Begehren. Das Wort schreibt sich in Marguerite Duras’ Werk fort. Es verweist auf einen Rohzustand des Fühlens, das im Werk der französischen Autorin immer mit Schmerz und Verlust verbunden ist. Dem Begehren wohnt eine verzehrende Kraft inne, und spricht aus dem französischen «désir» noch stärker die Sehnsucht, erzählt sein Klang im Deutschen von der Vitalität des Eros – aber schon folgt ihm Bruder Thanatos auf den Fuss, und die Lust, bei Duras durch Unstillbarkeit gezeichnet, führt in die Erschöpfung und zum Tod, wenn nicht im wörtlichen, so im übertragenen und nicht weniger apokalyptischen Sinn. Im Roman L’amant erhält das Wort, dem eine Körperlichkeit anhaftet, eine Gestalt, personifiziert im Liebhaber, als Titel gesetzt. «[E]r ist begehrenswert», heisst es etwa: «Ich sage zu ihm, dass ich ihn begehre» (71). (Für die Zitate wird die deutsche Übersetzung von Ilma Rakusa verwendet.) Solche einfachen Aussagesätze, schlichte Bekenntnisse mit erotischem Understatement formuliert, werden immer wieder in ihrer Grösse und Grossartigkeit hingestellt, schaffen eine Stimmung von schwüler Sinnlichkeit, oft nahe am Pathos: eine heilige Feier. Marguerite Duras, durstig ein Leben lang, selbst mannigfache Obsessionen kultivierend, sie musste es niederschreiben und wieder schreiben, als wäre es das erste Wort. Es ist bei ihr das erste Wort, das allem zugrunde liegt.
Ein Buch, in dem das Begehren der Hauptakteur aus Fleisch und Blut ist, reizt zur Verfilmung. Begehren ist körperlich, Kino ist körperlich, also. Aber wie filmt man Begehren? Vor allem: Wie setzt man ein Buch, in dem die Sprache das Ereignis ist, ins visuelle Medium um? Marguerite Duras’ Schreibweise hat einen spezifischen Rhythmus, den selbst die Interpunktion, das Setzen des einzelnen Kommas, prägt, was ihre Texte so musikalisch macht. Die erste Liebe zwischen einem blutjungen Mädchen und einem älteren Mann in L’amant wird in einem mal melancholischen, mal erregten, je nach ästhetischem Empfinden auch manierierten Singsang erzählt, hoch artifiziell, oft in einfachen Bildern, ohne Psychologisierung der Figuren, die auch kaum in einer sozialen Lebenswelt verankert sind. Statt einer linearen Handlung sind Zeitebenen, Schauplätze und Erzählperspektiven vermischt. Jean-Jacques Annaud hat es gewagt, der Sprachkraft seine eigene Vision gegenüberzustellen, und hat den Roman 1991 verfilmt. Den schlagkräftigen Titel hat er übernommen – zumal so der Glanz der Vorlage auf ihn abstrahlte. L’amant ist Duras’ erfolgreichstes Buch, sie erhielt dafür 1984 den Prix Goncourt, es führte diverse Bestenlisten an und wurde in der Originalausgabe über eine Million Mal verkauft. Dass die französische Schriftstellerin in dieser Geschichte einer Leidenschaft autobiografische Erinnerungen literarisch verwertete, dürfte als voyeuristischer Reiz hinzugekommen sein.
