„Hier und anderswo“ — der Titel des vorliegenden Jahrbuchs greift denjenigen eines Beitrags in CINEMA 1986 auf. Mark Hunyadi und Jean Perret führten dort Gespräche mit einigen Schweizer Filmemachern, die 1984, anlässlich des Tages des Schweizer Films, die Dringlichkeit einer Diskussion über den Begriff des „Territoriums“ — so denn auch der Titel des letztjährigen Jahrbuchs — betonten. Dieser Rückgriff hat mehrere Gründe, die das Konzept von CINEMA wesentlich bestimmen: Die Publikationsfolge weist eine thematische Kontinuität auf und versucht damit, einen Diskurs über den (Schweizer) Film mitzustiften und am Leben zu erhalten. Im Zentrum dieser reflexiven Auseinandersetzung steht der soziale, historische, kultur- und gesellschaftspolitische Kontext der Filmarbeit und der einzelnen Filme. In diesem Sinn kommt in CINEMA alljährlich ein Thema zur Sprache, das mit einer durch die Spielpläne der Kinos und die Medien mitgeschaffenen Aktualität und den vordergründigen Moden wenig zu tun hat und das trotzdem — oder gerade deshalb — ein tiefergreifendes Nachdenken über das gegenwärtige Filmschaffen anvisiert. So ist denn die Beziehung zwischen den Industriestaaten und der sogenannten Dritten Welt, die sich auch in der Filmarbeit — in bestimmten Filmen, in der Produktion, der Verbreitung und Rezeption — manifestiert, 1987 nicht aus der Luft gegriffen: Lisa Faessler, Gabrielle Baur, Kristina Konrad, Marlies Graf, Steff Gruber, Mark M. Rissi, Walter Saxer, Peter von Gunten, Clemens Klopfenstein, Mathias Knauer, Eduard Winiger, Karl Saurer, Stephan Kaspar, Remo Legnazzi, Walter Marti sind nur einige Namen von Schweizer Filmschaffenden, die zum Teil seit Jahren, zum Teil erst in jüngster Zeit sich mit Fragen der Kulturen und Lebensweisen in der Dritten Welt in ihren Filmen vor Ort auseinandersetzen. Zahlreiche Projekte dieser Art sind zudem in Vorbereitung. „Hier und anderswo“: in der Diskussion geht es jedoch nicht nur um die Schweizer Filmschaffenden, die in die Dritte Welt ausströmen, sondern auch um die Filmemacher der Dritten Welt, um Fragen der Vermittlung ihrer Werke sowie um die Dritte Welt im eigenen Land. Die Beschäftigung mit der Dritten Welt im Schweizer Film weist eine Geschichte und eine neue Aktualität auf. Letztere hat ihre Ursachen u.a. in der wachsenden Bedeutung einiger Länder und Kontinente der sogenannten Peripherie in der Weltpolitik, in der zunehmenden Präsenz der Dritten Welt in unserem Bewusstsein durch den Tourismus, die totale Medieninformation, die unzähligen Kriege in Mittel- und Südamerika, Afrika und Asien und die Asylantenfrage, in der wachsenden und sämtliche Lebensbereiche berührenden Krisenanfälligkeit der Industriegesellschaften und damit in der mit unterschiedlichen Intentionen beschworenen und aus verschiedenen Erfahrungen genährten Kulturkrise, die die Industrie-nationen wie ein Virus zu befallen scheint. Auf diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, ob und auf welche Weise der filmische Umgang mit der Dritten Welt Ausdruck einer engagierten Informationsvermittlung und eines politischen Engagements oder eines postmodernen Katzenjammers und einer Kompensation mangelnder eigener kultureller Vitalität ist. Beide Aspekte filmischer Praxis müssen zudem befragt werden auf ihren Bezug zum