To avoid fainting, keep repeating:
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Trailer zu Last House on the Left (Wes Craven, USA 1972)
In der Nacht des 12. Juli 1920 erschoss der 17-jährige Imanuel Hartinger in Zürich-Schwamendingen einen Radfahrer und raubte diesen aus. Bald wurde er verhaftet und gab in der Einvernahme Kinofilme als Inspirationsquelle für seine Tat an. Laut einem zeitgenössischen Bericht äusserte sich Hartinger folgendermassen: «‹Es machte mir doch nichts aus, den Radler wegzuschaffen, das machte ich in aller Ruhe, denn solches kann man ja alle Tage im Kino sehen› usw.»1 Einem anderen Berichterstatter zufolge habe Hartinger auch bekannt, «dass er während der letzten Wochen vor dem Morde täglich mindestens drei kinematographische Vorstellungen besuchte und zwar nur solche, in denen Detektivgeschichten vorgeführt wurden. [...] Es ist also nicht schwer, einen Zusammenhang zwischen seiner Tat und den Kinobesuchen zu konstruieren».2 In der Tat. Der Nachweis einer kausalen Wirkung des Filmkonsums auf realweltliche Folgetaten jedoch gestaltet sich bekanntlich bis heute – Filmfreunde atmen auf! – bedeutend schwieriger. Schon 1909 hatte jedenfalls ein Rechtswissenschaftler die vielfältigen Befürchtungen nüchtern auf den Punkt gebracht: «Man fürchtet das Kontagium.»3
Der Fall Hartinger, der auch jenseits der Kantonsgrenzen als mustergültiges Beispiel schädlicher Filmwirkungen Verwendung finden und sogar ein rundes Vierteljahrhundert später noch bestimmte Gemüter bewegen sollte,4 steht hier nicht nur als prägnantes Beispiel einer allgemeinen Skepsis gegenüber populären Formen von Medienkonsum, die seit Anbeginn solche Kulturtechniken begleitete. Im Besonderen soll er eine Kritik am Kino illustrieren, die schon 1920 keineswegs mehr neu war, sondern seit Längerem routiniert den durch Filme geförderten Untergang der Gesellschaft an die Wand gemalt hatte. Zum Zeitpunkt der Diagnose waren Filme im Kanton Zürich bereits seit etwa 25 Jahren vorgeführt worden und hatten ähnliche Anekdoten – entsprechend der inkriminierten Auslöser – gleichsam seriell Schauer beim erweiterten Erzieherkreis, also der «Lehrer, Ärzte, Geistlichen»,5 erweckt. Die Leser solcher Befunde waren oft auch Autoren mit ähnlicher Zielsetzung und umgekehrt; zusammen jedenfalls bildeten sie eine politische Grösse, die um die Macht der konzertierten Einflussnahme wusste.6 Wehe, wenn sie mit ihrem Furor auf die Politik losgelassen – dann zeitigten etwa ihre Zuschriften an die Behörden und ihre Beiträge in Vernehmlassungen regelmässig direkten Erfolg. Spätestens seit der exemplarischen Publikation des Basler Pfarrers Hermann Schachenmann aus dem Jahr 1909, die als früheste Schweizer Monografie mit vehement filmkritischer Stossrichtung gelten darf, kämpften die «Kinoreformer» an zwei Fronten: Sie propagierten den «guten», «schönen», «ruhigen» und bestenfalls «rein landschaftlichen» Film7 und versuchten, diesen zu institutionalisieren, was aber am mangelnden Zuspruch des Publikums scheiterte. Entgegen des Pfarrers und seiner Mitstreiter Plan seien «vor allem die ärmeren Klassen» nach wie vor ins Kino gegangen, weil sie eher ein «blosses Unterhaltungswesen», denn ein «Bildungsinstitut» aufsuchen wollten.8 Angesichts dieses vermeintlichen Beweises, dass die rettungsbedürftigen Konsumenten bereits zu sehr korrumpiert waren, kam die Alternative zum Tragen: die Forderung, «Wertlosem, weil Läppischem und Dummem», «Sentimentalem» und «Rohem, Schlüpfrigem, mehr oder minder Gemeinem»9 im Film mittels staatlicher Einflussnahme, der Filmzensur, entgegenzutreten.
