SIMON DICK

SONGS OF LOVE AND HATE (KATALIN GÖDRÖS)

SELECTION CINEMA

Wenn Kinder zu Erwachsenen werden, ist die­ser psychische und physische Reifeprozess nicht nur für Teenager eine Zeit voller Irrungen und Wirrungen. Die ganze Familie, insbesondere die Eltern, müssen viel Geduld und Verständnis aufbringen, um die Sprösslinge ins Leben der Erwachsenen zu begleiten. Doch wenn Eltern mit dem Gefühlschaos selber nicht klarkommen, sind Konflikte vorprogrammiert.

Vor malerischer Kulisse am Fuss der Alpen lebt eine Winzer-Familie und führt ein Bilderbuchleben. Doch Tochter Lilli bringt durch ihre erwachende Sexualität Unruhe in das harmonische Familienleben. Das Kind wird zur Frau. Und Vater Rico kann die neue Situation nicht ertragen. Er fühlt sich durch ihre neu entdeckte Sexualität mit ihrem Jugendfreund bedroht. Enttäuscht wendet er sich der jüngeren Tochter Roberta zu und bemerkt gleichzeitig nicht, dass seine Ehe mit Anna auf wackligen Füssen steht. Lilli will das alte Verhältnis mit ihrem Vater wiederherstellen und wählt dabei ungewöhnliche Wege, um sein Vertrauen und seine Liebe zurückzugewinnen. Als ein angeblicher Unfall die gesamte Familie erschüttert, scheint Lilli ihr Ziel erreicht zu haben. Doch schon lauert der nächste Konflikt.

Es sind die wortlosen Szenen, in denen Blicke und Gesten tausend Bände sprechen, welche dieses Bergdrama einzigartig machen. Wenn Lilli den Blick ihres Vaters sucht und ihn regelrecht zur Kommunikation herausfordert, scheint die Zeit stehen zu bleiben. Die Atmosphäre wird so aufgeladen, dass man als Zuschauer die Protagonisten anschreien möchte, sich endlich zu unterhalten, um so ihre Konflikte zu lösen. Das Spiel von Sarah Horváth als Lilli und Jeroen Willems als ihr Vater ist bemerkenswert und intensiv.

Songs of Love and Hate ist nicht nur ein Tee­­nie-Drama, sondern auch eine Geschichte über die Machtverhältnisse in Familien. Dabei spielt der Film gekonnt mit Strukturen und Vorurteilen. Mal scheint der Vater auf dem Thron der Familie zu sitzen, doch im nächsten Augenblick stösst ihn seine eigene Tochter hin­unter. Lilli beherrscht die Familie, ist Dreh- und Angelpunkt einer kleinen Gesellschaft, welche die Fähigkeit der Kommunikation verloren hat. Erst gegen Ende darf der Zuschauer hoffen, dass eine Versöhnung möglich ist.

Es geht nicht um die Suche nach den Gründen von Lillis Taten, vielmehr steht die Hilflosigkeit der Protagonisten im Zentrum. Trotz schrecklicher Taten haftet an Lilli nichts Böses. Doch gerade weil sich der Film nicht nur um die Perspektive der jungen Frau bemüht, sondern auch die anderen Familienmitglieder mit ihren Problemen mit einbezieht und alle zu Komplizen macht, bleiben Vorurteile und Stigmatisierungen aus. Inszeniert wurde das Drama von Katalin Gödrös in einer realistischen Bildsprache, die nur in wenigen Momenten ins Surreale abdriftet.

Simon Dick
*1979, Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft in Freiburg, lebt und arbeitet im Berner Seeland als Multimedia­redaktor und Filmjournalist. Autor des Bu­ches Die Zukunft der Unterhaltung: Wie Videospiele zur neuen Traumfabrik wurden (2008).
(Stand: 2011)
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