NIKLAUS OBERHOLZER

DANI, MICHI, RENATO UND MAX (RICHARD DINDO)

SELECTION CINEMA

Im Zusammenhang mit den achtziger Unruhen in der Stadt Zürich kamen vier junge Menschen ums Leben: Dani und Michi, in der „Bewegung“ engagierte Siebzehnjährige, verunglückten mit dem Motorrad auf der Birmensdorfer Strasse, nachdem sie, von einem Streifenwagen gejagt, in übersetztem Tempo stadtauswärts rasten und vom Polizeifahrzeug abgedrängt wurden. Der knapp über 20 Jahre alte drogenabhängige Renato, für den das AJZ ein letzter Zufluchtsort war, entwendete in Oetwil ein Personenauto, fuhr damit in die Stadt, wurde von der Polizei verfolgt, die das Fahrzeug mit Schüssen aufzuhalten suchte; Renato wurde dabei schwer verletzt. Die Freundin Renatos erstach den schwer Geschädigten im Krankenhaus. Den rund 27jährigen Max, aktiven „Bewegten“, knüppelte am Rand einer Demonstration ein unbekannter Polizist grundlos nieder. Max trug einen bleibenden Schaden davon und erlitt in der Folge in Barcelona eine Hirnblutung, an deren Folgen er starb.

Dindos neuer Dokumentarfilm widmet sich diesen vier jungen Menschen und ihrem Sterben. Der Autor rollt damit ein Stück jüngster Geschichte der Stadt Zürich wiederauf, das sehr viele bereits verdrängt haben, das aber das Gesicht der Stadt nachhaltig und wesentlich verändert hat. Die ausführliche Recherchierarbeit über diese vier Fälle, die Berichte über das Verhalten der Polizei, über das Vorgehen und die Entscheide der Justiz, schliesslich auch das geraffte Zusammenfassen der Ereignisse um das Autonome Jugendzentrum — all das bringt wohl keine neuen Informationen, konfrontiert jedoch heutige Zuschauer mit dem damaligen Geschehen. Dindo berichtet dies alles eindrücklich, wenn auch mitunter etwas langatmig. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Dindo offenbar den Vorwurf der Einseitigkeit und der Polemik entkräften will, bevor er erhoben werden kann. Tatsächlich lässt er manche Fragen offen, referiert er über diese und jene Faktendarstellung, auch wenn seine Meinung über die Gerichtsurteile gegen die Polizei klar zum Ausdruck kommt.

Eindrücklicher jedoch als diese Faktenaufarbeitung ist, wie Richard Dindo die Persönlichkeiten der vier Verstorbenen und ihr gesellschaftliches und familiäres Umfeld rückblickend darstellt. Neben Dokumentaraufnahmen aus der Krawallzeit arbeitet er vor allem mit Statements von Betroffenen, von Eltern, Freunden, Kollegen und Bekannten. Die Art und Weise, wie Dindo mit Feingefühl die Konstitution dieser Menschen und ihre ausgeprägte Sensibilität im Film zum Ausdruck bringt, erinnert in manchen Fällen an die besten Zeiten des Schweizer Dokumentarfilms. Dindo versteht es, die Eltern der Toten vor der Kamera zum Sprechen zu bringen. (Einige Versuche, damaliges Verhalten nachzuspielen, sind wohl als Bereicherung der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten gemeint, wirken aber im Vergleich zur freien, die ganze Emotionalität der Betroffenen sichtbar machenden Rede eher plump.) Und es gelingt Dindo auch, durch die Erzählung der Freundin von Max die damalige Zeit auf eindrückliche Weise lebendig werden zu lassen. In zurückhaltenden, glaubhaften Bildern schliesslich vergegenwärtigt er Max’ Sterben in Barcelona. Ein gewisses Ungleichgewicht in der Schilderung der vier Verstorbenen ist im Film allerdings nicht zu übersehen: Max war zweifellos die spannungsreichste, auch die schillerndste Persönlichkeit, und Dindo wendet sich denn auch ihm mit besonderer emotionaler Regung zu.

Dani, Michi, Renato und Max zeigt in geschickt eingesetzten Bildern und Statements die zunehmende Verhärtung im Klima der Auseinandersetzung. Der Film ist eine späte, jedoch ernsthafte und sowohl pointierte wie auch ehrliche Aufarbeitung des damaligen tragischen Geschehens. Und der Blick auf die Betroffenen macht deutlich: Die heutige ruhige und wohlanständige Fassade täuscht über manches hinweg; die Spuren der Trauer jedenfalls sind geblieben.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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