Der vorliegende Beitrag hat diese exemplarische Begrenzung der Filmrezeption im Kino zum Thema: In chronologischer Folge sollen die Regulative in der Stadt und im Kanton Zürich von den Anfängen bis in die neuere Zeit betrachtet werden, die als Inhalts- und Zutrittsbeschränkungen den (eventuell unmündigen) Interessenten den Konsum bestimmter Filme versagten. Platzgründe verunmöglichen Vollständigkeit; einige Fallbeispiele aus der Zürcher Zensurpraxis sollen illustrativ einfliessen.10
Die Etablierung der Zürcher Filmzensur
Wie jedes neuartige «Werkzeug des Satans»11 traf auch der Film den Gesetzgeber unvorbereitet. In Ermangelung einer Spezialregelung wurden im Kanton Zürich die ersten Filmvorführungen den Schaustellungen zugezählt, die durch das Markt- und Hausiergesetz von 1894 reguliert wurden.12 Es unterstellte damit auch die Filmvorführungen der Patentpflicht und verbot im inhaltsbeschränkenden Paragrafen 17 unter anderem «die Produktion von Schaustellungen, welche an sich interesse- oder wertlos sind, oder das sittliche Gefühl verletzen».
Die ersten beiden Kinos auf Stadtgebiet wurden im Frühjahr 1907 eröffnet. Sie wurden im Alltag sichtbar und aus dem karnevalistisch-tolerierten Kontext der Volksfeste und -belustigungen herausgelöst – als neuerdings permanenter Bestandteil des täglichen Lebens wurde das Kino mit all seinen Verlockungen verstärkt als Bedrohung wahrgenommen. Im folgenden Jahr erhöhte sich die Anzahl Stadtzürcher Kinos bereits auf sechs, was die Kinogegner zu konzertierten Aktionen gegen das «Kinematographenfieber» bei Kindern veranlasste: In Briefen an den städtischen Polizeivorstand warnten sie vor physischen Folgeschäden («nervenaufregende Geschichten») und moralischer Verwahrlosung («Reizung der niedrigen Sinne»), die durch den Filmkonsum hervorgerufen würden und konstatierten gar eine bei Kindern grassierende Beschaffungskriminalität, durch welche diese an das Eintrittsgeld gelangen würden. Speziell der Besuch der beiden Kinos im Vergnügungsviertel Niederdorf schien gefährlich, seien diese doch «Vergnügungslokale der Dirnen und der ihnen affilierten Kreise». Der Polizeivorstand übernahm den Vorschlag, mit dem etwa der Brief der Kinderschutz-Vereinigung Zürich schloss und verfügte am 26. Februar 1909 die erste Spezialregelung zum Kinowesen auf Stadtgebiet: «Der Besuch der Kinematographentheater durch schulpflichtige Kinder ohne Begleitung Erwachsener wird verboten.» Am 14. April 1909 erliess der Polizeivorstand dann die erste generelle Vorschrift zum Kinowesen, die als Vorläufer für die Regelungen der kommenden Jahrzehnte gelten muss: Neben Vorkehrungen gegen den Feuerausbruch durch «Filmbrand» wurde das Augenmerk auch auf die «öffentliche Sittlichkeit» gelegt und Inhaltsbeschränkungen für Filme für Erwachsene festgeschrieben:
«Die kinematographischen Darbietungen selbst sollen unter Ausschluss unsittlicher und anstössiger Bilder vor sich gehen.»
Eine eigentliche Filmzensur war damit noch nicht geschaffen, wurden die Vorstellungen von der Stadtpolizei doch nur unsystematisch geprüft. 1913 gab es dann 17 Kinos im Kanton Zürich, wovon sich zwölf auf Stadtgebiet befanden. Ein im Mai desselben Jahres im städtischen Amtsblatt publiziertes Baugesuch für ein Kino an der Stadtzürcher Langstrasse bewegte dann 70 Lehrpersonen des Schulkreises III sowie die Sektion Aussersihl des Christlichen Vereins junger Männer jeweils zu einem Protestschreiben an den Polizeivorstand, in denen sie gegen die «öffentliche Pest» Kino zeterten. In der Folge erliess der Stadtrat am 5. Juli 1913 eine Verordnung zu den Kinos, die auch von der kantonalen Polizeidirektion begrüsst wurde. Die Inhaltsbeschränkungen blieben unverändert, Filme durften jedoch nur unter Vorbehalt gezeigt werden:
«Der Stadtrat behält sich vor, eine polizeiliche Prüfung sämtlicher Filme vor deren Verwendung anzuordnen.»
