DORIS SENN

HEXENKINDER (EDWIN BEELER)

Erschütterndes fördert Edwin Beeler in seinem Dokumentarfilm Hexenkinder zutage. Er erzählt von MarieLies und Pedro, von Sergio, Willy und Annemarie. Als uneheliche Kinder oder Waisen wurden sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts der fürsorgerischen Bevormundung unterstellt und als ‹Kinder der Sünde› abgestempelt. Sie landeten in katholischen Waisenhäusern, wo die Nonnen sogar die Kleinsten oft regelrecht folterten. Bettnässen, Widerrede, eine gewisse Lebhaftigkeit oder das schiere Existieren schien den christlichen Schwestern Grund genug, die Kinder zu schlagen, hungern zu lassen, zu isolieren, mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reissen und in der Badewanne ‹z dünkle›. Die Kinder erlebten Todesangst, Erniedrigung und auch Missbrauch – oft über Jahre. Entsprechend werden die Überlebenden bis heute von den damaligen Erinnerungen verfolgt und geplagt. Ohne dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren wäre.
 
Fünf ganz unterschiedliche Persönlichkeiten lässt der Regisseur von ihren traumatischen Erfahrungen erzählen, die sie im Waisenhaus Einsiedeln, im Laufener Mariahilf oder der Stiftung «Gott hilft» in Zizers erlebten. MarieLies etwa, die mit zwei zu den Nonnen kam – und rund zwölf Jahre alle erdenklichen Quälereien über sich ergehen lassen musste. Oder der aufgeweckte Willy, der von den Schwestern ebenfalls über Jahre gezüchtigt und gepeinigt wurde. Die meisten erhielten erst jetzt Einsicht in ihre Akten – wenn diese denn noch existieren. Bei Sergio etwa wurden sie zerstört – und nichts von seinen Heimwechseln ist aktenkundig, schon gar nicht Beurteilungen aus psychologischer Sicht oder seines Vormunds. Auch Fotografien fehlen – von den Kindern, aber auch von Angehörigen. Wie wenn ein Teil ihres Lebens mutwillig gelöscht worden wäre, ja gar nie existiert hätte. Auch dies macht es den ehemaligen Heimkindern schwer, mit ihrer Vergangenheit abzuschliessen.
 
Winterlandschaften, schön und unterkühlt zugleich, Bilder vom Nachthimmel oder dem Föhnsturm, aber auch Impressionen aus den Heimgebäuden und von den ‹Tatorten› bieten den visuellen Echoraum für die aufwühlenden Geschichten, die Hexenkinder eindringlich und mit viel Empathie zu vermitteln vermag. Der Filmemacher und Historiker Edwin Beeler (Rothenthurm, CH 1984, Bruder Klaus, CH 1991, Die weisse Arche, CH 2016) spannt den Bogen aber auch in die Vergangenheit und zeigt auf, wie schon im 17. Jahrhundert Kirche und obrigkeitliche Gewalt zusammenspannten und Minderjährige ‹verteufelten›, als ‹Hexenkinder› folterten und gar hinrichteten. Die Öffentlichkeit billigte das Vorgehen – damals wie auch in jüngster Vergangenheit und trägt damit eine Mitverantwortung an den grausamen Geschehnissen. «Eine unbeschwerte Jugend ist ein Menschenrecht», sagt Willy, von seinen Erinnerungen sichtlich übermannt. Wie wahr.
Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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