Das schmale Büchlein bietet Stoff für grosses Gefühlskino. L’amant erzählt eine Amour fou. Deren exklusivem Nicht-von-dieser-Welt-Charakter liegen verschiedene Asymmetrien zugrunde, die zu einer spannungsvollen Konstellation führen. Da wäre das Lolita-Motiv: Die Liebe zwischen einem reiferen Mann und einer Kindfrau ist mit einem Tabu belegt. Sie fünfzehneinhalb, eine Internatsschülerin, er im heiratsfähigen Alter; 27 im Roman, 32 im Film – der Film akzentuiert so den Skandal. Der Altersunterschied verstösst gegen gesellschaftliche Konventionen, das Gesetz gar, denn es geht um Sex mit einer Minderjährigen; auf die pädophile Dimension verweist Duras, wenn sie die Heldin zärtlich «die Kleine» (37) oder «das Kind» (60) nennt. Weiter kennzeichnet die unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit «diese Schande» (74), deren sich der Mann, hier stellvertretend für ihre Mutter, bewusst ist: Er ist ein Chinese aus dem Norden, sie eine weisse Französin in der französischen Kolonie im Indochina der Dreissigerjahre: «[Es] gibt diesen Rassenunterschied, er ist kein Weisser, er muss ihn überwinden, darum zittert er» (55); zittert seine Hand, als er sich eine Zigarette anzündet bei der ersten Begegnung, und auch ihre Familie verachtet ihn für seine Herkunft. Brisant ist als Drittes die ökonomische Kluft, weil sie das Verhältnis in die Nähe der Prostitution rückt. Der chinesische Millionärssohn, für den sein Vater, ein Grundbesitzverwalter in der Kolonie, bereits eine Braut ausgesucht hat, gibt dem Mädchen wiederholt Geld, das seine Mutter, bei einem Grundstückskauf um ihr Vermögen betrogen, und seine zwei Brüder gut gebrauchen können. Das Mädchen spielt mit der Rolle der «Hure» (72), doch ist es eher Koketterie: Käuflich ist diese Liebe nicht, denn sie ist, gegenseitig.
Die starke Anziehung wird als Kampf ausgetragen mit wechselnder Machtposition. Die unüberwindbaren Schranken sind Thema zwischen den Liebenden und verleihen der Erotik ein gewalttätiges Moment. Auch wenn das Mädchen sich lange souverän gibt, «vom ersten Moment an [...] etwas in der Art» weiss, «dass er ihr verfallen ist» (59) und «es vorziehen» würde, «wenn Sie mich nicht liebten. Doch wenn Sie mich lieben, möchte ich, dass Sie tun, was Sie üblicherweise mit Frauen tun» (62), so ist das Zusammensein nicht beliebig und in keinem Moment ein Tauschhandel. Während er schon kurz nach dem Eintreten in das Zimmer, das fortan ihr von der Aussenwelt abgeschottetes Liebesrefugium sein wird, sagt, «er liebe sie wie wahnsinnig» (61/62), trifft die «Gebieterin über sein Begehren» (192) die Erkenntnis ihrer Liebe erst bei der Heimreise nach Frankreich auf dem offenen Meer, als aus einem Salon des Dampfers ein trauriger Walzer von Chopin ertönt. Doch von Anfang an berührt die Gewalt der Begierde, wieder und wieder betont, Mal für Mal gezeigt, höhere Sphären: Sie gibt sich ihm hin, «um das Wissen um Gott zu vertiefen» (124). Absolut gesetzt werden die Gefühle gerade auch wegen der Unvereinbarkeit der familiären und gesellschaftlichen Ansprüche. Die Asozialität in jedem Sinne definiert die Amour fou: Diese Liebe ist unmöglich. Sie ist, aber sie ist nicht zu sozialisieren und daher als gelebte nicht von Dauer – gerade darum aber für immer. «Er sagte ihr, [...] dass er nie aufhören werde sie zu lieben, dass er sie lieben werde bis zu seinem Tod»: Mit diesen Worten endet sowohl der Roman (194) wie der Film. L’amant ist auch eine Variation des tragischen Liebesmythos.