Damit war erstmals auf Zürcher Kantonsgebiet die Möglichkeit zu einer Vorzensur von Filmen, die in Normalvorstellungen vorgeführt wurden, gegeben. Kinder «unter dem 15. Altersjahr» hatten nun auch in Begleitung Erwachsener keinen Zutritt mehr. Als Nachhall auf die erwähnte Intervention der Lehrkräfte war nunmehr auch die Errichtung von Kinos in der Nähe von Schulhäusern untersagt.
Die Kantonalzürcher Kinoverordnungen von 1916 und 1922
Angestossen durch einen regierungsrätlichen Antrag zu einer Kinoverordnung war 1916 das Kino dann erstmals Gegenstand kantonsrätlicher Debatten. Der Rat entschied sich für die Regelung mittels einer Verordnung, welche er in eigener Kompetenz erlassen konnte und folgte damit der Sichtweise des Präsidenten der vorberatenden Kommission, der festgehalten hatte, dass «der hier in Frage kommende Interessentenkreis ein beschränkter ist und es sich kaum lohnt, wegen verhältnismässig wenigen und kleinern Betrieben die grosse Mühewalt einer Gesetzesabstimmung zu haben.» Ganz anderer Ansicht war naturgemäss das Kinogewerbe, als es in seiner Eingabe an die Justizdirektion den Verdacht äusserte:
«Übrigens würde das Volk in seiner Gesamtheit einem Spezialgesetz, das den Inhalt Ihrer Verordnung hätte, niemals zustimmen. Speziell die Zensur würde das Volk niemals annehmen.»13
Von diesem Einwand unbekümmert hiess der Kantonsrat den regierungsrätlichen Vorschlag letztlich gut. Die Verordnung vom 16. Oktober 1916 enthielt nun die richtungweisenden Bestimmungen zum auch für Erwachsene verbotenen Filminhalt, die für Jahrzehnte Bestand haben sollten:
«Die Vorführung unsittlicher, verrohender oder sonst anstössiger Filme ist verboten.»
Endlich wurden auch die Kontrollmechanismen festgehalten: Die Mitglieder einer achtköpfigen Kommission, «der auch Frauen angehören sollen»,14 hatten «wöchentlich ein bis zwei Besuche in Kinematographen auszuführen» und bei mutmasslichen Verstössen gegen die Inhaltsbeschränkungen den Kinobetreiber dazu anzuhalten, «von sich aus für Abstellung» des nicht genehmen Films zu sorgen.15 Falls er sich nicht freiwillig dazu zwingen lassen sollte, so erstellte die Kommission ein Gutachten zuhanden der Polizeidirektion, die über den Film dann entschied: entweder auf Zulassung oder auf Verbot des ganzen Films oder bestimmter seiner Teile. Die Filmzensur als «spezielles Verfahren» der Verwaltung war damit endlich etabliert. Ab dem Berichtjahr 1917 wurden kinobezogene Zahlen systematisch in den Geschäftsberichten des Regierungsrates verzeichnet: 1917 erfolgten in den 18 Kinos auf Kantonsgebiet 688 Kontrollgänge, zehn Filme wurden verboten und drei nach Kürzungen freigegeben. Obwohl die Filmzensur mit der Verordnung auf einer legislativ abgesicherten Grundlage erfolgte, schwang nach wie vor ein erzieherisches Element in der Tätigkeit der Kommission mit, die danach trachtete, das Kino «zu einem brauchbaren Instrument der Unterhaltung und Belehrung zu machen.» Der Geschäftsbericht vermerkt gar, dass auch diese Absicht bei der «Mehrzahl der Kinematographenbesitzer» auf «verständiges Entgegenkommen» gestossen sei – obwohl deren Angst vor dem finanziellen Verlust, welcher die Absetzung eines Films nach sich zog, vermutlich überwog. 1918 nahm sich die Kommission dann die «Ausschaltung der sogenannten Charlot-Filme»16 vor; mehr Augenmass bewies sie in der Abweisung des Antrags eines Einzelmitglieds der Kommission auf den «Erlass eines grundsätzlichen Verbotes der Vorführung von Verbrecherfilmen».
