Nach rechts wie nach links dasselbe Schild: Roma 198 km. Mathias Gnädinger sitzt mit Charlotte Heinimann im Auto. Die beiden proben Tschechows Onkel Wanja am Strand, im roten BMW, mitten auf der nächtlichen Piazza. Ein Porsche rast durch enge Kurven, auf dem Beifahrersitz eine nervöse Caroline Redl. Ein Streit, und sie wird buchstäblich stehen gelassen, das Script flattert aus dem wegbrausenden Wagen. Mühelos schlüpft sie in die Rolle der Johanna von Orleans, deklamiert gegen Bäume, über Wiesen, in sich öffnende Landschaften. Max Rüdlinger versucht, George Meyer-Goll unter Kontrolle zu halten, der einen delirierenden Monolog aus Maxim Gorkis Nachtasyl vorträgt. «Nein, Herr Meyer-Goll kommt heute nicht mehr, er verkommt», spricht er ins Telefon einer Bar.
Was tun achtzehn Schauspielerinnen und Schauspieler, zu prekären Paaren und dynamischen Gruppen gewürfelt, in den Sibyllinischen Bergen? Sie wissen nichts voneinander, und doch werden alle in Rom im Goethe-Institut erwartet. Unterwegs streiten sic, suchen nach der richtigen Strasse, memorieren Texte, wechseln fliessend zwischen Figur und Privatperson. Am schnellsten tun das Arne Nannestad und Doraine Green, die sich in Who Is Afraid of Virginia Woolf als enttäuschtes Paar zerfleischen. Erst die Wiederholung lässt aufatmen: Es war nur Theater. Wo dieses aufhört und das «richtige Leben» anfängt, war auch für Clemens Klopfenstein nicht immer klar bei diesem «Castingmovie», das mit minimalen Mitteln zwischen 1996 und 1999 entstand.
Die Regeln waren einfach: In der grandiosen Landschaft Umbriens proben Klopfensteins Gäste Stücke, die sie noch nicht perfekt beherrschen, während er sie mit seiner Handkamera umlauern darf. Der Film erzählt keine Geschichte. Immer wieder bilden sich Kerne von Narration, unterstützt von einer Montage, die sich ungefähr an die Jahreszeiten hält und die Schauspielergruppen locker gegeneinander schneidet. Den Höhepunkt bilden Bruno Ganz und Tina Engel mit Aischylos’ Prometheus gefesselt. In einem klapprigen Lieferwagen, im Schnee, in der Küche eines Gasthauses, im Hotelbett. An diesen beiläufigen Orten gewinnt die existenzielle Not des Prometheus eine ungeahnte Schärfe. Die Nahaufnahme fängt ein, was die Bühnensituation nicht bieten kann. Dazu setzt der schlaue Wolf Klopfenstein auch Tricks ein: Der unsichtbar bleibende Regisseur gibt die Aufnahmen als Tonprobe aus. Erst am Schluss der Szene realisiert Ganz den Trick, mit einem der intensivsten Blicke in die Kamera, die man je gesehen hat.
Auf direkte und indirekte Weise profitiert WerAngstWolf von Klopfensteins Tatort-Kc- gieerfahrung bei Alptraum (1999): Dass die vierjährige Drehbucharbeit in der Hektik einer fünfwöchigen Produktion völlig umgestossen werden kann, bestätigt ihn in seinem Weg als experimentellen Filmemacher. Und als sein eigener Produzent. Ausserdem akquirierte er beim Tatort nicht nur Caroline Redl, Stefan Kurt und George Meyer-Goll, sondern auch Ben Jeger, dessen melodramatische Musik vielleicht etwas zu deutlich Spuren aus der Gegenwelt jener grossen Fernsehproduktion in den Film hineinträgt.