NATALIE BÖHLER

DIE SCHWALBE (MANO KHALIL)

SELECTION CINEMA

Früher oder später kehrt jede Schwalbe in ihr Nest zurück. So lautet ein kurdisches Sprichwort, erklärt der Kurde Ramo der jungen Schweizerin Mira. Sie ist alleine nach Kurdistan gereist und möchte ihren Vater finden, der die Familie verlassen hat, als Mira noch klein war. Ihre Mutter erzählt, er sei ein Freiheitskämpfer seines Volkes gewesen, und das romantische Bild vom Heldenvater treibt Mira an, nach ihren Wurzeln zu suchen. In ihrer Getriebenheit merkt sie nicht, wie sich, kaum landet sie in Erbil, rätselhafte Gestalten an ihre Fersen heften, unter anderem der deutschsprechende Ramo. Er bietet sich als Chauffeur und Dolmetscher an, um ihr bei der Suche zu helfen. So beginnt eine gemeinsame Reise, auf der Mira dem Land und Ramo schrittweise näherkommt. Dabei erweisen sich ihre Vorstellungen und Gewissheiten immer wieder als Täuschungen, bis sie schliesslich Klarheit gewinnt.

Die Schweiz, die Mira hinter sich lässt, erscheint als Folie für wohlstandsverwahrloste Stagnation, die ihr den Abschied einfach macht. Ihre Mutter wirkt kühl und distanziert durch ihren Unwillen, die Beziehung zum Vater mit ihrer Tochter zu diskutieren. Miras Freund ist ein solider Angestellter, der endlich mit ihr zusammenziehen und sich eine komfortable Wohnung leisten möchte. Sein Angebot, ihr nach Kurdistan nachzureisen, und seine besorgten Anrufe empfindet Mira als ein­engend, seinen Bindungswunsch als Bedürftigkeit. Dies betont die filmische Erzählung während Miras Reise immer wieder; auch die tiefgreifenden Erlebnisse in Kurdistan scheinen ihre Sicht nicht zu relativieren, was bei ihrer Heimkehr am Schluss des Films eine Frage offenlässt.

Ein zentrales Element der filmischen Erzählung sind die pittoresken Landschafts­auf­nahmen, die den Zuschauer die Abgelegenheit, Weite und Rauheit des Landes nach­­­empfinden lassen. Die unbeschwerte Naivität der Hauptfigur macht die Desorientierung in der Fremde ebenso zugänglich wie die Freude am Entdecken von Neuland. Das Drehbuch verknüpft den Spannungsbogen des Plots geschickt mit der Vermittlung der Geschichte Kurdistans. So versteht man, je länger sich die Geschichte entwickelt, desto genauer ihre historischen Hintergründe und die politischen Verwicklungen, die in der gewaltreichen Vergangenheit dieses Gebiets wurzeln. Die Schwalbe mündet in eine Kritik am Verhaftetsein in der Geschichte und an den Gewaltspiralen, die sich daraus ergeben und bis in die Gegenwart weiterdrehen.

Der Regisseur Mano Khalil stammt aus Kurdistan und lebt in der Schweiz. Vor diesem Film drehte er hauptsächlich Dokumentarfilme; mehrere seiner Werke spielen im irakischen Kurdistan, wie etwa Der Imker, der eine kurdisch-schweizerische Migrationsgeschichte und den kurdisch-türkischen Krieg behandelt. Die Schwalbe eröffnete 2016 die Solothurner Filmtage.

Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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