In Erinnerung an George »Tschöntsch« Reinhart (1942-1997)
Ein Basler Ethnologe und ausgewiesener Kenner Melanesiens – ein Inselgebiet im südwestlichen Pazifischen Ozean – beschloß 1924, seine nächste Expedition eine »kinematographische« werden zu lassen. Das »neue« Medium war seiner Meinung nach das geeignetste, um ein lebendiges Bild von aussterbenden Naturvölkern zu erhalten. Der berühmte deutsche Amerikanist Professor Dr. Theodor Koch-Grünberg stand ihm dabei mit Rat zur Seite.1 Unter vielen Schwierigkeiten begab sich unser Ethnologe in den amazonischen Urwald. Er überwand die Stromschnellen des Parú, eines 500 Kilometer langen Nebenflusses des Amazonas, der seine Quelle am Tumuc-Humac-Gebirge, an der Grenze zwischen Guyana und Brasilien, hat. Er verbrachte einige Wochen bei einer Gruppe Aparai-Indianer, die rund zehn Erwachsene und fünf oder sechs Kinder zählte. Ein junger Arzt, aus Basel stammend wie er, begleitete ihn. Den beiden wiederum stand ein »bärenstarker Kerl« namens Felix Capella zur Seite, der mit dem Urwald vertraut war.
Die beiden Basler verteidigten sich, so gut sie konnten, gegen die Unbilden des Tropenwaldes, gegen Flöhe, Sandflöhe und andere Parasiten. Wehmütig erinnerten sie sich der Vertrautheit und Anmut ihrer fernen heimatlichen »Kulturlandschaft«, während sie in notdürftigem Portugiesisch mit ihren friedfertigen und eher kooperativen Gastgebern kommunizierten. Die Objekte, die sie sammelten, finden sich heute im Museum der Kulturen in Basel.
In Belem do Para trafen sie sechs Aparai – darunter Yopi, den Stammeshäuptling –, die sie ins rund 900 Kilometer entfernte Dorf führten. Vorher aber besuchte der Ethnologe mit ihnen das Museu Paraense Emilio Goeldi: Treffpunkt und Forschungszentrum für jeden Ethnologen, Naturforscher und Zoologen im Amazonas-Gebiet. Er legte Wert darauf, denjenigen, die von den Leuten auf den Straßen Belems mit Neugier begafft und mit Herablassung als »animaes« (»Tiere«) behandelt wurden, zu zeigen, weshalb die Weißen so begierig waren, ihre Sitten kennenzulernen und ihre Werkzeuge mit nach Hause zu nehmen. Wohlweislich rüstete er sich aber dennoch mit Messern, Macheten und Äxten, Glasperlen und Kämmen aus, um für einen Tauschhandel vorbereitet zu sein – sollten die hehren Ideale die Aparai nicht ganz überzeugen.
Während ihres Aufenthaltes bei den Aparai im Dorf Tucano photographierten die beiden Männer viel. Dieser Tätigkeit widmeten sie den größten Teil ihrer Zeit, nicht zuletzt weil ihre mangelnden Sprachkenntnisse eine vertiefte Erforschung des Indianerstammes nicht zuließen. Die Aparai ließen sich photographieren und regten sogar Einstellungen an. Zur Überraschung des Ethnologen – die Platten wurden an Ort und Stelle entwickelt – zeigten sie keinerlei Mühe, die Bilder zu akzeptieren und zu entziffern.
Die zwei Männer filmten auch – war dies doch ursprünglich der Hauptzweck ihrer Expedition. Auf der Hinreise hielten sie Ansichten der Flußlandschaft fest und dokumentierten ihr Vorwärtskommen in Schiffen und mit Einbäumen in den Stromschnellen. Sie filmten das Lager, das Dorf und seine unmittelbare Umgebung sowie die Indianer (in Gruppen- und Einzelaufnahmen), die Mahlzeiten der Männer, das Entfachen von Feuer, das Urbarmachen der Erde und die Ernte. Sie nahmen die Zubereitung des Maniok auf, die Keramikherstellung, das Anfertigen von Pfeil und Bogen, das tägliche Bad der Frauen, die Behandlung eines Zahnfleischabszesses durch den Schamanen, die Erziehung der Jungen – auf die Bäume klettern, den Schlangen entwischen, mit dem Bogen schießen –, die Anfertigung von zeremoniellen »Tanzhüten«, den Maskentanz. Schließlich – auf dem Rückweg – machten sie noch ein paar Bilder vom Fluß bis zu einem letzten Wasserfall vor dem Amazonas.
