I.
Je ne sais pas encore ce que je vais devenir, Marie
mais je sais ce que je ne veux pas être
je ne serai pas un altermondialiste
je ne défilerai pas avec des milliers de personnes
je ne crierai pas «tue les tous»
je ne serai pas un flic
je ne serai pas un vendu
je ne serai pas un voyou
Gegen Ende von Lionel Baiers Spielfilm Garçon stupide (2004) trifft der Filmheld Loïc – mit seiner neuen Videokamera auf Bilderjagd – auf eine Anti-Globalisierungsdemo in Lausanne. Slogans auf Schildern, Transparenten und Hausmauern werben für diverse Anliegen: gegen das Patriarchat, den Sexismus, die G8; für die Legalisierung von Cannabis, für den Kommunismus, für den Frieden. Neben der roten Fahne der «Partito comunista» weht die «Peace»-Regenbogenflagge, hinter den vermummten Anarchisten des Schwarzen Blocks trippeln die Queer-Aktivisten des «Pink Block» in ihren Fummeln. Und im Hintergrund immer die Reihen der blauuniformierten Polizisten.
Zunächst filmt Loïc die Slogans. Dann beobachtet er die Menge, die an ihm vorbeiströmt. Schliesslich dreht er sich um und verlässt den Demoplatz. Während er sich immer weiter davon entfernt, erklingt im Off sein innerer Monolog, eine bruchstückhafte Erklärung an die Welt, an seine verstorbene beste Freundin Marie – und an sich selber: «Ich weiss noch nicht, was aus mir werden soll, aber ich weiss, was ich nicht sein will ... kein Globalisierungsgegner, kein Polizist, kein Verräter, kein Gauner ...» Und vor allem: «Ich will kein dummer Junge sein.» Je ne veux pas être un garçon stupide.
In der Geschichte des Schweizer Spielfilms ist Baiers Loïc in gewisser Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: die erste völlig selbstverständlich schwule Hauptfigur. Loïc – mit naivem Charme von Newcomer Pierre Chatagny gespielt – ist Anfang zwanzig, stammt aus dem freiburgischen Bulle, arbeitet tagsüber am Fliessband in einer Schokoladenfabrik und trifft sich nachts zum anonymen Sex mit Männern, die er meist übers Internet findet. Über diese Begegnungen spricht Loïc offen und direkt, einerseits mit seiner Kollegin Marie, andererseits mit Lionel (gespielt vom Regisseur selber), den er ebenfalls per Inserat kennengelernt hat, der aber lieber mit ihm diskutiert, statt ihn zu verführen. Loïcs One-Night-Stands werden ausführlich und explizit gezeigt, aber mit der gleichen Nüchternheit und Distanz, wie er darüber spricht.
Loïc hat aber ein Problem: Sein Alltag ist banal, repetitiv und langweilig. Er weiss nicht, was aus ihm werden soll und wie er seine Lebenslust kanalisieren könnte. Er hat vage Sehnsüchte, die er selber nicht so recht versteht und deshalb nicht umsetzen kann. Diese Unsicherheit macht ihn manchmal schroff und aggressiv und führt dazu, dass er die Menschen, die ihm am nächsten stehen – Marie und Lionel – zu verletzen sucht.
Es ist aber genau diese Verdrossenheit, die ihn wiederum zum typischen Schweizer Filmprotagonisten macht. Denn: Seit den Anfängen des Neuen Schweizer Films Ende der Sechzigerjahre sind die Hauptfiguren mehr oder weniger vom gleichen Schlag: gelangweilt und eher passiv, mit leicht rebellischen Zügen, aber nicht ausgesprochen politisch engagiert. Wenn sie verliebt sind, dann unglücklich. Manchmal sind sie zornig, doch ihre Rage trifft vor allem sie selbst.
