in: Das Magazin vom 25. 7. 1998.

Florian Keller
*1976 in Winterthur, Kulturredaktor bei der «WOZ – Die Wochenzeitung», arbeitet seit 1997 als Kulturjournalist. Nach seinem Studium der Anglistik und Germanistik an der Uni- versität Zürich war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am In- stitut Cultural Studies der Zürcher Hochschule der Künste, später Kulturredaktor bei der «Basler Zeitung» (2006) und beim «Tages-Anzeiger» (2006-2014).
(Stand: 2021)
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