SIMONA FISCHER

VANYA (CHRISTINA ZULAUF)

SELECTION CINEMA

Zwei Männer, der eine ein alter Jäger, der andere ein junger entflohener Häftling, treffen während einer stürmischen Winternacht inmitten der russischen Taiga aufeinander. Hier, am Ende der Welt – oder 150 Kilometer vom nächstgelegenen Dorf entfernt –, lebt der alte Russe Nikititsch in einem Haus, in dem Vanya, der Flüchtige, Schutz vor der erbarmungslosen Kälte sucht. In dieser Nacht wird sich im Schein des Kaminfeuers und nach ausgiebigem Tabakund Wodkakonsum eine scheinbare Freundschaft anbahnen, deren Schicksalhaftigkeit durch die subtil gezeichneten Wesensunterschiede der beiden Protagonisten vorweggenommen wird. Der ungestüme Vanya verzweifelt auf der Suche nach Freiheit und Leben, über das er spricht «wie andere über Weiber». Er und der alternde Jäger, ein am Leben und an der Einsamkeit in der Wildnis geschulter Mann, stehen sich metonymisch wie Vater und Sohn gegenüber. Als mitten in der Nacht zwei Polizisten in Zivil auftauchen, verrät Nikititsch seinen Schützling nicht. Doch Vanya wird dem Alten seine Grossherzigkeit nicht danken. Tags darauf muss dieser feststellen, dass sein Gast sich in aller Heimlichkeit davongemacht hat und dabei des Väterchens Tabak und das zum Überleben notwendige Gewehr mitgehen liess. Der Alte nimmt, ohne zu zögern, die Spur seines vermeintlichen Freundes auf. Die schicksalhafte Begegnung nimmt ihren Lauf.

Nach Christina Zulaufs erstem, bereits ausgezeichneten Kurzfilm Das Passfoto (2002), entstand ihr zweiter Kurzfilm ebenfalls in Russland, wo die Regisseurin auch ihre Ausbildung absolviert hat. Vanya überzeugt handwerklich wie atmosphärisch. Dies verdankt er unter anderem dem formalen Aufbau, der den Inhalt poetisch zu widerspiegeln vermag. Alles deutet auf eine dramatische Zuspitzung hin: Vom Aufeinanderprallen der gegensätzlich ausgerichteten Figuren bis zur Einhaltung der klassischen Einheit von Ort und Zeit. Trotzdem büsst diese auf eine schicksalhafte Wendung hin ausgelegte Handlung nichts an ihrer Spannung ein. Mit der Wahl des schwarzweissen Filmmaterials tritt das gekonnt eingesetzte Lichtund Schattenspiel verstärkt hervor und unterstreicht den parabelhaften Verweischarakter der Geschichte. Die auf einem Roman von Vladimir Shukshin basierende Erzählung reicht weit über die Frage des Generationenkonfliktes hinaus.

Auf subtile Weise wirft Christina Zulaufs Film tiefgründige Fragen der menschlichen Existenz auf. Diese eröffnen sich vor dem Hintergrund einer menschenleeren Schneelandschaft, die symbolisch gesehen beinahe zum Seelenschauplatz avanciert. Der Film rührt in den tiefen Abgründen der menschlichen Daseinsfragen, ohne einem moralischen Pathos zu verfallen.

Simona Fischer
geb. 1972. Studium der Germanistik, Publizistik und der Filmwissenschaft. Arbeitet für das Literaturhaus Zürich und als freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2006)
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