Schon die Folgejahre aber brachten einschneidende Veränderungen: So stieg 1921 die Anzahl geprüfter Filme auf 871, 1922 dann auf 1001. Ein Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts vom 14. Juni 1918, in dem es die Vorzensur von Filmen für verfassungsgemäss erklärte,17 eröffnete auch der Zürcher Filmzensur neue Möglichkeiten, den erkannten Probleme abzuhelfen: Die Nachzensur war nicht nur arbeitsintensiv, sondern mit dem Makel der ihr immanenten Verspätung des zensorischen Eingriffs behaftet.18 Am 26. Juni 1922 wurde die abgeänderte Kinoverordnung vom Kantonsrat angenommen und die Vorzensur verankert:
«Ohne vorher erteilte Bewilligung darf ein Film nicht vorgeführt werden. [...] Die Polizeidirektion ordnet die Prüfung der Filme an und entscheidet über Zulassung oder Verbot.»
Das generelle Zutrittsalter wurde von 15 auf 18 Jahre erhöht. Die vorgängige Begutachtung jedoch erfolgte nicht zwingend mittels Visionierung der Filme: Im Regelfall scheint sich die Kommission, die mittlerweile auf 15 Mitglieder verstärkt worden war, mit einer Inhaltsbeschreibung in deutscher Sprache und einer Bezeugung des Gesuchstellers zufrieden gegeben zu haben, dass der Film den Bestimmungen nicht widerspreche. Suspekte Filme wurden erst bei Bedarf visioniert, worauf wiederum der bekannte «Verständigungsversuch», beziehungsweise bei Uneinigkeit der Entscheid der Polizeidirektion erfolgte. Gegen diesen stand dem Gesuchsteller der Rekurs an den Regierungsrat offen.
Die Filmzensur war jetzt als Vorzensur etabliert, und in den Geschäftsberichten der Folgejahre wird spürbar, wie die Polizeidirektion die Querelen um den Film nunmehr als erledigt abschreiben wollte. Gerichtet wohl an die Adresse der Sittlichkeitsvereine, die unablässig Einfluss zu nehmen suchten, wies sie darauf hin, dass nicht die Massstäbe «gewisser Kreise», sondern nur die «polizeiliche Zulässigkeit» der Zensur als Richtschnur dienen könne: Nicht nur dürfe die «Aufgabe der Filmzensur nicht mit derjenigen eines Theater-, Literatur oder Kunstkritikers verwechselt werden», sondern decke sich darüber hinaus auch «keineswegs ohne weiteres mit derjenigen der Kirche, der Schule und der Familie».