Bereits der allererste Spielfilm der Groupe 5, der das «nouveau cinéma suisse» und damit den neueren hiesigen Autorenfilm lancierte, lieferte den Prototypen dieses Helden: William Tudor (gespielt von William Wissmer), die männliche Hauptfigur von Michel Soutters La lune avec les dents (1967). William hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, liest gerne sozialkritische Stoffe, kultiviert Gangster-Allüren und driftet scheinbar ziellos durchs Leben. Ein gewisses Charisma hätte der Streuner schon, wenn er sich nicht viel lieber mürrisch gäbe. Er leiht sich die schicke Wohnung einer Kollegin aus, um eine schöne junge Frau zu verführen, schafft es dann aber nur, diese zu brüskieren. Geleitet von einer Mischung aus Geldnot und Nervenkitzel klaut er Kleinigkeiten aus dem Supermarkt und wird in der Folge verhaftet. Bemerkenswert bleibt die Szene, im letzten Drittel des Films, wo der betrunkene William sein schäbiges Studio verwüstet. Die mit der Handkamera gedrehte Szene zeigt ausführlich und fast dokumentarisch, wie er Flaschen zerschmettert, Geschirr umherwirft, sich in den Scherben am Boden wälzt, eine Tür von der Wand reisst, sein Gesicht verschmiert, und in sein Kissen beisst, bis die Federn fliegen. «Merde à tout!» schreit er – und schickt dabei mit allem anderen auch sich selber zum Teufel. Schliesslich wird sein Unmut zur selbstzerstörerischen Kraft, sein Zorn richtet sich gegen sich selbst.
II.
je ne serai pas
neutre
raisonnable
prudent
prévoyant
je ne sais pas encore ce que je suis
mais je sais ce que je ne veux pas faire
Unzufrieden, ohne den genauen Grund nennen zu können, orientierungslos, leicht cholerisch: diese Malaise breitet sich im Schweizer Spielfilm der nächsten Jahrzehnte weiter aus. In Grauzone (1979) liefert Fredi M. Murer eine genaue Beschreibung: «Versinken Sie ohne ersichtlichen Grund in tiefe Trauer? Behaupten Sie, dass Ihre Haut immer dünner werde? Glauben Sie, sich an nichts mehr erinnern zu können? Verschweigen Sie die Absicht, einmal etwas Freiwilliges zu tun?» Mit diesen Fragen listet ein anonymer Radiosprecher die ersten Symptome einer grassierenden Krankheit auf, welche die Behörden nicht wahrhaben wollen. Daran leidet auch die männliche Hauptfigur des Films, der melancholische Abhörspezialist Alfred (Giovanni Früh). Kein Wunder eigentlich, denn er wohnt mit seiner ebenfalls traurigen Frau in einer grauen Betonblocksiedlung am Rand einer sterilen Stadt, und verbringt seine Tage in einem anonymen Grossbetrieb, wo er das Überwachungssystem betreibt. Am Schluss des Films hat sich Alfred soweit befreit, dass er seine Mitarbeiter über die Existenz dieses Abhör- und Überwachungsdispositivs informiert, um dann die Firma zu verlassen. Grauzone endet mit der etwas surrealistischen Vision eines Gebäudes, das in die Luft gesprengt wird – einer der zwiespältigsten Momente in der Geschichte des Schweizer Films. Wie es mit Alfred und seiner Frau Julia weitergehen soll, bleibt allerdings unklar. Wenigstens weiss er jetzt, was er nicht sein will.
Es ist nicht von ungefähr, dass der Piratensender in Grauzone, der die Bevölkerung über die Epidemie aufklärt, Radio Eisberg heisst. Die Metapher vom «Packeis», das eine graue Schweiz erstarren lässt, wurde bald danach zum Schlagwort der Jugendunruhen der Achtzigerjahre. So gesehen antizipiert die Malaise in Murers Film die Protestbewegung, die wenig später folgen sollte. (Das Abhördispositiv im Film antizipiert übrigens die sogenannte «Fichenaffäre», welche ein Jahrzehnt später die Bespitzelung der Bevölkerung durch den Staat ans Licht bringen wird.) Doch die Proteste waren von kurzer Dauer, nachher kehrte die Malaise wieder ein.
