CATHERINE ANN BERGER

EINE BLEIBENDE ERINNERUNG SCHWEIZER FILMGESCHICHTE

MOMENTAUFNAHME

Kurze Szene, Downtown New York: Auf der Leinwand des Kinos läuft der Abspann von Die göttliche Ordnung. Es ist die zweite Vorführung von The Devine Order am Tribeca Film Festival. Hier feiern die Regisseurin Petra Volpe und die Produzenten Reto Schaerli und Lukas Hobi von Zodiac Films die internationale Premiere ihres Films. In der Schweiz zeichnet sich bereits ein Hit ab. Der Film über die wehrhaften Frauen aus dem Appenzell entwickelt sich seit seiner Premiere in Solothurn zum Schweizer Publikumsliebling. Nun sind zahlreiche Mitglieder der Crew und des Casts nach New York mitgereist. Die Vorführtage liegen günstig wegen Ostern. An diesem Samstagnachmittag stehe ich neben Marie Leuenberger an der Seite des Kinosaales, wir sind gespannt auf die Reaktionen. Ist das komödiantische Drama mit Untertiteln auch für New Yorker verständlich? Wie wird das kritische und filmverwöhnte Publikum hier den Film annehmen? Noch während der Abspann läuft, kommen aus dem Dunkeln zwei ältere Herren auf Marie zu. Der eine nimmt ihre Hand und gibt ihr einen galanten Handkuss, der andere macht eine kurze, lässige Verbeugung vor ihr. Beide schenken ihr ein umwerfendes Schelmenlächeln. Mein Herz beginnt zu pochen. «Marie, weisst du wer diese beiden Herren waren?», flüstere ich ihr zu. «Oh ja», flüstert sie zurück, «Peter Fonda und Willem Dafoe!» Später werden die beiden Stars Marie Leuenberger auszeichnen und ihr den Preis für die Beste Schauspielerin im internationalen Wettbewerb überreichen: «For a performance that is patient, intelligent and graceful, that captured the liberation of a young woman.» If you can make it there, you can make it everywhere.

Marie Leuenberger hat mit dieser Rolle eine bleibende Erinnerung Schweizer Filmgeschichte geschaffen. Wie sie am Anfang des Films mit Kopftuch und knielangem Rock auf dem Fahrrad der hügeligen Strasse entlangstrampelt, entschieden und frohgemut gegen den Wind, ist bereits der Auftakt zu einem Versprechen. Sie habe sich zur Vorbereitung auf die Rolle nicht sonderlich in die Geschichte eingelesen. Aber sie habe einige Dokumentarfilme aus den 70er-Jahren angeschaut, sagte Marie Leuenberger einmal, um zu sehen, wie die Frauen damals gestikuliert hätten. Das Resultat ist ein zurückgenommenes Spiel. Das Publikum kann ihr beim Denken zuschauen. Und zu denken gibt es für Nora genug in diesem Schweizer Gesellschaftsstück, das sich wie ein Lauffeuer nach New York und auf andere Erdteile verbreitet. Frauengeschichte ist Weltgeschichte. Die behutsame Darstellung der Bäuerin erinnert mich an Meryl Streeps legendäre Performance in The Bridges of Madison County vor über zwanzig Jahren. Da spielte Streep auch eine Bäuerin, die das Leben einen Sommer lang in die Hand nimmt und ihre Lust entdeckt. Es brachte ihr eine Nominierung für den Oscar ein. Qualität setzt sich immer durch. Auch auf Appezöllerdütsch.

Catherine Ann Berger
*1965, studierte Film- und Theaterwissenschaften an der Universität Wien. War nach ihrem Studium tätig als Redakteurin beim Schweizer Fernsehen und moderierte die Sendung Kulturzeit auf 3sat. Sie absolvierte eine Ausbildung als Script Consultant in Berlin, Stuttgart und Leipzig und war Dramaturgieassistentin beim Film Im Nordwind und arbeitete am Drehbuch von Die Herbstzeitlosen (beide von Bettina Oberli). Heute arbeitet Catherine Ann Berger als freie Filmdramaturgin und Autorin und ist seit 2013 Direktorin von Swiss Films.
(Stand: 2020)
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