Literaturverfilmungen ziehen oft normative Wertungen nach sich («Das Buch ist besser als der Film»). Man kann das vorprogrammierte Urteil vermeiden, indem man vorerst einen intermedialen Vergleich der Darstellung von Erotik macht und davon ausgeht: Beide sind etwas anderes. Zwar werden sowohl das Buch wie der Film von der Rezeption als «erotisch» beschrieben, doch sie inszenieren und gestalten Erregung und Sinnlichkeit mit ihren je eigenen Mitteln. Am Anfang von L’amant ist die sexuelle Attraktion, das Begehren, das bei der ersten Begegnung auf der Fähre während der Überquerung des Mekongs schlagartig geweckt wird. Das heisst, und hier fordert die Literatur den Film bereits heraus: Im Roman existiert es schon vor der eigentlichen Geschichte. «Ich hatte mit fünfzehn ein Gesicht der Lust und kannte die Lust nicht» (16), sinniert die Ich-Erzählerin, aus deren Perspektive die Amour fou fünfzig Jahre später erinnert wird, alternierend mit der personalen Erzählsituation des Mädchens in einer vergangenen Gegenwart. Das genuine Begehren – «Es war in derjenigen, die es herausforderte, oder es existierte nicht. Es war vom ersten Blick an da oder es hatte nie existiert. Es war die jähe Vorstellung einer Vereinigung [...]» (33/34) – wird im Roman als Voraussetzung für den Coup de foudre hingestellt, eröffnet die Geschichte. «Fünfzehneinhalb. Die Überquerung des Flusses.» (16), schliesst der nächste Abschnitt an, und das Übersetzen auf Wasser, hier vom Wohnort Sadec ins Pensionat in Saigon und hin zur Amour fou, wird zum Sinnbild, das am Schluss mit der Reise über den Ozean nach Frankreich, und also der Trennung vom Liebhaber, wieder aufgenommen wird.
Wie, um beim direkten Vergleich zu bleiben, filmt man «ein Gesicht der Lust»? Szenenwechsel, der Film antwortet: Jane March in der Rolle der Heldin steht, die Unterarme abgestützt, an der Reling; durch den leicht gesenkten Kopf und die breite Hutkrempe ist ihr Gesicht halb verdeckt und nur der kirschrot geschminkte Schmollmund sichtbar. Schnitt: Die Kamera wandert von den mit Glasperlen bestückten, abgetragenen Schuhen die staksigen Beine empor, beobachtet, wie ein Fuss sich aufs Relinggeländer stellt, schweift langsam über den schlaksigen Mädchenkörper im zu weiten gelblichen Kleid. Die Heldin hebt den Kopf, zeigt ihr ganzes Gesicht mit in die Ferne gerichtetem Blick, und aus dem Off ertönt die verlebte Stimme einer Frau: «Seht mich an, ich bin fünfzehneinhalb» – die Kamera streift weiterhin bewusst fetischisierend und in Grossaufnahme über die dunklen Zöpfe, hält kurz bei der ausgefransten Zopfschlaufe inne, verweilt beim bestickten Dekolleté und landet wieder bildfüllend beim hochgestellten und mit dem Absatz im Geländer eingehakten Schuh, in dessen Perlen sich die Sonne bricht – das Bild aus JeanJacques Annauds L’amant hat sich eingebrannt. Nachfolgend wird auf das Geschehen auf der Fähre geschwenkt, und die Stimme rezitiert wortgetreu den Romanabschnitt über den Grund der Reise: «Die Überquerung des Flusses [...].»