Ausgewählte Einzelentscheide der Zürcher Filmzensur
Die theoretische Wohlgeordnetheit des Zensurverfahrens schloss jedoch in der Praxis Ad-hoc-Entscheide nicht aus. So lief 1923 etwa Foolish Wives (Erich von Stroheim, USA 1921) zuerst unbeanstandet im Stadtzürcher Kino Bellevue, wurde dann jedoch verspätet «bereinigt»: «Die Stelle ‹Beseitigung der Leiche des Grafen in einer Strassendole› ist zu entfernen.» 1924 wurden dann «historische Filme» unter besondere Beobachtung gestellt, was vermutlich The Hunchback of Notre Dame (Wallace Worsley, USA 1923) geschuldet war. Dieser wurde erst nach der Entfernung von vier «mittelalterlichen Folter-, Schreckens- und Henkerszenen» freigegeben, ansonsten würden «die Bestrebungen der Behörden, Schulen und Kirchen und Vereine zur Hebung der Volksbildung und des Volkswohls wertlos». 1926 wurde Bronenosec Potemkin (Sergej M. Eisenstein, SU 1925) zur Vorführung in den Stadtzürcher Kinos Bellevue und Palace angemeldet. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wurde eine bereits von der Berliner Film-Oberprüfstelle um 19 gewalthaltige Einstellungen (bzw. Einstellungsfolgen) gekürzte Filmkopie nach Zürich importiert; rückblickend beharrte die Polizeidirektion im Geschäftsbericht daher richtigerweise darauf, dass sie «nach der Besichtigung den Film als zulässig» erklärt habe. Nichtsdestotrotz stellte sie eine Kürzungsverfügung aus, in der sie die Berliner Schnittauflagen unkommentiert übernahm und letztlich also als Eigenleistung ausgab.19 Die verworrene Sachlage erweckt in diesem Fall den Anschein, dass die Polizeidirektion es in ihrer Überforderung allen recht machen wollte und also niemanden zufriedenzustellen vermochte; von Kantonsräten des linken Politspektrums, die von den (vermeintlichen Zürcher) Schnitten Kenntnis hatten, wurde sie darüber hinaus prompt des ideologischen Einsatzes der Filmzensur bezichtigt.20 Bei Oktjabr (Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Sergej M. Eisenstein, SU 1927 / 28) vermied die Polizeidirektion 1928 dann ähnliche Verwirrungen, indem sie ein schlichtes Verbot erliess. Dieses begründete der Polizeidirektor wie folgt: «[Es] ist die bolschewistische Revolution selbst, die dargestellt wird; die Taktik der Revolution wird in belehrender Weise wiedergegeben und gezeigt [sic], wie man es machen muss, wenn man Erfolg haben will (Lehrfilm).» Ein Jahr später jedoch wurde der um einen Viertel gekürzte Film zugelassen.
Ohne Anmeldung lief im März 1930 dann im Stadtzürcher Kino Apollo der Praesens-Film Frauennot – Frauenglück (Eduard Tissé, CH 1930), laut Eigenwerbung ein «Film gegen die Abtreibung durch Nichtärzte». Aufgrund einer Intervention der Zürcher Frauenzentrale verfügte die Polizeidirektion die «Abdunkelung» der beiden gezeigten Geburtsvorgänge. Nach einer ebenfalls von der Frauenzentrale organisierten Protestversammlung, an der über 2000 Personen teilnahmen, wurde die Vorführung kurzerhand untersagt. Die Praesens wiederum bewarb in Tageszeitungen nun den mittlerweile stillschweigend gekürzten Film, worauf die überrumpelte Polizeidirektion zurückkrebste und diese Version zuliess.
Ab 1929 führte das Aufkommen des Tonfilms zu einem Rückgang der Filmprüfungen, da diese Filme oft während mehrerer Wochen liefen; die 35 Kinos auf Kantonsgebiet meldeten nurmehr 649 Filme zur Erstbegutachtung an. Kurzzeitig bestand bei der Polizeidirektion Anlass zu Optimismus, «denn wo Wort, Gesang, Musik in den Vordergrund treten, können sich pantomimische Szenen geringer Art nicht mehr breit machen.» Bemerkenswerterweise betonte sie, dass das «Filmtheater wie jedes andere Theater vor allem eine Stätte der Unterhaltung ist» – deren Art und Weise jedoch hatte Grenzen: Zwei Morde, die im Frühling 1930 in der Stadt Zürich verübt wurden, führten umgehend zur (kurzlebigen) Forderung nach der Ausschaltung von Filmszenen mit Schusswaffen. Während des Zweiten Weltkriegs nahm die Anzahl der von der Kommission begutachteten Filme ab. Der Tiefststand an geprüften Filmen des im vorliegenden Artikel betrachteten Zeitraums wurde (kriegsbedingt) 1944 mit 267 (Erst-)Begutachtungen erreicht; die Anzahl pendelte sich in der Nachkriegszeit bei etwa 500 bis 600 Filmen ein.21
Die kantonsrätlichen Betrachtungsweisen des Films und der Filmzensur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erscheinen in mancherlei Hinsicht als remake derjenigen der Etablierungsphase der 1910er- und -20er-Jahre. Einerseits forderten dem Film zugeneigte Stimmen, dass die Filmzensur endlich der «kulturellen Bedeutung des Filmes» entsprechen und sich zurückhalten müsse, andererseits trug die vermeintlich allzu laxe Zensurpraxis laut den Filmgegnern gar eine Mitschuld an bestimmten Übeln, denn immer noch würden «Kriminal- und Gangsterfilme [...] ungestraft zu Verbrechen anreizen».