Welcher der Weißen die Kamera bediente oder ob beide die Kurbel drehten, weiß man nicht. Was man hingegen weiß, ist, daß sie ihrerseits »gefilmt« wurden. Nicht, daß sie nun auf der Leinwand agierten, nachdem sie ihre Gastgeber in die Handhabung eines 35-mm-Kinematographen eingeführt hätten. Vielmehr taten zwei Aparai mittels eines eigens fabrizierten Apparatemodells so, als ob sie selbst filmten und gefilmt würden. (Ein Junge aus der Gruppe sammelte übrigens seine Pfeile in einem etwas ungewöhnlichen Köcher, der an ein Kamerastativ erinnert.) Unter dem Auge des Objektivs näherte sich der mutmaßliche Kameramann mit seiner Bambuskamera sogar bis zur Großaufnahme – ähnlich einem Aparai, der, zu einem anderen Zeitpunkt, mit seinem gespannten Bogen und eingelegten Pfeil direkt in die Kamera zielte. Dabei schwang keineswegs Feindseligkeit mit, sondern vielmehr Humor. Man kann sich allerdings fragen, ob das Spiel nicht ernster zu nehmen ist, als es den Anschein hat. Die Aparai bauten nämlich auch ein verkleinertes Wagenmodell auf Rädern und ahmten dabei Fahrzeuge nach, wie sie sie auf ihren langen Reisen gesehen hatten. Daß sie sich damit amüsierten, widerspenstige Hunde davor zu spannen, hindert uns nicht, einen tieferen Sinn darin zu sehen. Objekte dieser Art wurden aber nicht in die Schweiz gebracht. Jedenfalls – so hat man uns von Museumsseite her versichert – sind weder »Karren (Holzspielzeug)« noch »Kamera (Holzspielzeug)« in der Sammlung Speiser registriert. Die beiden Artefakte sind dennoch im Film sichtbar, und dank des Films weiß man auch von der mimetischen, im übertragenen Sinne sich aneignenden Handlung, die damit verbunden ist.
Wo Rauch ist, ist auch Feuer
Aber noch andere interessante Dinge finden sich in Yopi:
Einstellung 1 – Ein Aparai entfacht Feuer durch Reibung, indem er zwischen den Handflächen ein Stäbchen aus hartem Holz dreht, das er senkrecht auf ein Brettchen aus Weichholz aufsetzt. Er zeigt eine Art heiteres Interesse für das Vorhaben. Im Hintergrund stehen andere und schauen ihm zu. Es will nicht gleich beim ersten Anlauf klappen, aber schließlich steigt ein Räuchlein auf.
Einstellung 2 – Nun sind es plötzlich zwei, die sich beim Feueranzünden ablösen. Hat man noch einmal von vorne begonnen? Nach einer gewissen Zeit steigt auch hier ein Räuchlein auf.
Man fragt sich: Wieviel Zeit braucht ein »Naturmensch«, um auf diese Weise Feuer entstehen zu lassen? Eine Antwort ließe sich sicher in den ethnographischen Handbüchern finden. Wir beschränken uns aber auf den Film. Bei näherem Hinschauen können wir beobachten, daß die erste Einstellung nur auf den ersten Blick als eine einheitliche erscheint. Bevor Rauch sichtbar wird, gibt es einen Bruch: Der Vorgang wird nicht in einer einzigen Einstellung gezeigt, wie eine Echtzeit-Aufnahme dies tun würde.
Handelt es sich dabei um eine Verkürzung, wie sie bei der filmischen Darstellung von Vorgängen, die relativ lange dauern, üblich ist? Das Verdichten von Zeit mittels eines unsichtbaren Schnitts, während Kadrierung und Einstellungswinkel unverändert bleiben, ist ein der Kinematographie ureigenes Verfahren. Für Szenen, die in nur einer Einstellung gedreht wurden, setzte man einfach mit der Kurbel aus. Aber auch der Schnitt kam zur Anwendung: Die fließende Kontinuität der Trick-Filme von Georges Méliès hat ihren Ursprung in einer solch wiederholten unsichtbaren Diskontinuität. In den »plein air«-Filmen, wie Dokumentarstreifen zu Beginn des Jahrhunderts auf französisch genannt wurden, kann man bei aufmerksamer Betrachtung dieses Vorgehen erkennen anhand des Verschwindens, Erscheinens oder unvermittelten Positionswechsels einer Person innerhalb eines kontinuierlichen Aktionsradius.
