Seit die Bilder laufen lernten, assoziieren wir Filme mit Bewegung – nicht ohne Grund heissen sie im Englischen auch Motion Pictures. Die Filmkamera bewegt sich, schwenkt, fährt und zoomt heran; die Protagonisten vor der Linse bewegen sich auf die Kamera zu, laufen durchs Bild und entfernen sich wieder; ruhige Einstellungen werden durch Schnitte zu bewegten und bewegenden Geschichten montiert. Und CINEMA 56 bewegt nun auch! In der neusten Ausgabe des Filmjahrbuchs interessiert uns, was die unterschiedliche Inszenierung von Bewegung bewirkt, wie sie eingesetzt wird, welche Filme sie geprägt hat. Jedes Genre – ob Roadmovie, Animationsfilm, Actionstreifen oder Melodram – kennt seine eigenen Bewegungsabläufe und -rhythmen. Geschichten bewegen sich auf einer Zeitachse, verharren im Jetzt, streifen durch die Vergangenheit und blicken in die Zukunft. Aber nicht nur inszenatorische und technische Aspekte beschäftigen uns, denn Kino bewegt auch auf anderen Ebenen: Mit bewegenden Geschichten und Schicksalen werden Emotionen geschürt – bei den Filmfiguren auf der Leinwand ebenso wie beim Publikum. Bewegt sein, bewegt werden, bewegen – das ganze Spektrum dieses Wortes wird in CINEMA 56 gedeutet, analysiert und lustvoll untersucht. Stillstand und Bewegung im frühen Kino – oder wie Filmplakate lebendig werden – sind das Thema einer filmhistorischen Untersuchung. Ein Text beschäftigt sich mit der Fortbewegung im lateinamerikanischen Roadmovie, die so ganz anders inszeniert wird als in den typischen ur-amerikanischen Vertretern dieses Genres. Um einiges enger ist der Horizont auf heimischen Strassen: Im CH-Fenster wird die Schweizer Filmgeschichte im Spiegel des Automobils untersucht. Wie sich die Zeit im Film verkürzt, verbiegt, manchmal rasend schnell vorwärts, dann wieder rückwärts bewegt oder gänzlich im Stillstand verharrt, ist Gegenstand einer eigenwilligen Studie. Ein weiterer Text untersucht bewegte Körper während der sexuellen Vereinigung im Wasser, ob im Pool, im Meer, im See oder im Fluss. Ein Beitrag zeichnet die Bewegungen des Protagonisten in P.T. Andersons archaischem Drama There Will Be Blood vom Aufstieg bis in den unausweichlichen Untergang nach. Welche Filme das Kinopublikum zum Weinen bewegen und warum das bei ihr nicht funktioniert, zeigt der Erlebnisbericht einer ungerührten Zuschauerin. Mit der künstlichen Erzeugung von Bewegung und den Tricks, die dafür angewendet werden, beschäftigen sich zwei Texte: einer mit der Technik der Sandanimation, wie sie die Schweizer Trickfilmer Gisèle und Nag Ansorge meisterhaft beherrschen, der andere ganz aktuell mit computergenerierter Schärfenverlagerung, welche einen liebenswerten Roboter namens WALL∙E zum Leben erweckt. Filmhistorisch war der britische Fotograf Edward Muybridge von grosser Bedeutung, der mit fotografischen Mitteln Bewegungsabläufe sichtbar machte – sei dies mit Bewegungsstudien anhand von Menschen oder auch Pferden, die im vorliegenden Buch im Zentrum einer experimentellen Motiv- und Technikreflexion stehen. Vom Drehbuchautor als Antriebsmotor eines jeden Films, der seine Filmfiguren in Bewegung hält und dabei auch mal die Kontrolle über Realität und Fiktion verliert, erzählt Dominik Bernet in seinem literarischen Beitrag. Die Schweizer Filmemacherin Lisa Faessler erläutert in einem Interview, wie sie das Publikum zum Nachdenken über die prekären Lebensumstände von ecuadorianischen Ureinwohnern bewegen will. Im Fotoessay werden wir von Thomas Krempke auf eine Reise mitgenommen, während der er ein visuelles Tagebuch geführt hat. Der Filmbrief entführt uns an einen praktisch weissen Fleck auf der Kino-Landkarte, nach Kambodscha, wo das goldene Zeitalter des Kinos in der Vergangenheit liegt. Die Momentaufnahmen in dieser Ausgabe bestreiten allesamt Schweizer Editoren – also diejenigen, die im Schnittraum für die Montage von gefilmten Bewegungen und damit das Erzeugen von Emotionen durch subtiles Aneinanderfügen von filmischen Fragmenten sorgen. Und die Sélection CINEMA bietet wie immer einen Rückblick auf die Highlights des Schweizer Filmschaffens. Nun wünschen wir anregende und bewegende Lektüre mit CINEMA 56. Für die Redaktion Daliah Kohn & Nathalie Jancso

CINEMA #56
BEWEGT
EDITORIAL
ESSAY
MOMENTAUFNAHME
THE SOUND OF INSECTS: RECORD OF A MUMMY (PETER LIECHTI, SCHWEIZ 2009)
CH-FENSTER
FILMBRIEF
SELECTION CINEMA
GURU – BHAGWAN, HIS SECRETARY AND HIS BODYGUARD (SABINE GISIGER, BEAT HÄNER)
DANIEL SCHMID – LE CHAT QUI PENSE (PASCAL HOFMANN, BENNY JABERG)