Traditionszusammenhang (kultur-) imperialistischer Strategien und eurozentrischer Allmachtsphantasien sowie auf ihre durch ihren Kontext mitbestimmte Funktion und die entsprechenden ideologischen Intentionen, die ihr zugrunde liegen: Die „laufenden Bilder“ verändern sich, je nachdem, ob sie im Auftrag caritativer Organisationen, der Kirche, der Fernsehanstalten, als wissenschaftliche — ethnologische — Recherchen oder aus Eigeninitiative der Autorinnen und Autoren entstehen. „Hier und anderswo“: die Diskussion über das aktuelle Schaffen der Filmemacher aus den Industrieländern in der Dritten Welt macht deutlich, dass der Versuch einer Neu- und Umorientierung stattfindet. An Stelle des politisch verstandenen Aktionismus der späten sechziger und frühen siebziger Jahre treten das Bemühen um eine kritische, offene Wahrnehmung, die Reflexion der Möglichkeiten kultureller Beziehungen zwischen den Zentren und der Peripherie, der Versuch die Kulturen der Dritten Welt vorerst kennenzulernen und damit die eigene Tätigkeit grundsätzlich in Frage zu stellen. Das bedeutet auch, dass innerhalb der allgemeinen Problematik kultureller Beziehungen das Spezifische filmischer Arbeit ins Zentrum rückt. In der bildenden Kunst, Literatur und Fotografie war die Begegnung mit der Dritten Welt lange vor der ersten Stunde des Films ein Thema. Der Film als eines der „supertechnischsten und expansivsten Medien“ (Peter von Gunten) erfordert auch im vorliegenden thematischen Kontext Fragestellungen, die den allgemeinen ideellen und ideologischen Zusammenhang in bezug setzen zu den medienspezifischen Qualitäten, der Produktion und Distribution, der Handhabung der Apparate und Technik und nicht zuletzt der darin mitbegründeten Ästhetik. Die hier veröffentlichten Aufsätze, Interviews und Gespräche können die Komplexität des Themas nur andeuten. Vieles müsste weitergedacht, vertieft und ergänzt werden; so etwa das Verhältnis — auch im historischen Zusammenhang — zwischen der Dokumentar- und Reportagefotografie und dem Dokumentarfilm, die Problematik des Drittwelt-Spielfilms (vgl. Mark M. Rissi / Zmarai Kasi, Ghame Afghan, CINEMA 1986, Index, S. 150 ff.), die Drittwelt-Bilder des Fernsehens, die politische Szene der Dritten Welt als „Stoff“ — beispielhaft — amerikanischer Grossproduktionen und die Asylantenfrage im Schweizer Film. Die Offenheit des Konzepts der diesjährigen Nummer wiederspiegelt das sich ansatzweise manifestierende neue Bewusstsein zahlreicher Filmschaffender der Dritten Welt gegenüber: „Hier und anderswo“ — die ideelle, politische und kulturelle Ortsbestimmung kann nur als ein sich an konkreten Begegnungen orientierendes Suchen und Erfahren verstanden werden. Insofern müsste man zu allererst den Begriff der „Dritten Welt“ überdenken, denn, wie Marlies Graf und Beatrice Leuthold feststellen, „die Namensgebung sagt alles“. Jörg Huber
CINEMA #33
HIER UND ANDERSWO
EDITORIAL
ESSAY
SELECTION CINEMA
MY MOTHER IS IN SRI LANKA (REMO LEGNAZZI, JÜRG NEUENSCHWANDER)
PORTRAITS – 10 ARTISTES SUISSES AUJOURD’HUI (LUCIANO RIGOLINI)
ASYL, DIE SCHWEIZ – DAS NADELÖHR (HANS STÜRM UND ZAHLREICHE IN DER ASYLFRAGE ENGAGIERTE)
VERHÄNGT — INEINANDER — DIE GLIEDER — DIE BLEICHEN (RAINER TRINKLER)
ZELJA HEISST WUNSCH, ZIVOT IST DAS LEBEN (OTTO WYMANN, SNEZANA HERCEG)