Die Beschreibung unserer Szene wirft noch eine weitere Frage auf: Warum zeigt man uns zweimal dieselbe Handlung? Und wieso sind plötzlich zwei an der Arbeit? Seit jeher »wissen« wir, daß der Eingeborene mit primitiven, wenn auch einfallsreichen Mitteln Feuer anzündet. Und daß es keinen Grund gibt für ihn, dies anders zu tun – sonst wäre er nicht mehr der primitive Mensch, der im Dunkel der Zeiten lebt, irgendwo hinter den Wasserfällen, in der verlorenen Welt eines Seitenflusses des Amazonas, unterhalb des Äquators. Niemand fragt sich deshalb, wie ein Aparai zwischen Juni und September 1924 an den Ufern des Rio Parú tatsächlich Feuer entfachte, Außerdem untermauert die sprichwörtliche Redensart »wo Rauch ist, ist auch Feuer« die Interpretation der Bilder.
Was wir sehen, ist in diesem Fall aber nicht, was man uns zeigt. Was man nämlich sieht, ist ein Amazonas-Indianer, der nicht mehr weiß, wie man auf traditionelle Art Feuer anzündet. Dies aus dem einfachen Grund, weil er zu diesem Zeitpunkt, das heißt 1924, bereits Streichhölzer benutzte. Daß es ihm trotz aller Anstrengungen nicht besser gelungen ist, wird ihm niemand zum Vorwurf machen. Es versuchten es sogar mehrere: Die einen fanden es amüsant, die anderen ließen nach einigen unfruchtbaren Versuchen gelangweilt wieder davon ab. Nicht einmal dem Hartnäckigsten, der es seinen Vorfahren gleichtun und dem Ethnologen einen Gefallen erweisen wollte, gelang es.2 Wir werden so Zeugen eines offensichtlich klassischen Phänomens. Oder besser klassisch gewordenen dank der historischen Kritik am berühmtesten Film in der Geschichte des Dokumentarfilms: Gemeint ist die vorgetäuschte Authentizität eines Dokuments oder – in unserem Fall – die fiktive Authentizität des Inhalts eines Dokuments. Mittlerweile ist bekannt, weshalb der Inuk Allakariallak aus Robert Flahertys Nanook of the North (USA 1922), als er sich in das weiße Bärenfell kleidet, mit demonstrativer Gutmütigkeit die von Flaherty befohlenen Handlungen auszuführen scheint. In der Tat amüsiert er sich, Possen aufzuführen, die in den Augen der Weißen der ganzen Welt für die alltäglichen Verrichtungen der Eskimos gehalten werden.3
Unser Ethnologe, wie bereits zu Beginn festgehalten, hatte den Film gewählt, um eine im Aussterben begriffene Spezies »objektiv« zu verewigen. Aus praktischen Gründen präsentierte er die gastfreundlichen Amazonas-Indianer als exemplarische »Naturmenschen« in ihrer ursprünglichen Umgebung. Und der Film erfand für diesen Fall – handelt es sich doch um nichts Geringeres, als in ursprünglicher Art und Weise Feuer zu machen – die Erinnerung an eine Handlung, die bereits vergessen war.
Auf Einwände hätte der Ethnologe sicherlich dasselbe geantwortet wie Robert Flaherty. Nämlich daß die Darstellung nicht falsch sein könne, da die gezeigte Technik doch unbestritten eine authentische sei, was Anthropologen zweifellos bestätigen würden. Dies mag zwar zutreffen, aber indem der Film sich unbefangen gibt und die Künstlichkeit der Darstellung verschweigt, präsentiert er diesen Ausschnitt mythischer Zeit, diesen ahistorischen Moment als beobachtete Tatsache. Was die Kamera tatsächlich aufnimmt, ist nicht das, was eigentlich gezeigt werden soll – auch wenn dies nicht unbedingt auf den ersten Blick klar wird.
Frühes Buch, später Film
1926 publiziert unser Ethnologe, der Felix Speiser heißt, das mit vielen Bildern ausgestattete Buch Im Düster des brasilianischen Urwalds.4 Mit Ausnahme von einigen Bemerkungen über die Schwierigkeit, das Filmmaterial im tropischen Klima einwandfrei aufzubewahren – er hält fest, daß die Negative in gutem Zustand sind –, erzählt er seltsamerweise darin kaum etwas über seine filmische Tätigkeit, noch beschreibt er seine kinematographische Ausrüstung. Und ebensowenig erwähnt er die Episode mit der Bambuskamera, welche die Aparai anfertigten. Nur hie und da entschlüpft ihm eine Bemerkung über die Möglichkeit, ein Ereignis filmisch festzuhalten. So beispielsweise die medizinische Behandlung eines Abszesses, die am hellichten Tag durchgeführt wurde.