Das «Gesicht der Lust» wird im Film zur Lust des Beschauers, der Beschauerin durch das explizit fetischistische Angebot. Der attraktive Körper der Kindfrau beziehungsweise der Schauspielerin Jane March wird auf seine erotische Ausstrahlung hin inspiziert und inszeniert. Wobei Marguerite Duras für das äussere Erscheinungsbild – Kostüm und Maske – die Vorlage liefert: «Ich trage ein Kleid aus Rohseide, es ist abgenutzt, beinahe durchsichtig. [...] Das Kleid ist ärmellos, sehr tief ausgeschnitten. [...]» (19/20). Auch die Schuhe, «das berüchtigte Paar aus Goldlamé mit hohen Absätzen» (20) und «mit kleinen Verzierungen aus Strass besetzt» (21), trägt die Gymnasiastin selbstbewusst im Wissen um ihre Bestimmung: nämlich, wie der Liebhaber von Anfang an erkennt, «dass ich die Liebe lieben würde» (71). Für das, «was genau in ihrem Fall geschehen muss» (61) – von diesem Mann bis zum Wahnsinn begehrt zu werden –, hat sie sich geschminkt, «sehen Sie mich an» (28): «Ich verwende Tokalon-Creme», darüber «lege ich eine Schicht fleischfarbenen Puders [...]» (29). Durch die simple Nennung der Kleider und Accessoires wird eine sinnliche Stimmung heraufbeschworen, die die Fantasie anregt und die inneren Bilder, tausend mögliche Gesichter der Lust, aufruft. Der Film seinerseits offeriert das Gesicht der Jane March mit dem erwartungsvollen Blick und dem angedeuteten, leicht herausfordernden Lächeln: Seht mich an. Dass er sie anschaut, der Chinese, Tony Leung, der hinter getönten Scheiben in der schwarzen Limousine sitzt, die auf der Fähre steht, ist in dieser Szene bereits enthalten – der Zuschauer und die Zuschauerin im Kino nehmen seine Position ein.
Dieses Bild – Duras spricht in der Erinnerung dieser ersten Begegnung wiederholt von einem «Bild» (59, 60, 97) und thematisiert damit seine Visualisierbarkeit – eröffnet das Spiel von Anziehung, Verführung und Unterwerfung. In der Folge stellen sowohl der Film wie das Buch Sexualität sehr explizit dar: Sie setzen das Attribut «erotisch» in seinen Stand. Nach der ersten scheuen Annäherung auf dem Wasser und nachdem der Mann das Mädchen in seiner Luxuskarosse ins Internat fuhr, begleitet sie ihn bald regelmässig in sein Junggesellenzimmer in Cholen, einem etwas heruntergekommenen und von Chinesen bewohnten Stadtteil im Süden Saigons. Dieser ebenerdig gelegene Raum mitten in einem belebten Geschäfts- und Vergnügungsviertel wird nun zur Liebesinsel (zwischen den Wasserreisen des Anfangs und des Abschieds). Es ist ein Ort ausserhalb von Raum und Zeit und einer gesellschaftlich festgelegten Ordnung. Er steht für die Exterritorialisierung der Liebe: Topos der Amour fou. Hier hat er ihr, im Roman, «das Kleid vom Leib gerissen, er wirft es zu Boden, er reisst den kleinen weissen Baumwollslip weg und trägt sie nackt zum Bett» (63) – «Wir verharren so, ineinander verkrallt, und stöhnen im Lärm der Stadt, der draussen noch immer tost» (76/77). Die fernöstliche Exotik und die Gewalt der Erotik verschmelzen zu atmosphärischen Bildern, denen auch etwas Geheimnisvolles anhaftet: «Auf den Vorhängen sieht man die Schatten der Leute, die in der Sonne auf dem Gehsteig vorübergehen. [...] Die Schatten sind gleichmässig gestreift durch die Sprossen der Jalousien. Das Klappern der Holzschuhe hämmert gegen den Kopf, die Stimmen sind gellend [...]» (68). Das «Licht aus Dunst und Hitze» (46) verweist auf den fiebrigen Zustand, die «Gerüche von Karamel [...], von gerösteten Erdnüssen, chinesischen Suppen, gebratenem Fleisch [...]» (69) wecken den olfaktorischen Sinn. Die tropische Schwere schlägt sich wiederum auf die Sprache nieder: «Sie berührt die Zartheit seines Geschlechts, seiner Haut, das unbekannte Neuland. Er stöhnt, er weint.» (64) – der Akt endet lyrisch: «Das Meer, formlos, einfach unvergleichlich» (65). Die mystische Einheit beschreibt Duras wieder und wieder in melodischem Duktus. Distanzierend wirkt dabei die dritte Person: «[...] und dann wird er sie noch nass zum Bett tragen, er wird den Ventilator anstellen und er wird sie immer heftiger küssen, überall, und sie wird immer mehr und noch mehr verlangen [...]» (152). Abkühlung bringt es nicht.