Konkretisiert wurden solche Filmwirkungshypothesen wieder, als die beiden Zürcher Ernst Deubelbeiss und Kurt Schürmann im Winter 1951/ 52 zuerst einen Bankier entführten und ermordeten, dann eine Poststelle im Kanton Aargau überfielen und dabei 108 Schüsse aus Maschinenpistolen abfeuerten – der vermeintliche Beweis des kausalen Einflusses des Films war wieder einmal erbracht. Schürmann jedoch verwahrte sich dagegen, die Entführung «aus einem Kriminalroman oder aus einem Film entnommen» zu haben.22 Die altbekannte Möglichkeit, sich mit dem bewährten Alibi zu entlasten zu versuchen, lag ihm anscheinend fern. Anlässlich der Diskussion des Falles im Kantonsrat fand der Zürcher Polizeidirektor immerhin Gelegenheit zur Differenzierung und räumte ein, dass «auch eine schärfere Handhabung der Zensur nicht alle möglichen schädlichen Auswirkungen von Kriminalfilmen auf labile Elemente zu beseitigen vermag.» Trotz diesem Bekenntnis musste bald darauf aber Victimas del Pecado (Emilio Fernandez, MEX 1951) um die Sequenz mit einem Überfall auf eine Kinokasse bereinigt werden. Der verführenden Kraft einer solch naheliegenden Verbrechensgelegenheit wollte die Filmzensur das Kinopublikum dann doch nicht aussetzen.
1955 hatten Abordnungen des Regierungsrates zweimal Filme zu visionieren, die von der Filmzensur verboten worden waren.23 Der erste war So leben Menschen (CH 1954), ein 16-mm-«Dokumentarfilmprogramm» des Schweizers Werner Kunz.24 Es beinhaltete fünf zwanzigminütige Episoden, zuerst New York mit dem dortigen Leben in «Hast und Eile, [...] Perpetuum Mobile», dann Unbekanntes Algerien mit den «Sitten und Gebräuchen unzivilisierter Menschen», gefolgt von Gesunder Geist, gesunder Körper mit «Vorschlägen für bessere Lebensgestaltung». Darauf folgten «Worte von Dr. h. c. Werner Zimmermann, dem geistigen Vater der Freikörperkultur in der Schweiz»25 – und dann wurde Ernst gemacht: Die beiden letzten Episoden L’Île merveilleuse und Sylt, die Perle der Nordsee beinhalteten «Menschen, die so leben, wie die Natur sie erschaffen hat». Die Gruppe der ersten drei dokumentarisch-diagnostischen Filme blieb von der Zensur unbeanstandet, die beiden letzten jedoch, die die praktische Anwendung der Kunz’schen Therapie der modern-grossstädtischen Malaise durch Nudisieren beinhalteten, wurden verboten bzw. um die FKK-Szenen gekürzt. Der Rekurs drang in der Folge beim Regierungsrat aber nicht durch: Das Argument, dass gefilmte Nudisten letztlich keine nackten Leiber, sondern Träger einer lebensreformerischen Aussage seien, blieb angesichts von Szenen, die laut dem Regierungsrat «unverkennbar an die Geschlechtslust der Zuschauer appellieren», ungehört. Diese «Tendenz» würde durch die spezifische Rezeptionssituation im Kinosaal noch intensiviert, «durch das Dunkel des Kinoraumes, welches Ablenken absorbiert und die Aufnahmebereitschaft des Zuschauers verstärkt». Auch der spätere Kunz’sche Verzicht auf das Begleitreferat und die Entfernung von «rund vierzig Szenen» änderten am Standpunkt des Regierungsrates nichts. – Weiteren Aufführungen ähnlicher Filme von Kunz wurde dann aber bald «entwaffnende Harmlosigkeit» attestiert.