Speiser zeigte sich sehr sensibel gegenüber den Anzeichen entwicklungsbedingter Veränderungen der Naturmenschen und stellte diese ins Zentrum seiner Forschung. Die Aparai waren für ihn – gemäß seiner Theorie vom Untergang der Naturvölker – an einem toten Punkt angelangt. Seiner Meinung nach hatte eine Rückentwicklung stattgefunden, die sie dem Aussterben nahegebracht hatte. Dies nicht so sehr durch den Kontakt mit dem »Kulturmenschen«, dessen Bedeutung er keineswegs schmälerte, als durch eine Art inneren Zerfall ihrer ursprünglichen Kultur.
Seine Notizen zeigen in aller Offenheit, daß es Speiser weniger ein Anliegen war, als Chronist einer zerrütteten Gegenwart zu fungieren, als vielmehr Phänomene, die eigentlich der Vergangenheit angehörten, zu registrieren und zu bewahren. Diese Motivation war auch ausschlaggebend für andere Ethnologen zu Beginn des Jahrhunderts, die traditionellen Werkzeuge der Feldforschung mit der Filmkamera zu ergänzen. In diesem Sinne nutzte auch Speiser die Kamera, um seine Expedition zu den Aparai filmisch festzuhalten.
Aber von was für einem Film sprechen wir überhaupt? Es handelt sich dabei um ein kurioses Objekt. Von seiner Existenz haben wir nur dank einer Anmerkung im Bulletin de la Société suisse des Américanistes von 1975 und einem kurzen Hinweis in einer Nummer der Ethnologica Helvetica von 1991, die dem ethnographischen Film gewidmet ist, Kenntnis.5 Die einzige – wenn auch wenig historische – Studie über das Genre, dem der Film angehört, führt ihn nicht einmal an.6 Auf die richtige Spur bringt uns eine andere Publikation: Wenn das Schweizer Lexikon (Luzern 1991) – unter der Federführung von Christian Kaufmann – der Sache Bedeutung beimißt, ist damit eine Neueinschätzung der Arbeit Speisers verbunden. Verglichen mit den Artikeln, die als Nachruf des 1949 verstorbenen Ethnologen erschienen, zeugt schon die Erwähnung seiner kurzen filmischen Tätigkeit in einem gezwungenermaßen knapp gehaltenen Abriß von einer neuen Wertschätzung.
Die Zeitgenossen scheinen das Urteil Speisers über seine Amazonas-Expedition geteilt zu haben: Bei allem Interesse, das sie dem Buch entgegenbrachten, begnügten sie sich mit verhaltenem Lob gegenüber dem Film.7 Ungeklärt ist jedoch, welche Ausschnitte sie daraus gesehen haben und bei welcher Gelegenheit sie vorgeführt wurden. Die 1924 gedrehten Bilder waren stumm. Die Version hingegen, die wir unter dem Titel Yopi. Chez les Indiens du Brésil kennen, ist mit einem Off-Kommentar und Begleitmusik vertont und dauert 78 Minuten. Sie wurde 1945 hergestellt und gezeigt, wie Georges Lobsiger im Bulletin des Américanistes vermerkt. Lobsiger, ein Genfer Staatsbeamter und leidenschaftlicher Amerikanist (1903-1988), scheint die Fertigstellung des Œuvres veranlaßt zu haben. Der Vorspann des Streifens – den wir im folgenden als Lobsiger-Version bezeichnen – schreibt jedenfalls ihm den französischen Kommentar zu. Im Artikel, den Lobsiger dreißig Jahre später verfaßte, liefert er ein paar interessante Informationen über diese Arbeit – die einzigen, über die wir zum jetzigen Zeitpunkt der Recherchen verfügen. Darin erwähnt er auch den Namen von Max Linder, dem der Vorspann den Schnitt zuweist und von dem wir wissen, daß er auch als Produzent fungierte.8
Die Filmfassung scheint vor allem auf Drängen der »Genfer« zustande gekommen zu sein, worunter vermutlich Persönlichkeiten, die dem Musée d'ethnographie in Genf nahestanden, gemeint sind. Speiser selbst hätte kein Interesse mehr am Film gehabt, meint Lobsiger. Die Aufführung »dieses wichtigen Films hätte das wachsende Fernweh zahlreicher Schweizer besänftigen sollen, die aufgrund der gänzlichen Umzingelung des Landes klaustrophobisch geworden waren. Um so mehr, da abendfüllende Spielfilme aus dem Ausland wegblieben.« Der Vermerk sollte den Stil des Kommentars rechtfertigen, der bewußt jeglichen allzu wissenschaftlichen Ton vermied. Hinter der »volkstümlichen« Rhetorik des Kommentators steht eine popularisierende Absicht, die auch die begleitende Originalmusik – komponiert von Alexander Krannhals –charakterisiert: seichte Klänge mit spanisch-maurischen Akzenten.