Bereits 1981 zeigten Clemens Klopfenstein und Remo Legnazzi in E Nachtlang Füürland die desillusionierte Stimmung, die dem Aktivismus folgte. Mit ihrem etwas tollpatschigen Antihelden Max (gespielt von Max Rüdlinger) schufen sie eine Figur, die in einer Reihe von weiteren Filmen (Füürland 2, 1992; Das Schweigen der Männer, 1997; Die Vogelpredigt, 2005 – die letzten zwei mit nur Klopfenstein als Regisseur) ihren Idealismus immer wieder in den Zwängen des Alltags verlieren würde. Als ein gleichaltriger Kollege von den neuartigen Strassendemos schwärmt, bleibt Max skeptisch: Durch die Strassen ist er schon vor zehn Jahren gelatscht, was soll das jetzt bringen? Mit seiner pessimistischen Haltung verbaut er sich jede Chance, sein Leben wirklich zu verändern.
Diese Stimmung der Desillusionierung und Desorientierung beeinflusste während der Achtzigerjahre das Verhalten etlicher Filmfiguren, darunter auch David (Daniel Buser), der launige Held von Christoph Schaubs Wendel (1987), der an den Idealen der Bewegung – freie Liebe, politische Selbstverwirklichung, alternative Lebensmodelle – gescheitert ist. Im Gegensatz zu seinem besten Freund Wendel, der scheinbar problemlos ins bürgerliche Leben gewechselt hat, möchte David die alten Ideale nicht aufgeben, bleibt aber in Nostalgie hängen und kommt – ähnlich wie Max – nicht voran. Wie Soutters William ist David, der ebenfalls etwas cholerisch ist und zu Wutanfällen tendiert, eine ziemlich ambivalente Figur, weil er sich selbst im Weg steht und dadurch etwas unsympathisch wirken mag.
Zwischen William und David gibt es aber einen wichtigen Unterschied: Im Jahr 1967 standen die Protestbewegungen noch bevor, zwanzig Jahre später hatten sie bereits zwei Mal stattgefunden, wurden aber wieder durch Normalisierung abgelöst. Dieser Umstand liefert den eigentlichen Schlüssel zum Schweizer Autorenfilm der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre: die Revolution kommt erst morgen oder sie ist bereits gestern gescheitert, aber sie findet nie heute statt. Die Filme des Neuen Schweizer Films waren – mit Ausnahme von Soutters erstem Film von 1967 – im Grunde genommen Ausdruck der Enttäuschung in der Zeit nach 1968. Ein anderer skeptischer Filmheld namens Max – Alain Tanners Max Satigny (Jean-Luc Bideau) aus Jonas qui aura 25 ans dans l’an 2000 (CH/F 1976) – bringt die Sache auf den Punkt: «Après? Rien n’a changé. Tout es pire qu’avant.» Nach dem Mai 1968 sei alles genau so wie vorher gewesen, wenn nicht noch schlimmer. Abgesehen von einigen Lifestyle-Trends wie etwa makrobiotisches Essen, freie Liebe und Yoga hat sich nichts geändert, die Politordnung ist gleich geblieben, mit Krieg und Ausbeutung geht es ruhig weiter, so seine bittere Bilanz.
Gegen Ende der Siebzigerjahre findet man in Filmen wie Grauzone oder Tanners Messidor (aus dem gleichen Schwellenjahr 1979) wieder Vorzeichen der Unruhen.1 Wenige Jahre später hätte aber eine Figur wie Schaubs David die Worte von Max Satigny wiederholen können: Nichts hat sich geändert.
«Zum Glück nicht!» bilanziert allerdings Jacky, ein real existierender Veteran von 1968 in Francis Reussers Dokumentarfilm Le printemps de notre vie (2003), in dem der einst politisch engagierte Filmemacher seine Kameraden von damals besucht, um zu sehen, was aus ihnen wurde. «Heureusement qu’on n’a pas réussi!» Furchtbar dogmatisch seien sie gewesen, so Jacky, mit ihrem militanten Extremismus, exzessiv. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten sie die Hälfte der Bevölkerung ohne Weiteres hingerichtet. Ähnlich beschämt-schmunzelnd erzählen der Aktivist Claude Muret in Connu de nos services (Jean-Stéphane Bron, 1997) und der Anarchist und Bombenleger Daniele von Arb in Do It! (Sabine Gisiger, Marcel Zwingli, 2001) von ihrer bewegten Vergangenheit unter dem Einfluss der Dogmen jener Zeit.