Der zweite, 1955 umstrittene Film war Du Rififi chez les hommes (Jules Dassin, F 1955). Er war bereits während dreier Wochen im Kino Apollo gelaufen und hatte mehr als 20 000 Eintritte verbuchen können, als er infolge nicht näher überlieferter «Reklamationen aus dem Publikum» von der Polizeidirektion verboten wurde. Grund dafür war die Ansicht, dass die detaillierte Darstellung des Einbruchs als «Anleitung und Anreiz zur Verbrechensverübung» dienen könnte; der Regierungsrat schützte das Verbot. Obwohl die «Rififi-Methode» auch in Zürich schon vorher angewendet worden war,26 galt der Film seinen Kritikern lange Zeit als Inbegriff der «Verbrecherschule».
Die Kantonalzürcher Filmgesetze von 1963 und 1971
1963 wurde die Filmzensur endlich auf Gesetzesstufe geregelt. Die Zürcher Stimmbürger nahmen das erste Zürcher Filmgesetz vom 22. September 1963 in einer Volksabstimmung an. Die Verbotsgründe wie auch das Prüfungsprozedere der Filme blieben in der Praxis dieselben. Normalvorstellungen konnten nun ab 16 Jahren besucht werden, die Polizeidirektion behielt sich jedoch vor, «für einzelne Filmvorführungen» das Zutrittsalter auf 18 Jahre zu erhöhen.27 Neu fand sich auch die (unglückliche) Mischform «Bewilligung ab 16 Jahren mit Auflagen (Kürzungen etc.)»: Da nicht davon auszugehen ist, dass von einem Film sowohl eine gekürzte wie auch eine ungekürzte Version gezeigt wurden, bedeutete dieser Eingriff in der Praxis wohl, dass auch 18-Jährige nur die gekürzte Fassung sehen konnten.28
Seit 1960 konnten die Regierungsratsbeschlüsse dem neugegründeten Zürcher Verwaltungsgericht zur Beurteilung übergeben werden. Dieses korrigierte etwa das Verbot des Home-invasion-Films Lady in a Cage (Walter Grauman, USA 1964), das der Regierungsrat wegen dessen «verrohenden Gesamtcharakters» noch gestützt hatte: Die Drangsalierung einer «invaliden Dame» durch «eine Bande von drei verkommenen Jugendlichen, bestehend aus einem brutalen Anführer- und Schlägertypen, einem schlampigen, triebhaft handelnden Mädchen und einem halbdebilen, schielenden Mischling» war ihm zu viel gewesen – die Halbstarken liessen grüssen. Das Verwaltungsgericht stellte demgegenüber fest: «‹Verrohend› bedeutet wörtlich ‹roh machend›. Eine an und für sich rohe Handlung braucht nicht verrohend zu wirken.»29 Ob ein Film verrohend sei, hänge letztlich davon ab, «in welchem Zusammenhang diese Szenen stehen, wie sie künstlerisch gestaltet sind, welche Tendenz in ihnen sichtbar wird.» Das Verwaltungsgericht entkoppelte in diesem Leitentscheid das Sichtbare von der direkten Wirkung und sollte die Polizeidirektion sowie den Regierungsrat in den kommenden Jahren – auch auf dem Felde der Nacktdarstellungen – öfter in die Schranken weisen. In einem folgenreichen Entscheid korrigierte es Anfang 1968 das Verbot von The Naked World of Harrison Marks (Harrison Marks, GB 1967), das der Regierungsrat wegen der «Häufung und [...] Länge der filmischen Demonstration der sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale» und der damit verbundenen «Versachlichung der weiblichen Person» noch gestützt hatte. Dabei hielt das Verwaltungsgericht fest, dass es der Zensur «nicht zu[komme], künstlerisch minderwertige, kitschige, geschmacklose, langweilige und überflüssige Filme zu verbieten». Einige Monate später liess es Oswalt Kolles Das Wunder der Liebe (Franz Josef Gottlieb, D 1968) aufgrund seiner «zurückhaltenden Darstellungsweise, verbunden mit der andauernd wirksamen Aufklärungstendenz» ungekürzt ab 18 Jahren zu.30 – Die Polizeidirektion hatte nun Filme mit Nacktdarstellungen sowie angedeuteten sexuellen Handlungen auch ohne aufklärerische Bemäntelung freizugeben – nicht reproduktive Sexualpraktiken waren oft aber noch ausgenommen: So konnte 1970 etwa Ich – ein Groupie (Erwin C. Dietrich, CH / D 1970) nur nach der Entfernung zweier Szenen mit heterosexuellem bzw. lesbischem «coitus linguae» gezeigt werden.