Die Leinwandadaption malt Leidenschaft auf ihre Weise: mit Hilfe von Kamera, Ton, Ausstattung. Während bei Duras die Suggestionskraft gerade von der Unschärfe und Dunkelheit vieler Bilder herrührt, zeigt der Film, der im Süden Vietnams gedreht wurde, einen Eifer im detailgetreuen Inszenieren des Liebesuniversums. Jean-Jacques Annauds L’amant ist eine Bilderpracht. Das Dekor der französischen Kolonialzeit wurde unter der Leitung von Than At Hoang minutiös nachgebaut. Kameramann Robert Fraisse komponiert die einzelnen Einstellungen zu Gemälden. Dazu gehören die Panoramaaufnahmen von Saigon, dem Mekong unter weitem Himmel; dazu zählen pittoreske Kamerafahrten entlang der Armut und dem Reichtum, aber auch die ästhetische Präsentation der Figuren, wahrer ausgedrückt: ihrer Körper. Das Bild der Heldin, die im Schlafsaal des Pensionats leise atmend unter dem Moskitonetz liegt und ihre Brustwarze berührt, welche das Laken knapp verdeckt, referiert im David-Hamilton-Stil das im Roman formulierte Begehren, welches bereits im Mädchen vorhanden sei und auf Erweckung warte. Auf dem Weg zu dieser Erweckung setzt sich die Kamera dem Paar auf die Fersen, fängt dadurch das bunte Treiben in Cholen ein, Strassenküchen, die Stände der Händler, rauchende Kohlenfeuer, auf der Tonspur das Zischen des Fleisches, fremdländisch klingende Stimmen und gackernde Hühner – dazu die Erzählerin aus dem Off, die den «Geruch des Chinesenviertels» in den Worten des Romans beschreibt. Nachdem das Paar aus dem Blickfeld geraten ist, gleitet die heimliche Beobachterin, die Kamera, sodann wieder um die Ecke und folgt den Liebenden ins abgedunkelte Zimmer mit den durch die Jalousien einfallenden Lichtstreifen und den schemenhaft bewegten Schatten vorbeieilender Passanten. Auch in der visuell-akustischen Umsetzung strahlt das Ambiente rund um den Locus amoenus etwas Magisches aus.
Im Film wird die Kamera gleichsam zur objektivierenden Erzählinstanz. Sie blickt auf das Geschehen und zeigt; zeigt viel nackte Haut, kopulierende Körper in Variationen, der sexuelle Akt mal als sanfte Verführung, mal als Quasi-Vergewaltigung, im Bett oder auf dem Boden. So werden die Sexszenen vor allem als eines wahrgenommen: freizügig; als das, was man sieht. Dem reinen Schauwert – ein Fetischismus, der dem Genre des «erotischen Films» inne ist – versucht Annaud nun mit der Voice-over eine geistige Dimension beizufügen. Die Ich-Perspektive in der Romanvorlage bietet es an. Über die küssenden Lippen und fordernden Hände legt sich die erinnerte Vergangenheit wie eine melancholische Spur: «Die Haut, die Haut ist von prachtvoller Zartheit», flüstert überwältigt die jetzt alte Off-Stimme der jungen Frau, welche im Bild den Körper, «das unbekannte Neuland» des chinesischen Liebhabers, erforscht. Mit dem Rezitieren ganzer Passagen aus dem literarischen L’amant wird das Geschehen in eine Sphäre des Künstlichen und Schicksalhaften erhoben, akzentuiert durch die wie von Glockenklängen widerhallende Musik von Gabriel Yared statt der natürlichen Geräuschkulisse. Dafür weist eine dazwischengeschnittene Einstellung mit einem alten Mann, der auf der Treppe vor dem Zimmer Kleider flickt, noch einmal auf die Loslösung dieser Liebe von jeder sozialen Realität. Die Verquickung von Jetzt und Damals, erreicht durch die Voice-over, führt zu einem reizvollen Miteinander von Bild und Text: Der Kunstgriff stört die Unmittelbarkeit des dramatischen Geschehens, die gezeigte Intimität erhält eine subjektive Note. Die rauchige und verlebte Stimme aus dem Off – in der deutschen Synchronisation von Eva-Katharina Schultz, im englischen Original spricht Jeanne Moreau – verfehlt als Kontrast zum jugendlichen Körper, der sich auf den weissen Laken dem Liebhaber hingibt, ihre erotische Wirkung nicht: «Ich hatte ihn gebeten, es wieder und wieder zu tun. Es zu tun. Er hat es getan. Im Seim des Blutes. Ich denke, er ist es gewohnt, das ist die Beschäftigung seines Lebens. Die Liebe, nichts anderes.»