Ganz in der Tradition des »Kulturfilms« weist der Kommentar einen wichtigen Charakterzug auf: den Anti-Sensationalismus – hauptsächliche Tugend dokumentarischer Bilder. Yopi wird so eingeführt: »Den Alltag der Indianer erforschen, Objekte ihres ursprünglichen Handwerks sammeln, Zauberepisoden und die Anrufung von Geistern filmen, ausschließlich und objektiv, ohne aufregende Hinzufügungen, das wahrheitsgetreue Abbild ruhigen und zufriedenen Lebens nach Europa bringen: Dies war das Ziel der Schweizer Expedition zu den Aparai.« Die seltenen und nicht sehr gelungenen Tieraufnahmen werden etwas später von folgendem Kommentar begleitet: »Neben dem geflügelten Aasfresser [eben waren Bilder von einigen auf Ästen sitzenden Geiern zu sehen gewesen] gibt es den Mörder im Wasser: Die kaltblütigen Alligatoren wachsen in ruhigen Gewässern heran. Diese berüchtigten Kaimane spielen in den meisten Filmen über Urwaldexpeditionen eine wichtige Rolle — wenn nicht die wichtigste überhaupt. In diesem kommt ihnen nur eine Statistenrolle zu. Sie gehören zur Landschaft und sind keineswegs die Hauptdarsteller in schrecklichen und spektakulären Szenen.«
In seinem historischen Abriß legt Lobsiger Wert auf eine präzise Datierung der Aufnahmen Speisers, um deren Pioniercharakter zu unterstreichen. Er nennt das Aufführungsjahr des Films und verschweigt, daß es bereits frühere stumme Versionen gab. Ähnliche Präzisierungen läßt der Filmkommentar von 1945 vermissen: Er bettet die Expedition nicht mehr in seine historische Zeit ein.9 Die Auslassung ist nicht zufällig. Einerseits verrät sie den Charakter eines Mediums, das es tunlichst vermeidet, seine Bilder mit einer vergangenen Zeit in Verbindung zu bringen: zwanzig Jahre waren eine lange Zeit für einen Film. Die Tatsache allein, daß er bis dahin nicht vorgeführt worden war, machte aus ihm in den Augen des Publikums nicht zwingenderweise eine Neuheit. Andererseits wurde er im Sinne eines zeitlosen Bilderbogens über den primitiven Indianer gezeigt, den »Guten Wilden mit dem muskulösen Körper« gemäß einer Beschreibung von Paulmier de Gonneville (1505), die Lobsiger zitiert, um zu beschreiben, was die geladenen Zuschauer an der Vorführung von Yopi am 7. Dezember 1974 im Musée d'art et d'histoire zu sehen bekamen.
Lobsiger hüllt sich größtenteils in Stillschweigen, was die Anfertigung des Films betrifft: »Die Sorgfalt, die unser Landsmann allen Einzelheiten des Alltags und einigen religiösen Tänzen entgegenbrachte, machen aus dem Streifen ein wertvolles Zeugnis von Gegebenheiten, die so nicht mehr vorhanden sind. Aus diesem Grund wurden einige Episoden in ihrer vollen Länge beibehalten, obwohl der Zeitgeschmack kurze Sequenzen fordert.«10 Lobsigers Wertschätzung des Materials zwingt uns, zwischen den Zeilen zu lesen. Soll man daraus folgern, daß von den 1924 gemachten Aufnahmen gewisse entfernt oder verkürzt wurden, um die Version von 1945 herzustellen? Welches sind die Episoden, die in ihrer vollen Länge beibehalten wurden? Die detailliertesten, das heißt diejenigen, die den höchsten Anteil an Arbeitsschritten einer Tätigkeit zeigen, beschreiben das Bebauen der Felder, die Herstellung des Maniok, die Keramik. Gewisse andere Handlungen erscheinen so isoliert von einem sinnverleihenden Vorher oder Nachher, daß man sich fragt, ob diese nicht die Fragmente einer Reihe von analytischeren Einstellungen waren. Sicher kann man das eine oder andere Detail einer Handlung in Speisers Buch wiederfinden. Wie bereits erwähnt, finden sich dort aber keine Hinweise auf seine Dreharbeiten. Ein Vergleich bringt also kaum etwas, und wir sind bei unserer Analyse in höchstem Maße auf den Film selbst und Mutmaßungen angewiesen.