Im März 1968 verlangte der Kantonsrat Walter Kyburz in einer Motion die Abänderung des Filmgesetzes mit dem Ziel einer «Umkehrung der Antragslast»; kurz darauf lancierte die Zeitung Zürcher Student eine «Volksinitiative zur Aufhebung der Filmzensur». Im achtköpfigen Initiativkomitee waren u. a. die (Film-)Redaktoren Martin Schlappner (Neue Zürcher Zeitung), Martin Schaub und Samuel Plattner (Tages-Anzeiger), sowie zwei Redaktoren des Zürcher Studenten, Sepp Moser (heute bekannt als Aviatikexperte) und Georg Kohler (später Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich).31 Die Initiative kam zustande, wurde aber zugunsten des vom Kantonsrat ausgearbeiteten Gegenvorschlags zurückgezogen, der dann am 7. Februar 1971 vom Zürcher Stimmvolk – dem sich mittlerweile auch die Frauen zuzählen durften – angenommen wurde. Der Verbotsgrund des «unsittlichen Films» entfiel; der Schutz vor «unzüchtigen», also (mittlerweile) pornografischen Filmen schien durch das Eidgenössische Strafgesetzbuch genügend gewährleistet. Der Begriff des «anstössigen Films» wurde als «unbestimmter Ausdruck» getilgt, und bezüglich der «verrohenden Filme» sollte die bisherige Praxis des Verwaltungsgerichts gelten, derzufolge darunter Werke zu verstehen seien, die «zu Gewalttätigkeiten oder anderem rechtswidrigen Verhalten aufhetzen».32 Der inhaltsbeschränkende Paragraf 4 des Filmgesetzes von 1971 – das mit unbedeutenden Änderungen auch zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen gilt (Oktober 2011) – lautet(e) nun wie folgt:
«Verboten ist die Vorführung von Filmen, die eine verrohende Wirkung ausüben, zur Begehung von Verbrechen oder Vergehen aufreizen oder in gemeiner Weise Menschen oder Menschengruppen verächtlich machen.»
Zwischenzeitliche Gesundung, dann Rückfall
Kinematografisch erwachsen ist man im Kanton Zürich seither mit 16 Jahren. Die Filmzensur, also die «Bewilligungspflicht und die polizeiliche Administrativkontrolle der Filmvorführungen für Erwachsene»33, wurde mit dem Filmgesetz von 1971 abgeschafft. Bewegte Bilder des Sex-and-horror-Sektors waren vom Generalverdacht einer schädlichen Wirkung aber nur bis zur Etablierung einer neuen Trägerform befreit: Die Verbreitung von Videokassetten und -abspielgeräten Anfang der 1980er-Jahre und die damit einhergehende autonomere, weil private Konsumationsmöglichkeit von Filmen zogen die Aufmerksamkeit besorgter Bürger aber zumindest vom Abspielort Kino ab. Der bekannte Kreislauf jedoch begann erneut, anekdotische Evidenzen der Verderbnis jagten einander wieder. Ebenso untot wie etwa die Figuren der verteufelten «Brutalos» ab Magnetband entstiegen die Medienkritiker mit den altbewährten Argumenten ihrer Gruft: Durch die Wirkungen des «Brutalo»-Konsums würden «nun aber wirklich» die schwärzesten Fantasien wahr werden. Um die Ecke lauerte aber schon das neue Gespenst Internet – das aber ist eine andere Geschichte.