WALTER RUGGLE

FILMKRITIK ALS VERMITTLUNG — MARTIN SCHAUB UND DER KRITISCHE VERSTAND

CH-FENSTER

Mit Martin Schaub, der am 14. Juni 2003 nach längerer Krankheit gestorben ist, hat die Schweizer Filmpublizistik einen ihrer profiliertesten Autoren verloren. Nachrufe sind erschienen, die seine Biografie gewürdigt und seine Arbeiten beschrieben haben: geboren 1937, Germanist mit einer Dissertation zu Kleist, NZZ-Journalist und ab 1968 Redaktor beim Tages-Anzeiger in Zürich, Mitbegründer und Mitgestalter von dessen Magazin, selber Filmessayist, scharfsichtiger Autor in Sachen Film und Fotografie und als solcher auch die treibende Kraft in der Rettung und Umwandlung der Quartalszeitschrift Cinema in ein Jahrbuch. Schon beim Notieren dieser Zeilen merke ich, wie wenig man Martin Schaub mit dem Auflisten seiner Aktivitäten gerecht wird: Es waren viele, und zum Erstaunlichsten gehörte, wie ernsthaft er sie alle betrieben hat. Kein weiteres Nachrufen also, eher ein Nachdenken über das, was er unter seinem Handwerk verstand, und darüber, dass bei seinem Handwerk der Kopf benutzt werden durfte. Keine Selbstverständlichkeit mehr.

«Er konnte wie das leibhaftige schlechte Gewissen vor einem stehen», hat Dieter Bachmann notiert und damit etwas Entscheidendes beschrieben: Martin Schaub konnte ganz schön pingelig sein, denn er liebte die Sprache und die Präzision des Ausdrucks, der in und mit ihr möglich war. Er bohrte nach und liess kaum etwas einfach so stehen. Im heute vorwiegend an Schnelligkeit, Quoten und Oberfläche interessierten Medienbetrieb hätte es Schaub mit seiner Sorgfalt schwer. Er war einer, der es genau haben wollte, und dies aus einem simplen Grund: weil er neugierig war. Und weil er wusste, dass Wissen ohne Begreifen wenig Sinn macht. Und dass man erst begreifen kann, wenn man mehr weiss als das, was gerade notwendig wäre.

Wenn er einen Text schrieb oder redigierte, dann nahm er ihn kritisch lesend wieder auseinander, prüfte seine Wörter und Sätze auf Stichhaltigkeit, stellte, wo sie ihm zu wenig klar, zu wenig präzise schienen, Rückfragen. Er nahm sich Zeit. Und über das Beharren auf Exaktheit fanden die von ihm redigierten Texte zu mehr Klarheit, konnte man als Schreibender lernen, sich selber und das Geschriebene eben immer wieder in Frage zu stellen. Martin wusste enorm viel, und dennoch wollte er von Gewissheiten im Umgang mit künstlerischem Ausdruck nichts wissen. Auch der journalistische Ansatz verlangte Genauigkeit und Respekt. Viele Schreibkräfte arbeiten heute auf der Basis von Videos, auch Filmstudierende kennen Filme vorwiegend ab Konserve. Dass Ungenauigkeit allein schon aufgrund des Betrachtens miniaturisierter Bilder eine Folge ist, liegt auf der Hand.

Aus den frühen Siebzigerjahren habe ich ein A4-Blatt aufbewahrt, auf dem Martin Schaub die «Methoden der Filmkritik» zusammengefasst hatte. Professionell betriebene Auseinandersetzung mit Filmen war für ihn keine Geschmacks- oder Launensache, Kritik ist eine ernsthafte Arbeit und im besten Fall selber ein schöpferischer Akt, indem sie aufnimmt, sich einfühlt, zu verstehen versucht, weiterdenkt, vertieft und dabei erst noch lesenswert formuliert. Kritik verdient diesen Namen erst dann und taugt etwas, wenn sie über Kriterien verfügt und nachvollziehbar geführt wird. Davon ist wenig mehr geblieben. Beliebigkeit und Austauschbarkeit haben sich breit gemacht, und die Worthülsen, mit denen Einzelne spielen, halten oft nicht einmal einer oberflächlichen Betrachtung stand, zu offensichtlich ist ihre Leere, bloss liegt sie da, die fehlende Kompetenz.

Raum für eine würdige kritische Auseinandersetzung bieten aber auch nur noch wenige Medien; das, was man über Jahrzehnte hinweg unter«Kritik» verstanden hat, kann kaum noch gepflegt werden. Ob nicht die Kritikfähigen unter den Schreibenden es wieder einmal neu einfordern müssten? Landauf, landab sind Wochenendbeilagen auf Animationsprosa und Punkteverteilen angelegt. Sie können gar keine kritischen Texte enthalten, in denen eine nachvollziehbare Auseinandersetzung geführt wird. Sie können es schon gar nicht mehr bei kleineren Filmen, bei denen die Cinéphilen in deutschen oder italienischen Städten glücklich wären, wenn man sie überhaupt in einem Kino zu sehen bekäme. Viele Medien haben sich der Reflexion entzogen und bieten Produktepräsentation in kauffreudigem Umfeld. Da wird auch unübersehbar, für wie dumm und geistig beschränkt diese Medien ihr eigenes Publikum halten.