Zwischen Chronik und Schaufenster
Schnitt und Kommentar offenbaren sich als die wichtigsten Elemente, um den Eingriff Lobsigers zu charakterisieren – obwohl es sich auch hier um Hypothesen handelt, fehlen doch konkrete Hinweise. Beide versuchen sie, dem Material eine strukturelle Einheit zu geben, Das Ganze wird als eine Art Chronik erzählt, wobei die Beschreibung des Alltags der Aparai mit einer knappen Rahmenhandlung (zu Beginn Bilder von der Hinreise zum Dorf und am Schluß einige wenige Aufnahmen von der Rückreise) versehen wird. So gut es eben ging, wurden für die Hauptsequenz am Schneidetisch Parallelhandlungen konstruiert, deren fiktive Simultaneität durch ein »zur gleichen Zeit« des Kommentators postuliert wird.
Der Kommentar erfüllt aber noch ein paar andere wichtige Funktionen: Er benennt die Protagonisten und beschreibt ihre Wesensart: »der gelassene Roha«, »der unbesorgte Amaku«, »der fröhliche Korumé«,»der hochnäsige Mariki«. Er erklärt die Handlungen und interpretiert sie, meist indem er sie den Männern oder Frauen zuweist. Dies in einer extremen Vereinfachung der These Speisers, welche die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aus einem Gemisch anthropologischer Theorie und Allgemeinwissen herleitete. Schließlich führt der Kommentar unsere Aufmerksamkeit durch das gebotene Spektakel, indem er von einem Bilddetail zum anderen springt und diese quasi einer verbalen Großaufnahme unterzieht. Das Vorgehen ist um so augenscheinlicher, als die Aufnahmen praktisch konstant in der Totale oder Halbtotale bleiben. Die stufenweise Verschiebung auf der Achse, die den Blick aus der Totale auf ein Detail lenkt – eine der Schlüsseltechniken des frühen Dokumentarfilms –, wird nicht angewendet: als ob ein ständig im Raum kontextualisiertes Bild wichtiger gewesen wäre als ein analytisches.
Die einzigen drei Großaufnahmen in der Lobsiger-Version sind keine Großaufnahmen im eigentlichen Sinne: Im Vordergrund taucht etwas auf, was dann scharf gestellt wird. Zwei der drei Einstellungen verweisen auf eine Darstellungsart, bei der man sich fragen kann, ob das Vorgehen nicht System hat und sich an Ausstellungsprinzipien anlehnt, die im Museum angewandt werden. Dabei sieht man, wie eine Hand einen Gegenstand nahe der Kamera hält. Während man das Objekt scharf sieht, ist im Hintergrund – unscharf – die »Umgebung« zu erkennen, der das Objekt entstammt. Im einen Fall handelt es sich um einen Hobel aus Wildschweinknochen. Während die (europäische) Hand ihn zeigt, imitiert sie demonstrativ die damit verbundenen Bewegungen. Im Hintergrund sieht man einen Aparai, wie er einen Bogen anfertigt. In der zweiten Einstellung zeigt uns die Hand von nahe einen »Geflechtsstreifen, der bei medizinischer Behandlung verwandt wird« (Off-Kommentar), während ein Teil einer Hütte unscharf im Hintergrund zu sehen ist. In der dritten Einstellung schließlich taucht ein Aparai ganz nahe der Kamera auf und ahmt den Kameramann mit einer Bambuskamera beim Filmen nach.
Der Filmverlauf, der von der Präsentation des Dorfes und seiner Bewohner bis zur Aufführung des Maskentanzes geht, reproduziert schematisch den Aufbau von Speisers Monographie, die Alltag sowie Kult und Magie der Gruppe behandelt. Lobsiger entnimmt dem Buch einige der trotz allem erhaltenen – wenn auch oberflächlichen – Informationen und befriedigt so zumindest die elementarsten Ansprüche an einen Forschungs- und Reisefilm bezüglich Wissensvermittlung.
Vom Bestreben, Speisers Bilder zu strukturieren, zeugt nicht zuletzt der Filmtitel, Yopi. Chez les Indiens du Brésil. Im Zuschauer wird die (falsche) Erwartung erweckt, daß – analog zu Nanook in Flahertys weltberühmtem Film – ein Held oder wenigstens eine Hauptfigur durch das Land der Aparai führt. Nun ist Yopi zwar Stammeshäuptling und seine Autorität unbestritten, doch läßt sich sein Auftreten im Film kaum als Hauptrolle interpretieren. Im Kommentar wird er lediglich als »Häuptling« erwähnt, den man seiner zänkischen Frau wegen bemitleidet. Schließlich dankt man ihm, daß er im Film aufgetreten sei und eine Handlung filmen ließ, die Außenstehende sonst nicht zu sehen bekämen.11 Auch hier glauben wir die ursprüngliche Eigenständigkeit des Materials noch zu erkennen.
