CAROLA FISCHER

DER BERG (MARKUS IMHOOF)

SELECTION CINEMA

Das Originaldrehbuch schrieb das Leben selbst. Am 21. Februar 1922 erschoß der Österreicher Gregor Kreuzpointner auf dem Säntis den Schweizer Wetterwart Haas und dessen Ehefrau Lena. Kreuzpointner, der sich selbst um den Posten als Wetterwart beworben hatte, beging kurz darauf Selbstmord. Für den Mord auf dem während des Winters unzugänglichen Berggipfel gibt es keine Zeugen.

Das Drehbuch für den Film, der eine mögliche Version über die Hintergründe und den Verlauf des blutigen Bergdramas liefert, schrieben Regisseur Imhoof und der Schriftsteller Thomas Hürlimann gemeinsam. Ihre Geschichte beginnt mit der Wahl von Haas, der im Film Manser heißt, zum neuen Wetterwart. Da sein Vorgänger in der Einsamkeit verrückt geworden ist, gibt man einem Verheirateten den Vorzug. Da kommt dem Manser die erst unerwünschte Schwangerschaft der Kellnerin Lena zupaß. Schnell wird die Trauung vollzogen. „Frauen haben oberhalb der Baumgrenze nichts zu suchen“, befindet sein abgeschlagener Konkurrent, auch im Film Kreuzpointner genannt. Trotz heftigen Schneefalls bricht er zu der Wetterstation auf, um seinen Anspruch auf den Posten geltend zu machen. Angstvoll - durchaus Böses ahnend - beobachten Manser und Lena sein Herannahen. Seit sie sich nach dem beschwerlichen und gefährlichen Aufstieg (noch im Hochzeitsstaat) in der kargen Hütte installiert haben, sind sie geheimnisvollen Gemütsschwankungen unterworfern, auf die man sich nicht recht einen Reim machen kann. Eben noch trägt Manser, ganz fürsorglicher Ehemann, die angstvolle Gattin auf seinen breiten Schultern über den gefährlichen Berggrat, um kurz darauf als bärbeißiger Patriarch seiner kindlichen Frau die Bohnen für den Morgenkaffee abzuzählen. Mit der Ankunft Kreuzpointners gerät das emotionale Gleichgewicht des seltsamen Paares endgültig aus den Fugen. Mordanschläge, Eifersuchtsszenen, bizarre Verbrüderungsrituale wechseln einander ab. Der hervorragenden Schauspieler, Matthias Gnädinger (Manser), Irene Lothar (Lena) und Peter Simonischek (Kreuzpointner) geben ihr Bestes, aber auch sie sind nicht imstande, die „Botschaft“ des unentschlossenen Drehbuchs an den Zuschauer zu bringen, der weiterhin über die Gefühle, die die Protagonisten zum Handeln treiben, im dunkeln tappt. Ob es den Autoren um Liebe und Eifersucht zu tun ist, oder ob die Knappheit der Vorräte die Insassen der Berghütte zu Kannibalismus neigenden Feinden macht, bleibt offen. Der Film zerfällt in einzelne Szenen. Eine überzeugende dramaturgische Struktur, die auf den dramatischen Höhepunkt, die Ermordung Kreuzpointners (!) hinführt, fehlt. Selbst die schönen Bilder, die Kameramann Lukas Strebel von der düsteren Bergwelt und der klaustrophoben Enge der Berghütte liefert, machen aus dieser sperrigen und bühnenhaften Inszenierung nicht das große Kino der Gefühle, das der Regisseur so offensichtlich anstrebt. Der Film erzeugt zu keinem Zeitpunkt Spannung und Anteilnahme. Da uns trotz all dem Urgestein ein Blick in die Seelenlandschaft der Figuren verwehrt ist, bleibt einem nicht viel mehr übrig, als deren irres Tun mit der dünnen Bergluft in Verbindung zu bringen. Gänzlich offen bleibt die Frage, warum diese Version, die Opfer zu Tätern macht.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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