Martin Schaub war ein Filmliebhaber, der viel und gerne ins Kino ging, der offen war selbst für verschlossene und verquere Formen, für den auch das Analysieren der Gründe eines Scheiterns aufschlussreich sein konnte, der die Leinwand zunächst und zuerst einmal als Begegnungsort verstand für den eigenen Geist mit dem eines anderen. Industrieprodukte interessierten ihn wenig, er suchte nach den unterschiedlichen Handschriften, die auf dem Planeten auszumachen waren und plädierte «für eine offene Filmkritik». Das hiess für ihn, man soll Filme nicht messen, man soll sie zu verstehen suchen, und dazu würden drei Schritte notwendig sein: erstens das persönliche Erlebnis, zweitens der Kommentar zu einem Film und drittens seine Interpretation.

Für Schaub war das subjektive Erleben im Kinosaal der erste Schritt, dem die Objektivierung folgen musste: «Nacheinander werden die Charakteristiken eines Werkes erläutert und beschrieben. Ein Ganzes wird in seine Bestandteile zerlegt und fast naturwissenschaftlich genau betrachtet.» Auch hier machte er deutlich, dass es in der Kritik bei aller Subjektivität – entsprechende Kenntnis vorausgesetzt – eine Objektivierbarkeit gibt. Kommt der dritte und letzte Schritt, die Synthese, die Interpretation des subjektiven und des objektiven Filmerfahrens. Das Ganze soll einen Sinn bekommen, soll zusammengehen – oder eben nicht. «Die Interpretation», so Schaub, «ist dann nicht die ‹reine Wahrheit›. Sie ist eine Wahrheit, die umso verbindlicher wird, je gewissenhafter wir die ersten beiden Schritte getan haben.»

Heute bleiben viele beim ersten Schritt stehen und begnügen sich mit Feststellungen, die mehr über die Schreibkraft aussagen als über das zu vermittelnde Werk. Im Filmbereich ist der Journalismus zu einem Jekami verkommen, bei dem zu viele unbelastet von Sachkenntnis, von historischem, geografischem, gesellschaftlichem oder kulturellemWissen und bar jeglicher Passion die angelieferten Pressetexte umschreiben. Ohne Problem kann dann auch jemand im Solde eines Kinobetreibers für dessen Programmheft schreiben und weiteres Textmaterial Redaktionen verkaufen. Im Gegensatz zur Literatur-, zur Kunstoder zur Musikkritik scheint man an die Filmkritik kaum nochAnforderungen zu stellen. Die Honorare sind schlecht, die Zeit, die zur Verfügung steht, ist knapp, der Platz beschränkt, und die Politik der meisten Medien lautet ohnehin Wellenreiten: über das schreiben, worüber alle anderen auch schreiben.

Martin Schaub arbeitete in einer Zeit, in der ein Kritiker Akzente setzen konnte und wollte, dem Unbekannten mit dem Gewicht seines Namens zu Bekanntheit verhalf. Er hat das im Bereich des Autorenkinos für eine lange Reihe von Filmschaffenden getan, er hat es insbesondere auch für den Schweizer Film getan, den er mit grossem Wohlwollen schreibend begleitete. Heute legen im Filmbereich nicht mehr die Medien, sondern die Kulturindustrie die Inhalte der Medien fest, ihre Konzerne choreografieren global die Releases. Das gelingt ihnen auch an Orten, an denen die Medienbetriebe eigentlich noch unabhängig wären. Als Aussenstehender fragt man sich, was der Reiz daran sein kann, das zu machen, was alle andern auch tun, etwa seitenweise über Randthemen eines Industrieprodukts zu berichten, meist ohne Überprüfung der von der Industrie gestreuten Fakten. Schaub versuchte etwas anderes, und er hat viele Leserinnen und Leser damit geprägt und zu wacherem Sehen animiert: Er nahm einen Film wahr und verstand es als eine seiner Aufgaben, über diese Wahrnehmung kraft seiner Erfahrung und Kompetenz öffentlich nachzudenken. Das Urteil war ihm unwichtig, über die Däumchen-hoch-Däumchen-runter-Mentalität lachte er. Wichtig war ihm der Weg zum Urteil, und dass dieser Weg nachvollziehbar blieb. Wichtig war ihm, dass die Leute ins Kino gehen und übers Kino die Welt anders wahrnehmen, dass es über den regen Kinobesuch auch die unterschiedlichsten Filme zu sehen gibt, nicht nur an Festivals. Zu seinem Verständnis von Filmkritik gehörte eben auch ein politisches Bewusstsein dessen, was man selber macht und was mit einem gemacht werden kann.

Das Entscheidende bei seiner Art von Filmkritik war schliesslich wohl dies, dass ich als Leser oder Leserin Entscheidungsgrundlagen für einen Filmbesuch hatte und Angebote zur Vertiefung des Erlebnisses danach. Also nicht: Gehe hin oder gehe nicht hin; vielmehr: Was erwartet dich und wie kann einer damit umgehen. Das hiess für Martin Schaub nicht, dass er schlechte Filme gut reden wollte, aber dass er den Anspruch hatte, sich ernsthaft mit jedem einzelnen Film in einer ihm und seinem Platz im Kinoangebot angemessenen Form auseinander zu setzen. Offenheit eben auch gegenüber dem Unvollendeten, Entdeckungsfreude und Passion für die Dunkelkammer, in der wir immer wieder von neuem erleuchtet werden.

Walter Ruggle
Publizist, Kinoleiter und Direktor der Stiftung Trigon-Film, die herausragende Filme aus Afrika, Asien und Lateinamerika verleiht. Er hat während zwanzig Jahren als Filmkritiker gearbeitet und diverse Bücher veröffentlicht.
(Stand: 2005)
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