Ein filmischer Palimpsest
Was um 1945 aus den Originalaufnahmen gemacht wurde, zeigt sich materiell in Form von Kopien. Wenn wir nicht von einem idealen Film ausgehen, der in irgendeinem platonischen Himmel zu Hause ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit seinen einzigen konkreten Ausformungen auseinanderzusetzen. Dabei war uns das Schicksal günstig gestimmt: Die Kartei der Cinémathèque suisse begrub uns unter Filmrollen, fand sich doch unter dem Stichwort »Yopi. Chez les Indiens du Brésil« die außerordentliche Anzahl von 76 Filmdosen grob registriert. Aus dieser Masse kristallisierten sich verschiedene Einheiten heraus, die alle auf die Lobsiger-Version zurückgehen.
Zur Hauptsache handelt es sich dabei um drei komplette 35-mm-Streifen: ein Bild-Zwischennegativ und ein Ton-Negativ, eine französisch vertonte Positivkopie und eine Kopie mit deutschen Untertiteln. Hinzu kommt mehr oder minder disparates Material, von dem man hofft, während der laufenden Forschungsarbeiten wenigstens den Inhalt bestimmen zu können. Dank der finanziellen Unterstützung des Museums für Völkerkunde in Basel konnte die Cinémathèque den Film retten, indem sie 1994 von dem französischen Positiv ein negatives Bild-und-Ton-Duplikat ziehen ließ.12 Da dieser Prozeß wie üblich undokumentiert blieb, ist es unmöglich, über die Beweggründe für die Wahl zu urteilen. Welche Motive auch immer ausschlaggebend waren, gerade diese Kopie zu erhalten: Was gerettet wurde, ist ein Film, der um 1945 aus Aufnahmen entstand, die 1924 gedreht worden waren – eine Fassung, die das ursprüngliche Bildformat nicht respektiert, verwendet sie doch einen (wenn auch noch so geringen) Teil davon für die optische Tonspur. So paradox es erscheinen mag,daß eine entsprechende Maßnahme seitens eines Archivs ebensowenig Spuren über Konzept und Durchführung hinterläßt wie die Lancierung einer neuvertonten, längeren oder kolorierten Kopie, wird dies niemand verwundern, der mit der Praxis der Filmarchive vertraut ist.
Als wir bereits glaubten, die Bilder von Speiser nur mehr in der Form einer Kopie der dritten Generation erhalten zu können, bemerkten wir bei der Durchsicht der Filmbüchsen, daß zehn von ihnen 35-mm-Positivfilmmaterial enthielten, das unvertont und eingefärbt war, mit anderen Worten: Originalmaterial aus den zwanziger Jahren. Eine erste Auswertung ließ erkennen, daß es sich um rund hundert verschiedene Einstellungen (etwa 500 Meter Film) handelte. Teilweise waren ihnen handschriftliche Zettel beigelegt: Anmerkungen zu den abgebildeten Personen, Situationen oder Arten und – eher selten – eine Datierung. Anzunehmen ist, daß die (deutschen) Notizen aus der Hand Speisers stammen. Unter Vorbehalt einer gründlicheren Prüfung des Materials kann davon ausgegangen werden, daß eine beträchtliche Anzahl der Motive der Lobsiger-Version Yopi. Chez les Indiens du Brésil integral oder verstümmelt durch den Schnitt diesem Material entnommen sind.
Klassifiziert als outtakes, waren diese Abzüge – trotz ihrer unbestrittenen Wichtigkeit – nicht ausgewertet worden und schon gar nicht bei der »Errettung« der Lobsiger-Version in Betracht gezogen worden. Aber das wiederaufgetauchte Material zieht andere Fragen nach sich. Sollte sich bestätigen, daß Speiser selbst die Zettel geschrieben hat, wirft die Etikettierung die Frage nach ihrer Funktion auf: um das Material zu klassifizieren? Für mogliche Zwischentitel? Für einen Film, der zu seiner Zeit nicht zustande kam? Als mögliche Legenden für die Endlosprojektion spezifischer Segmente, wie sie auf Geräten zu didaktischen Zwecken praktiziert wurde, oder als rein »optische Dauerpräparate« ohne Vorführungsabsicht? Müssen diese »bouts« (»Stücke«) – wie Robert Bresson seine Aufnahmen nennt – als Teile, aus denen der Film montiert werden sollte, betrachtet werden oder als gefilmte Fragmente, die als solche ihren Sinn und Zweck erfüllten?