Dabei sind die Bewegungen nur teilweise an rigiden ideologischen Positionen und dogmatischen Exzessen gescheitert. Es gab auch etliche sanfte Träumer und kritisch-engagierte Zeitgenossen, die vielmehr an der repressiven Gesellschaft zugrunde gingen oder Opfer von staatlicher Gewalt wurden. Solche tragische Geschichten erzählt etwa Richard Dindo in seinen Dokumentarfilmen Dani, Michi, Renato & Max (1987) oder Verhör und Tod in Winterthur (2001).
Diese und andere Dokumentarfilme zeigen, dass es durchaus ein real existierendes politisches Engagement in der Schweiz jener Zeiten gab. Und dennoch: Die meisten Spielfilmfiguren wollen – oder können – nichts damit zu tun haben. Entweder sind sie im «verzweifelten Stillstand»2 eines William oder David erstarrt – oder sie resignieren, wie die beiden Max. Das Rebellische an solchen Figuren bleibt vor allem ihre Verweigerung eines angepassten Lebens im Mainstream, ohne aber brauchbare Alternativen dazu zu liefern. Dabei darf man ihre Haltung nicht mit derjenigen der Filmemacher verwechseln. Ein sehr gutes Beispiel dafür liefert Francis Reusser mit seinem analytischen Spielfilm Le grand soir (1976), worin er aus einer kritischen Distanz die Debatten innerhalb einer leninistischen Gruppe aus dem Genferseegebiet darstellt. Zwar loben die Mitglieder ständig den bewaffneten Kampf, doch als ihnen ein Aussenseiter eine Ladung Waffen schenkt, entlarven sie sich als eigentlich nur rein theoretisch an Gewalt interessiert. In seiner Position als Erzähler gibt Reusser weder der einen noch der anderen Seite Recht, vielmehr geht es ihm darum, die Widersprüche zwischen den Worten und den Taten seiner Figuren aufzuzeigen. «Le grand soir» nennt man in Frankreich die Feier am Abend vor der kommenden Revolution. Und so bleiben Reussers Figuren, wie so viele Schweizer Filmhelden, ewig am Vorabend der grossen Veränderungen hängen.
Das Radikale an Le grand soir ist in erster Linie seine Formsprache, die an Jean-Luc Godards Spielfilme der späten Sechzigerjahre erinnert, wie etwa 2 ou 3 choses que je sais d’elle (F 1966) oder La Chinoise (F 1967). Reusser erzählt seine Geschichte in fragmentierten Szenen, mit Jump Cuts und Ellipsen, visuellen Zitaten und poetischen Sprachfetzen. Einige Szenen werden im Off durch Monologe der Hauptfiguren Léon und Léa kommentiert. Nach einer satirischen Sequenz mit zwei karikaturhaften Polizisten kommt der Film zu einem abrupten Schluss, der die wichtigsten Handlungsstränge offenlässt.
Die Freiheit, eigene Geschichten auf eigen(artig)e Weise zu erzählen: Dies war, und bleibt, das eigentliche politische Anliegen des Schweizer Autorenfilms. Wie der Pionier Michel Soutter 1968 gegenüber den Cahiers du cinéma erklärte: Seine ersten Filme in der Schweiz zu realisieren sei «mehr ein politischer als ein künstlerischer Akt» gewesen.3 Politisch einerseits, weil es damals noch keine eidgenössischen Fördergelder für Spielfilme gab, andererseits weil – eben durch die knappen Budgets bedingt – Soutters frühe Produktionen nach neuen Formen der Zusammenarbeit verlangten: Filmkollektive und cinéma copain.
Der Vorteil der kleinen Budgets war also die Unabhängigkeit von kommerziellen Strukturen und demzufolge die Freiheit von den Erzählkonventionen des Mainstreams. Dazu gehört dann auch das Vermeiden der Heldenhaftigkeit und des unrealistischen Happy-Ends. Dass die mürrischen helvetischen Filmprotagonisten nicht nur die revolutionären Heldentaten auslassen, sondern auch meistens kein Glück in der Liebe haben, versteht sich von selbst. Anstelle von Hollywoodträumen pflegen sie einen nüchternen Realismus. Ausbruch und Euphorie gibt es lediglich als einzelne Augenblicke. Was von den Kritikern des Schweizer Films oft als dramaturgische Unfähigkeit abgestempelt wird, kann also auch als bewusste Stellungnahme verstanden werden.4
III.