Gerade diese Literarisierung des Films, das fragmentarische Zitieren aus dem Roman, wird L’amant in Kenntnis der Vorlage nun aber auch zum Verhängnis. Das Unterlegen der Sexszenen mit Duras’ Sätzen hat Alibicharakter, denn der inhaltliche Bedeutungszusammenhang wird nicht hergestellt. Annauds kunsthandwerklich perfekter Film bebildert die Literatur, ohne dass der Medienwechsel deren zentrale Aussage umsetzen könnte. Im Roman L’amant hat die Erotik auch eine literarische Funktion: Das Thema Schreiben und Erzählen ist eng mit der Amour fou verknüpft. Das Mädchen beziehungsweise die Ich-Erzählerin oder – autobiografisch gelesen – Marguerite Duras kommt durch die «verrückte» Liebe zum Schreiben. Die Erzählerin beschreibt sich zum Zeitpunkt der ersten Begegnung mit dem zukünftigen Liebhaber: «Fünfzehneinhalb. Der Körper ist schmal, fast schmächtig, Kinderbrüste noch, sie ist blassrosa und rot geschminkt. [...] Ich sehe deutlich, dass alles vorhanden ist. Alles ist vorhanden, und noch hat das Spiel nicht begonnen, ich sehe es an den Augen, alles steht schon in den Augen», um übergangslos anzufügen: «Ich will schreiben» (35). Vor dem Mann spricht sie den Wunsch aus, über ihr Leben, das sie ihm erzählt, zu schreiben und macht den Traum damit wahrer. Ihre Mutter aber nahm ihn nie ernst. Die Amour fou hilft ihr folglich nicht nur, sich von ihrer Familie zu emanzipieren, sondern sie erlebt sie, um auch ihrem Traumberuf näher zu kommen.
Im Film gibt es punktuelle Anspielungen auf die Berufung der Heldin. Sie stehen eher zusammenhangslos im Handlungsganzen, etwa am Anfang und Ende, wo man eine schreibende Hand beziehungsweise alte Frau am Schreibtisch sitzen sieht. Auch Annaud lässt das Mädchen, als es nackt im Holzzuber steht und vom Liebhaber nach dem Liebesakt gewaschen wird, den Wunsch formulieren. Doch das visuelle Medium kann die Dialektik von Schreiben und Begehren nicht erfassen, allein, weil es nicht im Medium der Sprache zu Hause ist. Die Erotik referiert in diesem Film nicht über sich hinaus. Sie hinterlässt – in Kenntnis der literarischen Vorlage – ein erzählerisches Vakuum.
Duras beschreibt in L’amant eine existenzielle Erfahrung in zweifacher Hinsicht, als doppelte Initiation: Die Liebesgeschichte machte sie zur Frau und zur Schriftstellerin (auch wenn der Roman nicht am Anfang ihrer Karriere steht). Die Liebe als radikale Erfahrung auf Leben und Tod erst ermöglicht das Schreiben. Die Autorin schreibt in diesem zwar autobiografisch geprägten, in erster Linie aber poetischen Text über das Schreiben an sich. Man kann den Gedanken weiterführen: Das Begehren wird angestachelt und aufrechterhalten durch das Wissen um seine zeitlich begrenzte Erfüllbarkeit. Dieselbe Kraft, der auch ein gewalttätiges Moment innewohnt, ist gleichsam der Antrieb für das Schreiben, das Marguerite Duras wie eine Obsession betrieb. Der Schlüsselsatz steht im Nachfolgeroman L’amant de la Chine du Nord: «Für sie, das Kind, war diese ‹Zufallsbegegnung› an diesem Ort der Stadt immer gleichsam der Beginn ihrer Geschichte gewesen, die Begegnung, durch die sie die Liebenden der Bücher geworden waren, die sie geschrieben hatte» (53).