Offen bleiben auch so grundlegende Fragen wie die Bestimmung des ursprünglichen Status der Bilder. Spielten die kinematographischen Aufnahmen von Situationen des alltäglichen Lebens wirklich eine heuristische Rolle für eine wissenschaftliche Interpretation, oder blieben sie eine Art Erinnerungsfetisch? Auf welchen Teil der Museologie zielten sie ab? Handelte es sich bei der Umwandlung der mitgebrachten Bilder zu didaktischen Zwecken und ihrer Zirkulation als »Kulturfilm« um einen Mißbrauch oder um eine legitime Adaptation?13
In einem größeren Zusammenhang betrachtet: Inwiefern beinhaltete das Scheitern von Speisers Amazonas-Expedition, dieser ein paar Monate dauernde Seitensprung in einer Karriere, die ansonsten Melanesien gewidmet war, auch das Scheitern seines Filmprojekts? Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir in den Quellen noch keine Antwort darauf finden können. Vielleicht findet sich etwas darüber im reichen Briefwechsel des Ethnologen – sollte dieser erhalten geblieben sein. Eine sorgfältige Analyse des noch zu ordnenden Materials und eine sogenannte Arbeitskopie im stummen Bildformat könnten noch weitere Präzisierungen, wenn nicht Entdeckungen an den Tag bringen.
Was das Filmen betrifft, zögerte Speiser jedenfalls nicht, sich desselben Mediums ein paar Jahre später wieder für seine Forschungen zu bedienen. Anläßlich einer zweiten Expedition, die ihn in den Pazifik führte, realisierte er im November 1930 einen weiteren, unter Ethnologen bekannteren Film. Eine Version, die aus dem eigentlichen ethnographischen Teil besteht, bewahrt das New Yorker Metropolitan Museum of Art (Robert Goldwater Film Library) auf. Eine Version aus dem Jahr 1963 findet sich in der Kinematographischen Enzyklopädie des Instituts für den wissenschaftlichen Film in Göttingen. Die Überlieferung stellt hier dieselben Probleme wie diejenige von Yopi: Das vom Basler Museum für Völkerkunde 1966 in der Schweizer Cinémathèque deponierte Material entspricht einer apokryphen Version, deren Montage wieder auf Max Linder zurückgeht – wahrscheinlich ein paar Jahre nach Yopi, und diesmal mit einem Kommentar des Genfer Anthropologen Marc-Rodolphe Sauter (1914-1983). Von dieser Version mit dem Titel Mystères du Pacifique wurde 1994 eine neue Kopie gezogen.14 Trotz der vielen Ungewißheiten, die mit seinen kinematographischen Arbeiten noch verbunden sind, kann Speiser als Pionier des schweizerischen ethnographischen Films betrachtet werden.
Die erhaltenen Bilder von Yopi haben keinen homogenen und eindeutigen Status. Je nach Funktion, die ihnen zugeschrieben wird, kann ihr Sinn ändern. Der Überlegung haftet nichts Abstraktes an. Im Gegenteil: Sie bestimmt in unserem Fall die Art und Weise, in der die aufgefundenen Originalfragmente konserviert werden. Vorausgesetzt daß man sich ihres Schicksals überhaupt annehmen will, wäre es eine Anmaßung, den ursprünglichen Zustand eines Films wiederherzustellen, der als solcher vielleicht gar nie existiert hat. Wenn wir aus heutiger Sicht den filmenden Ethnologen kritisieren, weil er uns nicht zeigt, daß die Aparai zu jenem Zeitpunkt nicht mehr wußten, wie man Feuer auf traditionelle Weise entzündet (beziehungsweise daß auch sie bereits Streichhölzer verwendeten), so beinhaltet die Kritik für uns die Verpflichtung, eine mögliche Restauration zu konzipieren, die – wie, bleibt noch offen – die Unmöglichkeit der Restauration darlegt.
Diese Haltung ist die einzig akzeptable, widersetzt sie sich doch dem Mythos des Originals ebenso wie der Mystifikation der Transparenz, der dem filmischen Bild anhaftet. Gezeigt wird dabei klar, daß Restaurieren Interpretieren bedeutet – hier und jetzt. Diese und keine andere Haltung läßt sich im Fall Yopi. Chez les Indiens du Brésil einnehmen. Der Film, den wir sehen, ist zwar nicht der Film, von dem wir Kenntnis haben. Doch ist der Film, von dem wir Kenntnis haben, für uns auf immer ungreifbar.
Übersetzung Doris Senn