Je vais raconter des histoires, Marie
des histoires à moi
on ne saura pas si c’est vrai ou pas
si c’est du mensonge ou si c’est la vérité
Je ne veux pas être un garçon stupide
Je ne suis pas un garçon stupide.
Mit seiner Figur Loïc nimmt Lionel Baier Stellung zu den zwiespältigen Filmhelden von früher sowie zu den Dogmatismen der heutigen Zeit. Als ausgesprochener Kenner des «nouveau cinéma suisse» baut er immer wieder filmhistorische Anspielungen in seine Filme ein. Sein bisher neuester Film Un autre homme (2008) steht ganz im Zeichen der nouvelles vagues der Sechzigerjahre und wurde sogar schwarz-weiss gedreht. Im Mai 2009 anlässlich einer Retrospektive der Groupe 5 im Zürcher Filmpodium schrieb er eine Hommage ans «junge» Schweizer Kino von damals, worin er dessen Geste der Verweigerung erklärt und zelebriert. Die kritische Schweiz der Nachkriegsgeneration, so Baier, «erzählte von ihrer schuldbeladenen Heuchelei angesichts des Kriegs, ihrem Zynismus in sozialer Hinsicht, ihrer moralischen Laxheit anderen gegenüber. In Tanners Charles mort ou vif, Soutters La lune avec les dents und Gorettas L’invitation sagte sie, dass eine Gesellschaft, die sich nicht ins Gesicht sehen kann, nichts sieht. Endlich wurde die Schweiz exzessiv, ungerecht, parteiisch. Poetisch. Endlich.»5
Wie die Filmautoren der Generationen 1968 und 1980 pflegt auch Baier eine kritische Haltung und eine gewisse Distanz zu den Erzählkonventionen eines inzwischen globalisierten Mainstreams. Doch im Gegensatz zu vielen von ihnen lässt er seine Filmfiguren aus dem «verzweifelten Stillstand» ausbrechen. Er nimmt also doppelt Stellung: einerseits gegen den öden Alltag, den seine Vorgänger kritisierten, aber andererseits auch gegen eben diese Vorgänger, mit ihrer Nüchternheit und ihrem Pessimismus. Somit steht er für eine neue Generation im Schweizer Filmschaffen, die eine Art «dritten Weg» nimmt – und wo neuerdings auch gescheite Frauen am Werk sind ...
Der Literaturwissenschaftler Peter von Matt hat bereits eine ähnliche Entwicklung in der Schweizer Literatur ausgemacht. In einer Reihe von Aufsätzen, gesammelt 2001 unter dem Titel Die tintenblauen Eidgenossen, analysiert er den Konflikt zwischen «Rausch und Cafard» in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts.6 Die Schweizer Literatur der Nachkriegszeit, so von Matt, war weitgehend von «historischer Ernüchterung» geprägt, als wichtige Korrektur zum rauschenden Patriotismus der Ära der Geistigen Landesverteidigung. Die jüngere helvetische Literatur möchte ebenfalls die alten nationalen Mythen hinterfragen, distanziert sich aber gleichzeitig von der nüchternen, teils dogmatischen Ablehnung dieser Mythen durch die Nachkriegsgeneration. Zugelassen werden wieder eine gewisse Emotionalität, eine neue Schönheit, eine Bewunderung der Landschaft. Diese Generation möchte wieder lieben können, aber ohne die Naivität von früher. Anders gesagt: ohne dumm zu sein.