Marguerite Duras schreibt die Variation des Liebesmythos 1990, nachdem sie erfuhr, dass der chinesische Liebhaber gestorben ist. Dass sie die Amour fou noch einmal erinnern musste, da sie nun unwiederbringlich war – «Er liebe sie bis zum Tod» (215), heisst es auch in L’amant de la Chine du Nord –, beweist dessen zentrale Bedeutung für ihre Existenz, für ihr Werk. Zu einer Neufassung dürfte sie zudem Annauds Filmprojekt bewogen haben. Nachdem die Schriftstellerin anfangs noch von einer Verfilmung ihres Romans angetan war, hat sie sich vom aufwändig inszenierten Melodram distanziert. Das war absehbar. Erstens hat sich die Autorin, die als Regisseurin und Drehbuchautorin mit dem Medium vertraut war, immer gegen das Mainstreamkino ausgesprochen. Zweitens ging es um persönliche (erotische) Erfahrungen, die gleichsam in der Literatur vollzogen werden, wodurch jede fremde Aneignung zum Scheitern verurteilt ist: Sprache und Erotik sind hier eins, das Leben ist zur Kunst verdichtet. Duras verabscheute nicht nur den Illusionscharakter des klassischen Erzählkinos, sondern zog auch die Parallele zu dem, was man gemeinhin Biografie nennt. Am Anfang von L’amant heisst es programmatisch: «Die Geschichte meines Lebens gibt es nicht. So etwas gibt es nicht. Es gibt nie einen Mittelpunkt. Keinen Weg, keine Linie» (14). Trotzdem wurde auch der Film – mit 3 Millionen Eintritten ein Welterfolg – als Autobiografie verkauft. Duras brachte ihre eigenen Vorstellungen von einer filmischen Adaption in den Folgeroman ein. Es gibt in L’amant de la Chine du Nord Anmerkungen zu Kameraführung, Musik oder der Besetzung. «Im Falle eines Films nach diesem Buch sollte das Kind nicht von einer nur schönen Schönheit sein. Das wäre vielleicht gefährlich für den Film», heisst es etwa: «Eine Art kindliche Miss France liesse den ganzen Film in sich zusammenfallen. [...] Die Schönheit tut nichts. Sie betrachtet nicht. Sie wird betrachtet» (63). Ihre Befürchtung dürfte mit der 17-jährigen britischen Schauspielerin Jane March als sinnlich-laszivem Blickfang eingetroffen sein. Der Liebhaber, im ersten Roman ein schwächlicher, magerer «Schmerzensmann» (125) mit einer Haut, die nach englischen Zigaretten, teurem Parfum, Honig, Tussahseide und Gold duftet (70/71), wird in L’amant de la Chine du Nord als «schöner, gesünder» beschrieben: «Er ist mehr ‹fürs Kino› als der des Buches» (30). Tony Leung wähnt man – wohl eher: wähnt frau – als idealen Typus des Liebhabers. Der Hongkong-Schauspieler ist dabei nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter und Landsmann aus In the Mood for Love von Wong Kar-wai (2000). Das kann leicht passieren, da sie beide Charaktere verkörpern, die sich in unerfüllter Liebe verzehren. Ihre sanfte und verletzliche Männlichkeit vom pomadierten dunklen Scheitel über den schmachtenden Blick bis zur Eleganz der Statur begründet auf der Leinwand eine eigene Sprache des Begehrens. Letztlich will auch sie vor allem eines: betrachtet werden.