Als junger Filmemacher von heute lässt sich Baier von einer Nostalgie nach der Zeit des Neuen Schweizer Films inspirieren. Als Patin von Loïc steht beispielsweise Rosemonde, die junge «Null Bock»-Heldin aus Alain Tanners La salamandre (1971). Baiers Bilder aus Loïcs Schoggifabrik lehnen sich an die legendären Szenen aus Rosemondes Wurstfabrik an, und um die Hommage noch deutlicher zu machen, lässt er Loïc sogar an einer solchen Szene aus La salamandre im Fernsehen vorbeizappen. Im Gegensatz aber zu Rosemonde, die sich gerne als Ignorantin ausgab, leidet der erhrgeizigere Loïc an seiner «Dummheit». Am Anfang des Films muss er Wörter wie «Hitlerismus» und «Impressionismus» im Lexikon nachschlagen. Im Lauf der Geschichte lässt ihn Baier etwas reifer und weniger impulsiv werden und statt One-Night-Stands die wahre Liebe suchen.
Die Schlüsselszene in dieser Entwicklung ist die anfangs zitierte Strassendemo, wo sich Loïc in seinem Monolog gegen sämtliche Dogmen stellt, und sich gleichzeitig für seine früheren Dummheiten entschuldigt, die ihn unter anderem für den Tod seiner Freundin Marie mitverantwortlich machten. Dass dieser Augenblick für ihn nicht nur mit Vernunft, sondern auch mit starken Emotionen zu tun hat, macht Baiers Filmsprache klar. Zuerst zeigt er Loïc von hinten, gefangen zwischen den Menschen, die an ihm vorbeigehen. Dann zeigt er den Jungen von vorne, wie er den Demoplatz verlässt. Die Menschenmengen werden immer kleiner, während Loïc in der Mitte des Bildfeldes immer präsenter wird: das visuelle Pendant zu seinem im Off erklärten Entschluss, kein Mitläufer zu sein. Die Demonstranten und Polizisten rund um die Filmfigur Loïc sind authentisch, die Aufnahmen wurden während der Proteste gegen den G8-Gipfel im benachbarten Evian im Juni 2003 gedreht. Als Kontrapunkt zu diesen dokumentarischen Bildern setzt Baier eine dramatische Musikpassage aus einem Concerto von Rachmaninov. Die Musik untermalt die Emotionalität des Augenblicks – und funktioniert als Brücke zur letzten, hochromantischen Szene des Films, wo auf einem festlich beleuchteten Chilbiplatz die Liebe zwischen Loïc und Lionel erklärt wird.
Lionel Baiers «garçon stupide» – wie sein Regisseur auch – erkennt die Gefahren des Dogmatismus, resignieren will er aber nicht. Er möchte jenseits von rigiden Lebensmustern und Ideologien leben und lieben – und eigene Geschichten erzählen.
Ich kann das noch nicht alles verstehen.
Ein Wörterbuch hat kaum genügend Seiten, um alles zu erklären.
Ich muss alles alleine verstehen.
Du bist nicht mehr da, um mir all das zu erklären.
Globalisierung, Jura Libre, Tobin, G8, unterentwickelte Länder,
Sklaverei, UNO, OPEC, ILO, EU.
Ich muss lernen und weiss noch nicht, was ich werden soll, Marie.
Ich weiss nur, was ich nicht will!
Globalisierungsgegner sein, mit Tausenden von Leuten demonstrieren,
«kill them all!» rufen, Polizist werden, mich verkaufen, ein Nichtsnutz sein,
neutral, vernünftig, vorsichtig sein,
Greenpeace-Aktivist, Kollaborateur sein.
Ich weiss noch nicht, was ich bin, ich weiss nur, was ich nicht will:
mein ganzes Leben in WCs rumvögeln, eine Familie gründen,
meinen Arsch verkaufen, den anderer kaufen,
Kinder, den Tag nicht ganz leben,
Angst vor dem Dunkeln haben,
Christ, Jude, Buddhist sein, an nichts glauben,
kämpfen, um dazuzugehören,
unsichtbar sein, abwesend sein, Mädchen nicht in die Augen sehen,
mit Jungs schlafen, um nicht reden zu müssen,
ein Schwuler, der in Clubs rumhängt,
mit allen vögeln, um niemanden zu lieben.
Ich werde meine eigenen Geschichten erzählen.
Man wird nicht fragen, ob richtig oder falsch, Wahrheit oder Lüge.
Ich will kein dummer Junge sein.
Ich bin kein dummer Junge!